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Es wird gebraucht, als sei harmlos, was dahinter steckt. Ja, es wird gebraucht, als sei damit politischer Fortschritt verbunden. Der ehemalige und neue Bundesverteidigungsminister Pistorius feierte den scheidenden Bundeskanzler als Erfinder dieses Wortes [https://www.bmvg.de/de/aktuelles/zapfenstreich-fuer-olaf-scholz-5937262]. Tatsächlich beinhaltet dieses Wort die Neigung, ja, die Flucht zu Militär als Lösung der Probleme unter den Völkern. Es steht für den Willen zur Aufrüstung und Kriegstauglichkeit. Es sagt wenig indirekt auch, es sei unsinnig, nach friedlichen Lösungen von Spannungen zu suchen. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die alten, von Parteifreunden des Boris Pistorius eingeführten friedenspolitischen Konzepte gelten nicht mehr: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Wer sagt denn sowas noch?! Das war vielleicht im Oktober 1969 brauchbar und hat uns lange Zeit der Entspannung zwischen Ost und West gebracht. Aber wer will denn sowas noch?! Oder: „Wandel durch Annäherung“. Wer will denn sowas noch? Das war vielleicht im Sommer 1963 brauchbar, als der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt und sein Kompagnon Egon Bahr diese Hoffnung bei der Evangelischen Akademie in Tutzing in die öffentliche Debatte einführten. Aber heute? Wir wollen doch die Rüstungswirtschaft nicht in Turbulenzen treiben! Nicht noch einmal! Pistorius weiß, welche Probleme die Friedenspolitiker der deutschen Rüstungswirtschaft geschaffen haben. Sie konnten keine Panzer und keine Flugzeuge mehr planen. Sie waren nahezu kaltgestellt. Das soll nicht noch mal passieren. Die Erfindung des Wortes „Zeitenwende“ ist der große Coup, um diese neuerliche Drangsal der Rüstungswirtschaft zu vermeiden. Das Wort Zeitenwende verbaut uns den Weg in eine friedliche Zukunft! Titelbild: Screenshot Bundesministerium der Verteidigung [https://www.bmvg.de/de/aktuelles/zapfenstreich-fuer-olaf-scholz-5937262]

„Wir gaben der Ukraine genug Waffen, um zu bluten, nicht um zu gewinnen“ [https://www.thetimes.com/us/news-today/article/ex-cia-chief-we-gave-ukraine-enough-weapons-to-bleed-not-to-win-r3q0r2fcg] – so lautet die Überschrift eines aktuellen Artikels der britischen Zeitung The Sunday Times. In dem Beitrag kommt der ehemalige CIA-Einsatzleiter für Europa und Eurasien zu Wort. Seine Aussage ist weder spektakulär noch ein Geheimnis. Sie untermauert aber einmal mehr, was von Anfang an offensichtlich war: Die Ukraine wird an der Leine geführt – zum schweren Nachteil des Landes. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Warum bekommt die Ukraine nicht genügend Waffen? Die konsequente Beantwortung dieser Frage führt in die Tiefen einer westlichen Politik, die über Leichen geht. „Sie gaben den Ukrainern also diese Waffen, aber sie gaben ihnen nie genug, um zu gewinnen. Sie gaben ihnen nur genug, um zu bluten.“ Das sind die Worte von Ralph Goff, veröffentlicht in einem Artikel der Sunday Times. Goff war bis vor Kurzem noch CIA-Einsatzleiter für Europa und Eurasien unter der Biden-Regierung. Dann kam Donald Trump. Im März sollte der Geheimdienststratege die „Leitung der geheimen Operationen der CIA“ übernehmen, heißt es in dem Artikel der Sunday Times. Doch dies ließ die neue Regierung, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu. Wie immer, wenn es um Aussagen aus dem Geheimdienstumfeld geht, ist Vorsicht geboten. Was stimmt? Was stimmt nicht? Was sind manipulierte Informationen, was ist politisch motiviert? Das ist bisweilen nicht leicht zu sagen. Die Aussage Goffs drängt sich jedenfalls unter einer nüchternen, analytisch-logischen Betrachtung geradezu auf. Die USA hätten der Ukraine von Anfang an maximale Waffenhilfe zukommen lassen können – genauso auch wie andere NATO-Staaten. Das war aber nicht der Fall. Sie führten die Ukraine eng an der Leine – bis heute. Die USA und die NATO-Staaten drückten das Land von hinten im Kampf gegen Russland nach vorne an die Front und die Soldaten direkt in die Fleischwölfe rein. Das Ergebnis dieses Vorgehens ist bekannt: Über drei Jahre Krieg, Hunderttausende von getöteten, verletzten, verstümmelten und traumatisierten Soldaten. Der ach so „hilfsbereite“ Westen gab der Ukraine immer genauso viele Waffen, dass das Land zwar Russland entgegentreten konnte. Von einem ernsthaften Verdrängen der russischen Armee konnte aber nie die Rede sein – geschweige denn davon, dass die Ukraine den Krieg hätte für sich entscheiden können. Von diesen Erkenntnissen gilt es weiterzudenken. Der Grund für das Vorgehen des Westens soll, wie es immer wieder kommuniziert wird, darin liegen, dass die NATO im Umgang mit Russland „vorsichtig“ sein wolle, also bemüht sei, den Krieg nicht zu eskalieren. Es gehe lediglich darum, die Ukraine in eine stärkere Verhandlungsposition zu bringen. Das klingt logisch und plausibel – es ist aber weder das eine noch das andere. Realistisch betrachtet: Die beste Position, in der die Ukraine je war, war vor dem Krieg. Unabhängig davon, wie es noch weitergeht: Die schweren menschlichen Verluste sind nicht mehr rückgängig zu machen. Selbst wenn sich zeitnah günstigere Verhandlungsbedingungen für die Ukraine ergeben sollten – was nicht zu erwarten ist –, werden sich Russlands Kernforderungen, wie etwa Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft, nicht ändern. Wie von Anfang an wird auch weiterhin gelten: Egal, wie viele Waffen noch auf die Schlachtfelder geworfen werden, ob weiterhin mit halber oder ganzer Kraft: Die Eskalationsdominanz wird