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Verteidigung der Freiheit gegen Denkverbote

Das Spektrum zeitgenössischer Krisen ist groß: Angesichts des Aufschwungs populistischer Parteien droht eine Krise der parlamentarischen Demokratie, die Klimakrise erzeugt apokalyptische Ängste, Künstliche Intelligenz stellt die menschliche Kreativität in Frage, und die Cancel Culture bedroht die Freiheit des Denkens und Sprechens. Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann geht all diesen Krisenphänomenen in seinem neuen Buch nach und fragt, wie man auf die diversen Herausforderungen unseres freiheitlichen Gemeinwesens reagieren kann. So empfiehlt er angesichts des Legitimationsverlustes demokratisch gewählter Parlamente durch rechtsextreme Parteien und außerparlamentarische Bewegungen, aber auch durch die zunehmende Zersplitterung der Öffentlichkeit durch soziale Medien – Stichwort Blasenbildung – ein Mehr an direkter Demokratie. Nach dem Modell von Schöffengerichten sollten mehr Bürger an Entscheidungen des Gemeinwesens beteiligt werden, auch ein Losverfahren könnte Menschen zur politischen Teilhabe verhelfen, die im parlamentarischen System nicht repräsentiert werden.   MIT KANT GEGEN SELBSTVERSCHULDETE UNMÜNDIGKEIT  Liessmanns philosophisches Grundmotiv geht dabei auf den Aufklärer Immanuel Kant [https://www.swr.de/kultur/literatur/joerg-huelsman-kant-vom-aufbruch-der-gedanken-100.html] zurück, der Unmündigkeit als selbstverschuldet ansah und eine liberale Kultur auf den Eigensinn selbstständigen Denkens gründen wollte. Vehement streitet Liessmann gegen alle Versuche, die gesellschaftliche Kommunikation durch Moralismus, Denk- und Redeverbote einzuschränken. Konformismus aus politischer Korrektheit bedrohe, wie er grimmig-polemisch formuliert, die Grundlagen freiheitlicher Gemeinwesen.   > Schmutzige Gedanken und Worte werden geächtet, unliebsame Autoren und Wissenschaftler gemobbt, Redner werden am Sprechen gehindert, Denkmäler wie das von Christoph Kolumbus in Chicago gestürzt, die Spielpläne von Theater- und Opernhäusern von vermeintlich rassistischen und sexistischen Stücken befreit, die Literatur vergangener Tage wird nach den moralischen Maßstäben der Gegenwart korrigiert und umgeschrieben. > > > Quelle: Konrad Paul Liessmann – Was nun? Eine Philosophie der Krise GEGEN CANCEL CULTURE ALS BEVORMUDNUNG  Cancel Culture gilt Liessmann als Bevormundung und Zensur, die die Autonomie von Wissenschaft und Kunst untergräbt und damit den Universalismus der Aufklärung. Eine prohibitive Gesellschaft werde leicht zur illiberalen. Auch irrtümliche Behauptungen, unsinnige und sogar extremistische Äußerungen müssten toleriert werden, allerdings mit der Einschränkung, dass deren Vertreter nicht zur Gewalt aufrufen, um ihre Positionen durchzusetzen.   > Darf man der Auffassung sein, dass ethnisch homogene Gesellschaften besser funktionieren als multikulturelle und dies in der Öffentlichkeit äußern? Selbstverständlich! Darf man dafür demonstrieren? Jederzeit! Darf man eine Organisation gründen, die mit Gewalt diese Ansicht durchsetzen will? Nein!  > > > Quelle: Konrad Paul Liessmann – Was nun? Eine Philosophie der Krise KRITISCHES DENKEN STATT REINER GESINNUNG  Liessmann plädiert in alteuropäisch-aufgeklärter Tradition für radikale individuelle Freiheit, die heute auch gegen neue Überwachungstechnologien verteidigt werden müsse: Gesichtserkennung kann zu Gesichtsverlust führen. Und durch Künstliche Intelligenz droht eine „Antiquiertheit des Menschen“, wie Liessmann in Bezugnahme auf den Philosophen Günter Anders schreibt. Die Unterwerfung unter die digitale Maschinerie berge die Gefahr einer neuen Unmündigkeit: „Was nun?“ – Angesichts der vielfältigen Krisen und Bedrohungen der Gegenwart empfiehlt Liessmann: Mehr Skepsis gegen herrschende Ideologien, trotzigen Eigensinn gegen autoritäre Bevormundungen, kritisches Denken statt reiner Gesinnung, Humor statt Moralismus. Wer sich einem illiberalen Zeitgeist entgegenstellen will, findet in Konrad Paul Liessmann einen engagierten und klugen Verbündeten.