weiterhin bei Russland liegen. So betrachtet, kommt ein dreckiges politisches Spiel zum Vorschein. In der Frage, warum die USA nicht gleich von Anfang an mehr Waffen geliefert haben, sodass die Ukraine den Krieg für sich entscheiden kann, liegt mindestens eine Falschannahme, eher jedoch eine politische Lüge. Denn: Von Anfang an musste jedem klar gewesen sein, dass die Ukraine nie eine Chance hatte oder haben würde, Russland eine militärische Niederlage zuzufügen. Von daher waren die als „Unterstützung“ bezeichneten Waffenlieferungen des Westens Schritte, die bis heute nicht zum Frieden geführt haben. Das Resultat der veranschlagten Politik ist eine völlig zerrüttete Beziehung zwischen dem Westen und Russland. Vielleicht war genau dies das Ziel. Titelbild: Niphon Subsri/shutterstock.com[http://vg07.met.vgwort.de/na/01e93f5ddf774a99a5ce9c49ed00dd3e]

Dass ein großer Teil der Gefangenen in deutschen Konzentrationslagern von 1941 bis 1945 sowjetische Kriegsgefangene, Zivilisten und Kinder waren, ist in Deutschland wenig oder gar nicht bekannt. So gut wie unbekannt ist auch die Tatsache, dass Kinder aus Russland, Weißrussland und der Ukraine als Blutspender für verletzte deutsche Soldaten genutzt wurden, oft in einem Ausmaß, dass die Spender nicht überlebten. Ulrich Heyden sprach in Moskau mit der 85 Jahre alten Russin Ewdakija Anikanowa. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Ewdakija Anikanowa befand sich als Vierjährige im Konzentrationslager Paldiski (Estland), wo man aus ihrem Körper Blut abzapfte und es über einen Schlauch direkt einem bewusstlosen deutschen Soldaten zuführte. Am 11. April 2025 lernte ich die 85 Jahre alte Russin Ewdakija Anikanowa kennen. Das war auf einer Gedenkveranstaltung der minderjährigen Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern, die jedes Jahr am Denkmal „Tragödie der Völker“[1] auf dem Gedenkkomplex „Poklonaja Gora“, westlich des Moskauer Stadtzentrums, stattfindet. Der 11. April wird in Russland als Feiertag der Selbstbefreiung der Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald begangen. Das Wetter war kühl, die alten Leute jedoch – inzwischen fast alle über 80 – saßen stumm, aber mit gespanntem Blick auf den Stühlen. Vor der Brust hielten sie rote Nelken. In ihren Gesichtern las ich Spannung und Unruhe, so als ob sie noch viel zu erzählen hätten. „Die Ungebrochenen“ Es sprachen Vertreter der Moskauer Stadtverwaltung, der Kirche und einer Jugendorganisation. Ein Sprecher sagte, dass in Moskau noch 2.500 Menschen leben, die als Minderjährige in deutschen KZs waren. 2024 lebten nach offiziellen Angaben in ganz Russland noch 50.000 Menschen, die in deutschen Konzentrationslagern waren.[2] Einige Redner priesen die Versammelten auf der Veranstaltung als „Ungebrochene“, also Helden. Aber als Helden wurden diese Menschen bis zum Ende der Sowjetunion nicht behandelt. Ihnen, die sich physisch auf der Frontseite des Feindes befanden, haftete immer etwas Fragliches an. Man verdächtigte sie, mit dem Feind zusammengearbeitet zu haben. Frauen wurden verdächtigt, dass sie mit deutschen Soldaten im Bett waren. Ja, es gab solche Fälle, erzählte mir Ewdakija Anikanowa, mit der ich am Rande der Veranstaltung ins Gespräch kam. Die 1940 Geborene wuchs im Südwesten von Moskau im Dorf Iwankowo auf. Aber selbst die Russinnen, die von deutschen Soldaten zum Beischlaf gezwungen wurden oder es freiwillig taten, konnten sich ihres Lebens nicht sicher sein. Eine Vierjährige als Blutspenderin Ewdakija Anikanowa beantwortete trotz ihres hohen Alters und des noch kühlen Wetters stehend meine zahlreichen Fragen. Sie erzählte, sie sei als Vierjährige in Estland und Lettland in den Konzentrationslagern Paldiski und Alitus gewesen. Als sie dann erzählte, sie habe Blut für einen deutschen Soldaten spenden müssen, war das wie ein Schock für mich. Es ist etwas völlig anderes, ob man darüber liest oder ob man als Deutscher einer Betroffenen direkt gegenübersteht. [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/Ewdakija-Anikanowa-1965-Foto-privat.jpg] Noch Jahrzehnte nach dem Sieg über den Hitler-Faschismus galten die sowjetischen KZ-Häftlinge nicht als vollwertige Bürger. Stalin hatte angeordnet, dass die Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht bedrohten Dörfern diese Richtung Osten verlassen. Das Recht auf eine Wohnung werde garantiert, erinnert sich Ewdakija. Die Sowjetmacht half nach dem Krieg auch beim Wiederaufbau des Dorfes. Doch Ewdakija sagte: „Wie sollten wir das Dorf verlassen? Wir konnten doch das Vieh nicht allein und die Felder nicht unbestellt lassen. Zudem waren alle Straßen Richtung Osten mit Flüchtenden verstopft.“ Natürlich habe man auf die Befreiung durch die Rote Armee gewartet, sagte Ewdakija. Als einmal während der Okkupation durch die Deutschen ein Doppeldecker über dem Dorf auftauchte und als Gruß das Flugzeug leicht um seine Längsachse schaukelte, hätten die Menschen Hoffnung geschöpft. Doch leider habe man nach kurzer Zeit eine Rauchwolke gesehen. Das Flugzeug sei offenbar abgeschossen worden. Die Verbindung mit der heimischen Erde Warum haben die Leute ihre Dörfer nicht verlassen, als die Wehrmacht nahte? Die Leute hatten ihre Holzhäuser selbst gebaut, Wege und Brücken selbst angelegt, das Vieh selbst großgezogen. Alles, was man aß, hatte man selbst erwirtschaftet. Auf dem Dorffriedhof lagen mehrere Generationen der Vorfahren. Das Dorf zu verlassen, etwa, um in ein Krankenhaus zu fahren, bedurfte auch nach der Oktoberrevolution der Erlaubnis des Dorfältesten. Erst ab 1962 bekamen die Menschen in russischen Dörfern Pässe. Das patriarchalische System in den russischen Dörfern machten sich die deutschen Besatzer zunutze. Als sie das Dorf Iwankowo am 1. Oktober 1941 besetzten, riefen sie die Bewohner zusammen und erklärten, sie würden jetzt eine „neue, deutsche Ordnung“ einführen. Eine Polizei wurde gebildet, Willige dafür fanden sich. Die Polizei musste Listen anlegen mit den Namen der Juden, Kommunisten und Frauen, deren Männer bei der Roten Armee kämpften. Matrona, die Mutter von Ewdakija, versuchte, die Liste zu verbrennen. Sie wurde geschlagen und verhört, redete sich aber damit heraus, dass sie ungebildet sei und nicht gewusst habe, worum es sich handelte. Über die deutschen Soldaten erzählt Ewdakija nicht nur Schlechtes. Deutsche Wehrmachtsärzte hätten ihr das Leben gerettet. Als sie an Scharlach erkrankte und an Atemnot litt, spritzte ihr ein Arzt im Frühling 1943 Penicillin. „Die neue, deutsche Ordnung“ Nach dem Krieg, als sie schon in Moskau studierte, besuchte Ewdakija einmal ihre Mutter im Dorf und wurde von einem Dorfbewohner gefragt, ob es stimme, dass keine deutschen Soldaten mehr in Moskau und Leningrad seien. Die Frage hatte folgenden Hintergrund: Der deutsche Befehlshaber im Dorf Iwankowo hatte das Dorf in den fast zwei Jahren Besatzung komplett von der Außenwelt abgeschirmt und unter der Dorfbevölkerung die Falschinformation verbreitet, die deutsche Wehrmacht habe bereits Moskau und Leningrad eingenommen. Aktuelle Informationen über die Front hatten die Dorfbewohner nicht. Die Partisanen waren sieben Kilometer entfernt in einem Wald, zu ihnen hatte man keinen Kontakt. „Schlaft bei den Kühen“ Nachdem die deutsche Wehrmacht das Dorf Iwankowo mit motorisierten Einheiten eingenommen hatte, wurde ihnen erklärt, sie müssten ihre Häuser verlassen. „Baut euch Schuppen oder schlaft bei euren Kühen“, wurde den Menschen gesagt. Die Häuser seien jetzt für die deutschen Soldaten. Der Leser wird sich vielleicht fragen, wie eine Frau, die den Überfall der Wehrmacht und das Konzentrationslager im Alter von zwei bis vier Jahren erlebte, sich überhaupt noch erinnern kann. „An etwas habe ich mich erinnert,“ schreibt Ewdakija in ihrem 2011 erschienenen Buch „Die schwarzen Flügel des Krieges“ [3]. „Ich erinnere mich bis heute an grelle, bunte und lebendige Bilder verschiedener Situationen aus dem Leben in der Zeit.“ In ihrem Buch wurden die Augenzeugenberichte von 60 Menschen veröffentlicht, die als Minderjährige in deutschen Konzentrationslagern waren. Ihr Buch gab Ewdakija in ihrer Funktion als Vorsitzende der „Gemeinschaft der minderjährigen KZ-Insassen im Moskauer Bezirk Südwest“ heraus. Aus dem Buch las sie in Schulen vor. Aber heute hätten die Schulen keine Zeit mehr für solche Lesungen, murrt Ewdakija. Der Lehrplan sei übervoll, und „die ganze Jugend“ – auch ihre Enkelin – sei „mit Computerspielen beschäftigt“. Der heilige Brunnen Trotz der offiziellen kommunistischen Ideologie gab es im Dorf Iwankowo noch religiöse Traditionen. So gab es einen „heiligen Brunnen“, dessen Wasser vorwiegend für Feiertage und für Kranke benutzt wurde. Als die deutschen Besatzungssoldaten begannen, mit dem Wasser dieses Brunnens ihre Autos zu waschen, beschwerten sich zwei jüngere Frauen. Sie wurden nach einer Sitzung eines von den deutschen Militärs beaufsichtigten „Gerichts“ erschossen, erzählt meine Gesprächspartnerin. Fünf Kinder wurden zu Waisen. Weitere Erschießungen gab es in dem Dorf nicht. Die über das Dorf verhängte „neue, deutsche Ordnung“ war äußerst streng. In der Dunkelheit durften keine Feuer angezündet und keine Lampen eingeschaltet werden. Versammlungen mit mehr als zwei Menschen waren verboten. Laut schreien, singen oder das Gelände des Dorfes verlassen, war ebenfalls verboten. Diese Verbote sollten Angriffe der Partisanen verhindern. Die nächsten Wälder, in denen sich Partisanen aufhielten, lagen in sieben Kilometer Entfernung. Während der eineinhalb Jahre Besatzung ließen sich keine Partisanen blicken. Die Deportation ins Konzentrationslager Im Juni 1943 musste die Wehrmacht wegen der Übermacht der Roten Armee abziehen. Die gesamte Dorfbevölkerung wurde nach Estland in das Konzentrationslager Paldiski deportiert. „Vor dem Abzug brannten die deutschen Soldaten unsere Häuser ab und sprengten unsere Öfen. Die Rotarmisten sollten nichts haben, um sich zu wärmen“, erzählte mir Ewdakija, die damals etwas über drei Jahre alt war. Die Aufsicht über die Deportation der Dorfbewohner führten ukrainische Hilfspolizisten, die sich nach der Erzählung von Ewdakija äußerst brutal gegenüber den Deportierten verhielten. Man ging zu Fuß, kleine Kinder und Kranke wurden mit Pferden transportiert. Nach 70 Kilometern – vor der Stadt Brjansk – musste sich der Menschenzug in Deckung begeben, weil es am Himmel einen Luftkampf zwischen deutschen und sowjetischen Flugzeugen gab. Einige der Deportierten wurden verletzt und getötet. Ewdakija versteckte sich mit ihrer Mutter und der schwangeren Schwester der Mutter unter einem Lastkarren. Diese schwangere Schwester wurde durch einen Holz- oder Granatsplitter getötet. Die Hilfspolizisten trieben die Deportierten zur Eile. Sie durften sich nicht von ihren Toten verabschieden. Die Verletzten waren für die Hilfspolizisten nur Ballast, sie wurden erschossen. Mehlsuppe und Peitsche In Estland musste Matrona, die Mutter von Ewdakija, in der Landwirtschaft arbeiten und deutsche Verteidigungsanlagen ausheben. Ewdakija kam in ein Konzentrationslager für Kinder. In dem KZ waren vor allem Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren. Die Kinder bekamen dreimal am Tag etwas zu Essen, morgens und abends Tee mit Zuckerersatz und einem Stück Brot. Mittags ein Becher mit Wasser und Mehl. „Für mich reichte das, weil ich klein war. Aber für die älteren Kinder war das zu wenig. Viele starben“, erzählt meine Gesprächspartnerin. Weiter sagt sie: „Ich wurde in dem KZ gefangen gehalten, weil ich die seltene Blutgruppe ‚1 negativ‘ habe.