09. dec. 2025 - 4 min
episode Hanif Kureishi ‒ Als meine Welt zerbrach artwork

Hanif Kureishi ‒ Als meine Welt zerbrach

Der zweite Weihnachtsfeiertag 2022 markiert einen tiefen Einschnitt im Leben von Hanif Kureishi: Gemeinsam mit seiner Frau verbringt er die Weihnachtstage in Rom. Nach einem Spaziergang durch die Gärten der Villa Borghese wird ihm schwindelig. Kureishi stürzt und wird in ein Krankenhaus gebracht. Dort sagen ihm die Ärzte, dass einige seiner Wirbel durch den Sturz eine Art Schleuder-Trauma erlitten haben. Kureishi ist größtenteils gelähmt. Er hat zwar etwas Gefühl in seinen Armen und Beinen, bewegen kann er sie aber nur sehr eingeschränkt. Schon im Krankenhaus beginnt er, seiner Familie kleine Zustandsberichte zu diktieren. Das Erzählen, das sein Leben bislang bestimmt hat, gibt ihm auch in dieser Situation Halt:  > Die Literatur als Kunstform ist, was ihr zur Ehre gereicht, ein schmutziger Bastard. Vom Vulgärsten und Skurrilsten bis zum Erhabensten und Poetischsten – alles kann man in ein Buch packen, formen und zu etwas Unvergesslichen machen. Ein Insekt, einen Helden, ein Gespenst oder Frankensteins Monster. […] Jeden Tag öffne ich beim Diktieren dieser Gedanken das, was von meinem zerstörten Körper übrig ist, um dem Chaos, in dem ich versinke, eine Form zu geben; um zu verhindern, dass ich innerlich sterbe.  > > > Quelle: Hanif Kureishi ‒ Als meine Welt zerbrach SPANNUNGSBOGEN VOM VULGÄREN BIS ZUM ERHABENEN  Auch Kureishis Berichte spannen den Bogen vom Vulgären bis zum Erhabenen: Er informiert ausführlich über seinen Stuhlgang und Urin. Darüber hinaus erzählt er von neu geschlossenen Freundschaften und Momenten, in denen er mit Pflegern aneinandergerät. Mit trockenem Humor bemerkt Hanif Kureishi: Er würde niemanden zu einem Unfall wie seinem raten. In seinen Einträgen hält er aber auch auf bewegende Weise fest, wie sich der Blick auf die Welt verändert, wenn sich diese auf die Zimmer eines Krankenhauses beschränkt:   > Als ich heute Nachmittag im Fitnessraum sah, wie all die anderen Patienten mit ihren lädierten und deformierten Körpern von Physiotherapeuten behandelt und gestreichelt wurden, veränderte sich etwas in mir. Wenn man nur die Nachrichten und Fernsehen schaut, dachte ich, gewinnt man den Eindruck, die Welt sei hart, bewohnt von geldgierigen und narzisstischen Verbrechern. Sieht man aber die gemeinschaftliche Arbeit im Fitnessraum, erscheint sie einem als Ort der Schönheit, der gegenseitigen Unterstützung und des Respekts voreinander.   > > > Quelle: Hanif Kureishi ‒ Als meine Welt zerbrach Im Original lautet der Titel des Buches Shattered, also Zerbrochen, und er ist Programm. Hanif Kureishi sortiert beim Erzählen das Leben, das in Scherben vor ihm liegt. Wiederholt kehrt er zu seiner Kindheit in den 1960er-Jahren zurück, zu seinen Erfolgen als Drehbuchautor und dem endgültigen Entschluss, Schriftsteller zu werden.   VOM DREHBUCHAUTOR ZUM ERFOLGSSCHRIFTSTELLER MIT DER BUDDHA AUS DER VORSTADT  Eine gewichtige Rolle spielten dabei der Erfolg von Salman Rushdies [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2024-06-02-102.html] preisgekrönten Roman „Mitternachtskinder“ und die Erkenntnis, dass noch niemand einen Roman aus Sicht der zahlreichen Einwanderer geschrieben hatte, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien kamen. Die Geschichten, wie sie in Kureishis Debütroman „Der Buddha aus der Vorstadt“ vorkommen, sind dem Leben abgelauscht, berichtet er:  > Da in den 1960er-Jahren viele Pakistaner nach Großbritannien kamen, […] bekam ich damals viele faszinierende Geschichten über den multiethnischen Wandel Großbritanniens zu hören. Geschichten über Rassismus und Not, aber auch über arrangierte Ehen, indische Restaurants, kleine Läden an der Ecke, Fabrikarbeiter, Familien, die anfingen, Immobilien zu kaufen, und über die neuen Communitys, die damals rund um den damaligen London Airport, heute Heathrow, entstanden. > > > Quelle: Hanif Kureishi ‒ Als meine Welt zerbrach BERÜHRENDES BUCH ÜBER DIE WIDERSTANDSKRAFT DES ERZÄHLENS  Kureishi schreibt, dass er als Autor stets hofft, seine Geschichten mögen jemanden berühren. Indem er offen, schonungslos und mal mit sanftem, mal mit derbem Humor von seinem Schicksal berichtet, gelingt ihm mit „Als meine Welt zerbrach“ genau das. Das Buch ist ein bewegendes Zeugnis davon, welche Widerstandskraft sich aus dem Erzählen schöpfen lässt.