“ [Null negativ, Anm. d. Red.] Spenderblut dieser Gruppe kann universal für alle Blutgruppen eingesetzt werden. „Ich wohnte mit Denis, einem Jungen, der die gleiche Blutgruppe hatte und so alt war wie ich, in einer Ecke des Lagers.“ Weiter erzählte meine Gesprächspartnerin: „Eines Tage brachte man uns in das Krankenhaus des Konzentrationslagers. Wir bekamen eine Süßigkeit. Dann brachte man uns der Reihe nach zu einem schwer verwundeten General. Von mir – einer Vierjährigen – konnten sie nicht viel Blut nehmen. Aber Denis wurde mehr Blut abgenommen. Er starb in der nächsten Nacht. Sehr viele Kinder starben.“ Wie der General ausgesehen habe? „Er war blond, bärtig, nicht groß und untersetzt.“ Man wollte Wölfe aus ihnen machen Die Ordnung im Kinder-KZ war äußerst streng. Es gab eine Aufseherin mit Peitsche, sie hieß Elsa. Offenbar hatte man vor, geeignete Kinder für den Arbeitseinsatz in Deutschland zu finden. Zu diesem Zweck veranstalteten Aufseher Spiele, bei denen sie die Kinder zur Brutalität antrieben und sie so auf ihre körperlichen Fähigkeiten prüften. Ewdakija vermutet, dass man besonders reaktionsschnelle Kinder in eine besondere Schule schickte. Was weiter mit ihnen passierte, wusste sie nicht. Die „Spiele“ liefen folgendermaßen ab: Ein Aufseher hielt eine Süßigkeit oder ein Brot hoch, und die Kinder mussten hochspringen und sich um das Bonbon raufen. Ewdakija erinnert sich, einem Jungen sei ein erbeutetes Bonbon von anderen Kindern mit Gewalt aus dem Mund gepult worden. Es gab Mädchen, die halfen, die Wunden der bei den Kämpfen um Nahrung verletzten Jungen zu pflegen. Diese Mädchen seien für eine spätere Verwendung in einer sozialen Einrichtung vorgemerkt worden, vermutet meine Gesprächspartnerin. Doch die Grundregeln sozialen Verhaltens, welche die Kinder in ihren Familien gelernt hatten, behielten sie bei. Jeden Morgen kümmerten sich die siebenjährigen Kinder um die vierjährigen, halfen ihnen beim Aufstehen, Anziehen und Waschen. Sie achteten auch darauf, dass die Kleidung der ganz Kleinen sauber war. Ewdakija: „Die Kinder wurden sehr schnell erwachsen.“ Die Kinder bekamen auch Deutschunterricht. Ewdakija erinnert sich noch an Verse. In gebrochenem Deutsch sagt sie: > „Treue Liebe bis zum Grabe > schwör ich dir mit Herz und Hand. > Was ich bin und was ich habe, > dank ich Dir, mein Vaterland!“[4] Endlich echter Zucker! Weil die Front immer weiter nach Westen rückte, wurden die Kinder immer wieder in andere KZs verlegt. Im September 1944 wurde Ewdakija zusammen mit anderen Kindern von sowjetischen Soldaten befreit. Sie befand sich zu der Zeit in einem Kinder-KZ in Litauen. Von den Befreiern wollten die Kinder als Erstes wissen, ob sie richtigen Zucker hätten, denn im KZ bekamen die Kinder nur Zuckerersatz. Die Rotarmisten hatten in ihren Taschen echten Zucker. Nach der Befreiung kam Ewdakija in ein Filtrationslager. In dem Lager sah sie das erste Mal nach einem Jahr ihre Mutter wieder. „In dem Lager prüfte man, inwieweit unsere Eltern Verräter waren. In diesem Lager lebten wir ein halbes Jahr. Nachdem man uns geprüft hatte, gab man uns eine alte Kuh und schickte uns in unser altes Dorf.“ „Wir galten nicht als vertrauenswürdig“ Den Menschen, die in den deutschen Konzentrationslagern waren, traute man in der sowjetischen Zeit nicht vollständig, weshalb sie noch Jahre nach dem Krieg keine höhere Ausbildung absolvieren und keine Leitungsposten einnehmen durften. Die Mutter von Ewdakija – Matrona – hatte sich im Filtrationslager verpflichtet, über das Erlebte in den deutschen KZs nicht zu sprechen. Es passte nicht in die staatliche Ideologie, dass sowjetische Menschen als wehrlose Geschöpfe unter der Knute der deutschen Faschisten lebten. Ewdakija lebte in ihrem Dorf bis zum 17. Lebensjahr. Sie hatte Glück: Wegen ihrer guten Leistungen in der Schule verhalf ihr der Kolchosvorsitzende zu einer Ausbildung an der Landwirtschaftsakademie in Moskau. Danach arbeitete sie 25 Jahre lang an der Moskauer Staatlichen Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Expertin für Bodenkunde. Sie leitete Exkursionen von Studenten in das europäische Schwarzerde-Gebiet. Keiner der Jungen unter acht Jahren aus dem Dorf Iwankowo überlebte das KZ Der Bann, der über sowjetischen Insassen deutscher Konzentrationslager lag, wurde erst unter Michail Gorbatschow in der Zeit der Perestroika gebrochen. Erst zu dieser Zeit konnten die Überlebenden aus den deutschen KZs offizielle Vereinigungen bilden. Der Krieg hat tiefe Lücken in das Heimatdorf von Ewdakija gerissen. Vor dem Krieg lebten in Iwankowo 256 Menschen. 78 Männer gingen an die Front, auch der Vater von Ewdakija. Nur drei Männer kehrten aus dem Krieg zurück. Der Vater von Ewdakija blieb als Soldat – irgendwo vor Leningrad – verschollen. Seine Frau wartete ihr ganzes Leben auf ihn. Von den nach Estland deportierten Dorfbewohnern kehrten nur 52 in das Dorf zurück, darunter 19 Kinder. Alle Jungen unter acht Jahren waren in den deutschen Konzentrationslagern gestorben. Dass sie die Schrecken des Konzentrationslagers überlebte, erklärt Ewdakija damit, dass sie aus einer Familie mit starkem religiösen Hintergrund komme. Ihre Vorfahren waren „Altgläubige“, ihr Großvater ein Priester. Sie selbst glaube auch an Gott, befolge aber nicht streng die kirchlichen Regeln, wie sie ohne Scheu erklärt. „Blutspenden“ auch in den KZs Salispils, Auschwitz und einem Heim bei Charkow Dass man sowjetischen Kindern in den deutschen Kinder-Konzentrationslagern Blut abzapfte, taucht auch in einer 2003 veröffentlichten Untersuchung des Kiewer Journalisten Wladimir Rudyuk auf.[5] Der Journalist verweist auf eine Dokumentation der KZ-Gedenkstätte Salispils bei Riga, in der festgestellt wurde, dass in den ersten 18 Monaten der deutschen Besatzung von Lettland insgesamt 3.500 Liter Kinderblut aus dem Konzentrationslager Salispils ausgeführt wurden. In der Untersuchung des Kiewer Journalisten kommt außerdem die Kiewerin Anna Strishkova zu Wort. Sie kam im Dezember 1943 in das KZ Auschwitz. Obwohl sie erst zwei Jahre alt war, wurden ihr, wie sie später erfuhr, mehrmals 300 Gramm Blut abgenommen. Die Prozedur sei schmerzhaft gewesen, weshalb sie sich daran erinnere. Es habe aber auch Kinder gegeben, denen man 1,5 Liter Blut abgenommen habe. Die seien nach der „Spende“ meist gestorben. Sie landeten in einem Tank für „verbrauchte Materialien“. Man habe allerdings nicht allen Kinder Blut abgenommen. Jüdische Kinder, Kinder von Partisanen und Kommandeuren der Roten Armee wurden „ohne vorherige Nutzung“ vernichtet. Blutentnahmen gab es auch im Kinderheim „Sokolniki“ in der Nähe von Charkow, berichtete die Berliner Tageszeitung 2008 in einem Bericht über den Ukrainer Nikolai Kalaschnikow.[6] Er war als Neunjähriger im Kinderheim „Sokolniki“, wo ihm regelmäßig Blut abgenommen wurde, das dann an verwundete deutsche Soldaten ging. „Uns wurde Blut abgenommen, bis wir ohnmächtig zu Boden sanken”, erinnert sich Kalaschnikow, „manchmal sank der Puls auf Null“. Viele Kinder des Kinderheims starben bei dieser erzwungenen Blutspende. „Von den geschätzten 2.000 Kindern im Heim Sokolniki haben nur 56 die Befreiung durch die Sowjetarmee erlebt.” Die Gesamtzahl der sowjetischen KZ-Opfer 4,9 Millionen sowjetische Zivilisten wurden in deutsche Konzentrationslager verschleppt. Von diesen Zivilisten starben 1,8 Millionen. Unter den Verstorbenen waren 900.000 Kinder unter zwölf Jahren.[7] Die deutsche Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zahlte zwischen 2002 und 2007 nur an 8.000 Personen, die als Kinder im KZ waren, oder an Mütter, deren Kinder im KZ gestorben waren, Entschädigungen. Man muss konstatieren, dass von den überlebenden sowjetischen Bürgern, die als Minderjährige in deutschen KZs waren, nur ein äußerst geringer Teil von der deutschen Stiftung entschädigt wurde. Die Entschädigungssumme betrug bis zu 4.200 Euro.[8] Ewdakija Anikanowa bekam eine Entschädigung von 3.000 Euro, weil sie nach Meinung der Stiftung nicht ein Jahr, sondern nur zwei Monate in einem Konzentrationslager nachweisen konnte. Die Stiftung zahlte insgesamt Entschädigungen für 1,6 Millionen Menschen aus 100 Staaten. Wie lebt Ewdakija heute? Die von mir interviewte ehemalige KZ-Insassin Ewdakija lebt heute zusammen mit ihrer Tochter, ihrer Enkelin und ihrem Schwiegersohn in einer Wohnung im Südwesten von Moskau. Ihr Mann ist gestorben. Ewdakija ist nach wie vor Vorsitzende der Organisation der minderjährigen KZ-Insassen, die in ihrem Moskauer Bezirk leben. Zurzeit sammelt sie Geld, um humanitäre Hilfe für russische Soldaten in der Ukraine einzukaufen. Die Arbeit am Computer haben die Ärzte ihr verboten, weil die Augen geschont werden müssen. Aber Ewdakija hat schon ihr Handwägelchen gepackt, mit dem sie demnächst auf ihre Datscha fahren wird. Sie bekommt eine Rente von 480 Euro, was für russische Verhältnisse nicht schlecht ist. Titelbild: © Ulrich Heyden[https://vg04.met.vgwort.de/na/2ea94889841946468dd97ee7e54891b3] ---------------------------------------- [«1] Das Denkmal aus Bronze, geschaffen 1997 von Surab Zereteli, zeigt zahlreiche unbekleidete KZ-Insassen mit ihren Kindern. Um das Denkmal herum liegen – in Bronze – die Schuhe, Kämme und Taschen der Gefangenen. [«2] dzen.ru/a/Zj0gyXlxmXyW3D7-?ysclid=ma71imk5xa303051967 [https://dzen.ru/a/Zj0gyXlxmXyW3D7-?ysclid=ma71imk5xa303051967] [«3] Ewdakijewa Anikanowa, Tshornyje krylja wojny, Moskau, Profisdat, 2011, ISBN 978-5-255-01770-6 [«4] August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874), „Mein Vaterland” [«5] Wladimir Rudyuk, Sowjetische Kinder als Blutspender für die deutsche Wehrmacht. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel), Nr. 41/42, April 2003, S. 284-295 [«6] Phillip Gessler, Blutspender für Wehrmachtsoldaten, die tageszeitung, 18. August 2008 taz.de/Die-Kinder-von-Sokolniki/!5177196/ [https://taz.de/Die-Kinder-von-Sokolniki/!5177196/] [«7] Ewdakijewa Anikanowa, Tshornyje krylja wojny, Moskau, Profisdat, 2011. Die Opferzahlen waren möglicherweise höher, siehe: Viktoria Nikolajewna, Verluste der sowjetischen Bevölkerung in Konzentrationslagern, 2017 [https://moluch.ru/archive/139/32565/] [«8] Bundesministerium der Finanzen [https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesministerium_der_Finanzen]: Wiedergutmachung: Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. [https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=8] Stand Mai 2022, S. 12