I går - 4 min
episode SWR Bestenliste Dezember bei den Stuttgarter Buchwochen im Haus der Wirtschaft artwork

SWR Bestenliste Dezember bei den Stuttgarter Buchwochen im Haus der Wirtschaft

Eine Feier der Übersetzungen, aber Kritik am Lektorat – Shirin Sojitrawalla, Helmut Böttiger und Klaus Nüchtern diskutieren auf den Stuttgarter Buchwochen [https://www.swr.de/kultur/literatur/75-jahre-stuttgarter-buchwochen-100.html] vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichnete Werke: Peter Schneiders Roman „Die Frau an der Bushaltestelle“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-05a-102.html], Sabrina Orah Marks eigenwilliges Memoir „Happily“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-03-102.html] in der kongenialen Übersetzung von Esther Kinsky und Hanif Kureishis sehr persönliches Krankentagebuch „Als meine Welt zerbrach“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-02-102.html] in der deutschen Fassung von Cornelius Reiber. Hinzu kommt die Wiederentdeckung eines skandalösen Klassikers: Sidonie-Gabrielle Colettes „Chéri“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/sidonie-gabrielle-colette-cheri-100.html], angemessen modern übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky und mit einem Nachwort von Dana Grigorcea. Schon beim ersten Roman des Abends ist sich die Jury uneins: Helmut Böttiger (Literaturkritiker u.a. für den „Deutschlandfunk“) und Shirin Sojitrawalla (Literaturkritikerin u.a. für die „taz“) lobten insbesondere die deutsch-deutschen Szenen in „Die Frau an der Bushaltestelle“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-05a-102.html] (Platz 5 der Dezember-Bestenliste). Dahingegen hält Klaus Nüchtern (Literaturkritiker für den „Falter“ aus Wien) den Text sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht für misslungen. Insbesondere die vielen historischen Fehler stoßen ihm übel auf. „Wo war denn hier das Lektorat?“, beschwert er sich. Durchweg positiv besprochen wird Sabrina Orah Marks Familienaufstellung mit Märchen, was zum einen an ihrem kunstfertigen Umgang mit Märchen in „Happily“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-03-102.html] (Platz 3) und laut der Jury nicht zuletzt an Übersetzerin Esther Kinsky liegt. Bei Hanif Kureishis Versuch, in „Als meine Welt zerbrach“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-02-102.html] (Platz 2) die fatalen Folgen eines schweren Unfalls sprachlich zu fixieren, wird die humoristische Tonlage des nunmehr gelähmten Schriftstellers und Drehbuchautors gelobt. Eine Wiederentdeckung zum Schluss: Colettes 1920 erstmals veröffentlichter Roman „Chéri“ [https://www.swr.de/kultur/literatur/bestenliste-2025-12-01-102.html](Platz 1), der die damals skandalöse Geschichte einer alternden Kurtisane mit ihrem deutlich jüngeren Liebhaber erzählt, begeistert die Jury durchweg. Die höflich-galligen Dialoge der Figuren, eine turbulente Anti-Ehe-Liebesgeschichte, aber auch der Einblick in die nahezu aristokratische Halbwelt machen die Lektüre lohnend. Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führt Carsten Otte.

07. dec. 2025 - 1 h 9 min
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Hanif Kureishi: Als meine Welt zerbrach | Lesung und Diskussion

An Weihnachten 2022 verliert Hanif Kureishi das Bewusstsein, stürzt und wacht im Krankenhaus wieder auf, vom Hals abwärts gelähmt. Sein Leben danach beschreibt er mit Gnadenlosigkeit, aber auch erstaunlichem Witz.

07. dec. 2025 - 15 min
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Peter Schneider: Die Frau an der Bushaltestelle | Lesung und Diskussion

Im April ist Peter Schneider 85 Jahre alt geworden. Er gilt als eine der intellektuellen Symbolfiguren der 1968er-Bewegung. In seinem neuen Buch kehrt er noch einmal zurück in die wilden, politisch aufgepeitschten 1960er.

07. dec. 2025 - 18 min
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