Heute und morgen wird der Befreiung vom Nazi-Terror gedacht. Eigentlich sollte dabei auch der wichtigsten Befreier gedacht werden, aber das passt nicht ins offizielle anti-russische Konzept. Um in der tagespolitischen Meinungsmache ein paar Punkte zu machen, wird die Erinnerung mit Füßen getreten. Außerdem wird genau die Instrumentalisierung betrieben, die man selbst beklagt. Es gibt aber einige Veranstaltungen der Erinnerung, die versuchen, das anti-historische offizielle Vorgehen auszugleichen. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Das Zeigen unter anderem von Flaggen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow bleibt am 8. und 9. Mai untersagt. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren entschieden, wie Medien berichten [https://www.tagesspiegel.de/berlin/eilentscheidung-des-verwaltungsgerichts-berlin-sowjetische-flaggen-am-treptower-ehrenmal-bleiben-am-tag-der-befreiung-verboten-13652341.html?icid=in-text-link_13654246]. Die Berliner Polizei hatte eine Allgemeinverfügung erlassen, wonach am 8. und 9. Mai unter anderem am Sowjetischen Ehrenmal Treptow das Zeigen von Flaggen und Fahnen „mit russischem Bezug“ untersagt sei. „Eine Sympathiebekundung zum russischen Aggressor ist naheliegend…“ Ein Verein hatte sich im gerichtlichen Eilverfahren gegen das Verbot von UdSSR-Flaggen, die davon auch betroffen sind, gewandt und argumentiert, dass durch das Verbot die Versammlungsfreiheit zu Unrecht eingeschränkt werde. Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts wies den Eilantrag laut den Medienberichten zurück. Erklärtes Ziel der Allgemeinverfügung sei es, so das Gericht in der sehr fragwürdigen „Begründung“, „den öffentlichen Frieden zu wahren und ein würdiges Begehen der Gedenktage zu ermöglichen”. Dies rechtfertige es, das Zeigen bestimmter Symbole wie der sowjetischen Flaggen an den Gedenktagen zu untersagen. Die Flaggen der UdSSR „könnten im aktuellen Kontext Gewaltbereitschaft oder jedenfalls Sympathiebekundung für die Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine vermitteln“. Die Flagge der UdSSR müsse zwar nicht unbedingt eine Nähe zu Russland bedeuten, bei verständiger Würdigung sei aber „eine Sympathiebekundung zum russischen Aggressor naheliegend und eine solche sei gerade an diesen Gedenktagen nicht erwünscht“, sagte eine Pressesprecherin des Verwaltungsgerichts dem Berliner Tagesspiegel. Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden. Keine Russen bei der Gedenkstunde Zu diesem Akt des groben Geschichtsrevisionismus, der in inakzeptabler Weise „begründet“ wird, kommt hinzu: Auch zur geplanten Gedenkstunde im Bundestag wurden Russen wie auch Belarussen nicht eingeladen, wie etwa die Berliner Zeitung berichtet [https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/baerbock-handreichung-kritik-zum-umgang-mit-russland-lammert-fordert-respekt-li.2322339]. Und auch die Offiziellen der Stadt Berlin verhalten sich fragwürdig: Seit Beginn des Ukrainekrieges verzichtet der Berliner Senat auf Kranzniederlegungen am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Im Mai 2022 hatten letztmalig Senatsvertreter einen Kranz am Ehrenmal an der Straße des 17. Juni in Tiergarten niedergelegt – seinerzeit auf Einladung der Botschaft der Ukraine. In den Jahren danach legte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner auf Wunsch der ukrainischen Botschaft zusammen mit dem Botschafter stattdessen Kränze an der Neuen Wache in Mitte ab. Dieses selektive und dadurch verfälschende „Gedenken“ ist auch für dieses Jahr geplant. Sahra Wagenknecht bringt es in der Berliner Zeitung auf den Punkt: > „Es ist ein Skandal, dass der Bundestag ohne offizielle Vertreter Russlands an den 80. Jahrestag der Befreiung erinnert. Wer nicht mehr weiß oder wissen will, dass die Sowjetarmee die Hauptlast des Krieges gegen die Hitlerwehrmacht trug und 27 Millionen Menschen aus der damaligen Sowjetunion, die Mehrheit von ihnen Russen, dem Vernichtungsfeldzug zum Opfer fielen, ist völlig geschichtsvergessen. (…) Dieses unwürdige Gedenken passt leider zu dem neuen deutschen Zeitgeist, der uns mental auf den nächsten Krieg mit Russland vorbereiten will.“ Sabotage des Gedenkens Hier sei zusätzlich noch an den letzten Skandal aus dem damals noch von Annalena Baerbock geleiteten Außenministerium erinnert: In einer Handreichung wird Landkreisen und Kommunen empfohlen, im Zusammenhang mit dem 8. und 9. Mai keine Einladungen an russische oder belarussische Diplomaten auszusprechen – und notfalls ungebetene Gäste per Hausrecht wieder wegzuschicken. Wir sind auf diesen skandalösen Vorgang etwa im Artikel „Neue Gehässigkeit aus dem Hause Baerbock: Russen sollen beim 80. Weltkriegsgedenken „per Hausrecht“ rausgeschmissen werden [https://www.nachdenkseiten.de/?p=131300]“ oder im Artikel „Die fragwürdige Begründung des Auswärtigen Amts für Ausladung russischer Diplomaten vom Gedenken an den 8. Mai [https://www.nachdenkseiten.de/?p=131489]“ eingegangen. Die Sabotage der historischen Würdigung findet auf weiteren Ebenen statt, wie Medien berichten [https://www.berliner-zeitung.de/news/flugverbot-fuer-putins-gaeste-li.2322900]. Demnach können ausländische Staatsgäste zum Weltkriegsgedenken in Russland nicht über Lettland, Estland und Litauen fliegen. Die EU- und NATO-Staaten haben ihren Luftraum für alle Staats- und Regierungschefs gesperrt, die zum „Tag des Sieges“ nach Moskau reisen wollen. Das heißt, auch dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico wurde keine Überfluggenehmigung erteilt. Vuić und Fico sind die beiden einzigen europäischen Staats- und Regierungschefs, die an den Feierlichkeiten in der russischen Hauptstadt teilnehmen wollen, was in der EU für Empörung sorgte. Estland habe auch kubanischen und brasilianischen Flugzeugen mit wichtigen Personen an Bord den Überflug verweigert. Weitere sollen folgen. Heute auch Veranstaltungen gegen das Verdrängen Es gibt aber in Deutschland auch engagierte Bürger und Veranstaltungen, die sich dem beschämenden Verhalten des offiziellen „Gedenkens“ nicht anschließen. So hatte bereits zum 3. Mai die auf der Webseite befreiung.org [https://befreiung.org/] vorgestellte Initiative zu einer politisch-kulturellen Kundgebung am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten eingeladen, siehe dazu auch hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=132418]. Politiker des BSW werden sich am heutigen 8. Mai mit verschiedenen Kranzniederlegungen, Führungen und einer Kundgebung engagieren. Unter anderem ist heute eine Kranzniederlegung und Führung mit Amira Mohamed Ali und Sevim Dagdelen angekündigt – um 10 Uhr am Ehrenmal Tiergarten, Straße des 17. Juni. Und heute ab 16.45 Uhr werden beide Politikerinnen bei einer Kundgebung am Museum Karlshorst in Berlin präsent sein. Ein fortgesetzter Skandal Der praktizierte Geschichtsrevisionismus ist ein seit langem fortgesetzter und gesteigerter Skandal. Dass der historische Kampf gegen den Nazi-Terror nicht mit der Beurteilung des aktuellen Ukrainekriegs vermischt werden sollte, ist selbstverständlich. Insofern bedeutet die Forderung nach einer würdigen Ehrung der damaligen Befreier natürlich keine „Verteidigung“ der aktuellen russischen Kriegsführung. Im letzten Jahr hatte ich im Artikel „Am Tag der Befreiung ist die Fahne der Befreier verboten [https://www.nachdenkseiten.de/?p=114910]“ beschrieben, wie willkürlich, kleinlich und gefährlich ich die beschämende anti-historische Haltung finde, die genutzt wird, um im aktuellen Konflikt gegen Russland ein paar Punkte zu machen: > „Die Weigerung, zwischen historischen Verdiensten der Sowjets und der Roten Armee im monumentalen Kampf gegen den Faschismus (und daraus folgenden, andauernden Verpflichtungen für Deutschland) einerseits und aktuellen Konflikten mit Russland andererseits zu unterscheiden, ist nicht nur kleinlich, sondern es offenbart auch eine meiner Meinung nach gefährliche und skrupellose Willkür im Umgang mit der Geschichte.“ Im Artikel „Empörender Umgang mit dem Tag der Befreiung: „Hier weht nur noch die Ukrainefahne“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=97414]“ heißt es: > „Es ist ein Triumph der Geschichtsrevisionisten: Das aktuelle ‚Gedenken‘ an jene sowjetischen Befreier von der Nazidiktatur, die die größten Opfer dafür gebracht haben, muss als total unwürdig bezeichnet werden. Auch über den aktuellen Anlass hinaus gibt es in Deutschland massive Bemühungen, die Geschichte vor allem bezüglich Russland umzudeuten. Der grüne Zeitgeist des Militarismus möchte den Bürgern seinen Russenhass mit einer Schocktherapie überstülpen.“ Dazu kommt: Gerade die, die immer von Mahnung, Erinnerung und Verantwortung aus der Geschichte schwafeln, machen genau das durch ihr aktuelles Handeln kaputt. Für Bürger mit Geschichtsbewusstsein ist das alles einfach nur beschämend. Titelbild: Lars-Goran Heden / Shutterstock Mehr zum Thema: Am Tag der Befreiung ist die Fahne der Befreier verboten [https://www.nachdenkseiten.de/?p=114910] Empörender Umgang mit dem Tag der Befreiung: „Hier weht nur noch die Ukrainefahne“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=97414] Neue Gehässigkeit aus dem Hause Baerbock: Russen sollen beim 80. Weltkriegsgedenken „per Hausrecht“ rausgeschmissen werden [https://www.nachdenkseiten.de/?p=131300] Die fragwürdige Begründung des Auswärtigen Amts für Ausladung russischer Diplomaten vom Gedenken an den 8. Mai [https://www.nachdenkseiten.de/?p=131489] [https://vg01.met.vgwort.de/na/264ae66b123943998722498281aac4f9]

In Zeitenwende-Wahnsinnszeiten des sturen Eintrichterns eines Denkens, das auf Eskalation zielt, ist dieser Auftritt ein Lichtblick: Klare Worte findet TV-Moderator und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar im Gespräch mit dem Podcaster Matze Hielscher, der sein Format „Hotel Matze“ nennt. Yogeshwar formuliert deutlich, worauf die Militarisierung unserer Gesellschaft hinausläuft, wird dem nicht Einhalt geboten: „Wir versauen unseren Kindern und Enkeln die Zukunft.“ Es braucht mehr Yogeshwars, viel mehr Mut, schonungslose Offenheit, Entmilitarisierung und Friedensausrüstung. Unsere Kompetenzen müssen ganz anders genutzt werden. Ein Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Ein Plädoyer, das ins große TV gehört Geht es Ihnen auch so? Schalte ich das TV- oder Rundfunkgerät ein, gibt es in den einschlägigen Formaten stets die gleiche Leier. In deutschen TV-Talkshows, im Rundfunk und dann noch tagein, tagaus in den Printmedien des Mainstreams samt ihrer Internetplattformen herrscht eine fortwährende Atmosphäre der Mobilmachung auf Teufel komm raus. Dagegen finden sich gefühlt nur wenige „Ausreißer“ – mutige Menschen, mündige Bürger, die aus der Reihe tanzen, um zu sagen: Haltet inne! Überlegt! Wir beschreiten einen gefährlichen Weg! Das heißt aber nicht, dass es diese Menschen nicht gibt. Sie gibt es entgegen der oberflächlichen Wahrnehmung, was von den großen Medien wohl so gewollt ist, durchaus zahlreich (Tendenz steigend). Zu finden sind sie allein schon in der persönlichen Umgebung, aber auch in der Öffentlichkeit – alles Menschen, die sich dem politischen und medialen Mainstream entgegenstemmen. Ihre Zahl, ihre Argumentationen, deren Richtigkeit – allein diesen wird seitens der Programmmacher und Redaktionen der gebührende mediale Platz noch immer vorenthalten. Wo kein unbequemer Mensch, da kein Problem. Umso wichtiger fühlt sich nun aktuell für mich der Auftritt an, der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hätte laufen müssen: Ranga Yogeshwars Plädoyer für Abrüstung, Frieden und Verständigung. Der Beitrag findet sich in einem Format, das eine Nummer kleiner ausfällt als die große Bühne ÖRR – umso mehr ist er ein wichtiger, wohltuender, Hoffnung weckender. In der Podcastfolge „Hotel Matze – Ranga Yogeshwar über Globale Empathie und die Abschaffung von Grenzen“ [https://www.youtube.com/watch?v=MbwZHmQ0lJ4] spricht Ranga Yogeshwar tatsächlich über eine Entmilitarisierung Deutschlands [https://www.youtube.com/watch?v=OGwyWFx5qCI]. Ein schier unglaublicher Gedanke, nicht wahr? Das Besondere für mich: Wie der Wissenschaftsjournalist seine Worte wählt, ist entwaffnend, weil wahrhaftig und ehrlich. Ohne Schnörkel, nicht zurechtgelegt und eloquent perfekt ausformuliert – Yogeshwar spricht so, wie mein Nachbar, Freund, Verwandter redet. Und er hat so recht. Kriege werden deswegen geführt, weil dahinter gigantische ökonomische Interessen stehen Der Mainstream duckt sich folglich weg oder schimpft. Doch ihm sei entgegnet: Worum geht es denn bei Kriegen eigentlich? Die Frage wird im Mainstream nicht gestellt, dagegen wird stets von Patriotismus und Friedenssicherung (mit noch mehr Waffen?) geschwafelt. Yogeshwar redet kraftvoll und ruhig Klartext: „Jeder Krieg ist kein Gewinnerkrieg.“ Die dahintersteckenden ökonomischen Interessen seien jedoch gigantisch. Jedem dieser Nutznießer sei gesagt, dass die meisten Menschen, vor allem junge Männer, eben kein Kanonenfutter sein wollen wie in den vielen Kriegen der Vergangenheit. Sie fragen heute: Wofür soll ich sterben? Es bleibt zu hoffen, denke ich, dass die vielen jungen Männer (und Frauen) der Meinungsmache, den PR-Kampagnen und dem gesellschaftlichen Druck einschließlich der Ausrufung von Pflicht und Sanktion standhalten. Wir haben andere Sorgen, als in den Krieg zu ziehen. Yogeshwar spricht leise und hat ein bildhaftes Beispiel aus der Vergangenheit als Mahnung und Warnung vor einer zerstörerischen Wiederholung parat: Die Villa Hügel in Essen. Das imposante Gebäude, der Komplex auf einem Hügel, in einem Park, der beeindruckend ist – von da residierte und herrschte ein Herr Krupp, „Gewinner des Ersten Weltkrieges“. An diesem Schreibtisch in der Villa wurde auf den Leichen junger Männer Geld verdient, erwähnt Yogeshwar. Die Menschen wollen einfach ein gutes Leben Der Wissenschaftsjournalist schüttelt den Kopf über die Entwicklungen in unserem Land, das so viel Leid erlebt hat. Zwei Weltkriege. Yogeshwar ist fassungslos: „Jetzt fängt man an, uns Angst zu machen: 2029 wird es hier wieder Krieg geben. Hei, hör auf!“ Wenn dieser Wahnsinn Erfolg hat, schlussfolgere ich, sind Yogeshwars Worte wie eine Prophezeiung: „Wir versauen unseren Kindern und Enkeln die Zukunft.“ Ganz anders verhält es sich aber: Keiner will Krieg, auch nicht 2029. „Russische, chinesische, amerikanischer Bürger – keiner sagt, wir wollen Krieg, wir wollen ein gutes Leben, wir wollen nicht, dass die Söhne eingezogen werden.“ Die Deutschen kann man auch hinzuzählen, friedfertig zu sein, ergänze ich für mich beim Hören seiner Worte. Und doch toben Kriege, werden welche vorbereitet, stocken Friedensverhandlungen. Das bedeutet, dass die Eliten nicht auf ihre Völker hören. Wie wäre es, wenn wir es so machten wie Costa Rica? Ranga Yogeshwars schönster Moment bei „Hotel Matze“ für mich ist, als er über ein Grundgefühl spricht, dass uns allen innewohnt (selbst denen, die gern aufrüsten): Empathie. Das Mitgefühl wirkt aus uns heraus, wenn wir es nur zulassen. Es ist einfach, so Yogeshwar: „Wir in Deutschland rüsten gar nichts auf, wir rüsten ab, lass uns das Land komplett entmilitarisieren, weil … es gibt keine Begehrlichkeiten.“ Wann kommen ähnliche Worte von Politikern und anderen wichtigen Leuten? Mit Begehrlichkeiten meint Ranga den ausgemachten und begehrenden, gierigen Feind namens Russland, das größte Land der Welt, das Land mit den meisten Bodenschätzen weltweit. Was sollen die Russen hier in Deutschland wollen? Ranga: „Der Russe, was will er hier? Weißbier?“ Die nächste Frage sollte der politischen Elite ebenso vorgetragen werden: Wie wäre es, wir machen es so wie Costa Rica? Yogeshwar erwähnt trocken, in Costa Rica sei die Armee abgeschafft. Ich lese nach – seit etwa 77 Jahren. Mit Entmilitarisieren ist gemeint, alle Kompetenzen für eine friedliche Gesellschaft einzusetzen – es ist einfach, wenn der politische Wille dazu da ist Dem Moderator, Autor, Physiker, Wissenschaftsjournalisten, engagierten kritischen und unbequemen Bürger Yogeshwar ist zu danken. In Zeiten, in denen von „verengten Meinungskorridoren“ die Rede ist, schwarz-weiß die gängige Farbkombination von Argumentationen ist und ein Um-die-Ecke-Denken oder ein Einspruch gegen vorherrschende Ausrichtungen diffamiert wird, sind dessen Worte wie eine kalte Dusche, die einen aufwachen lässt. Es ist doch ganz einfach, man stelle sich das nur mal vor: Die Armee wird zurückgeführt auf ein Minimalmaß an Personal und Ausrüstung. Wir stellen fest, wir haben um uns herum keine Feinde, denen wir unsere Waffen entgegenstellen müssten, wir haben Freunde und Partner. Und auch Russland, das russische Volk, ein Vielvölkervolk, ist nicht unser Feind. Yogeshwars Vorschläge sind wundervoll, sie offenbaren Mut im Denken, Freiheit. Schließlich wird auch den Reaktionären derlei Freiheit des Denkens eingeräumt. Die, die aufschreien in „vernichtenden“ Kritiken, sollten mal die Perspektive wechseln Yogeshwar spricht von Entmilitarisieren, das wird in Medien kritisiert, heftige, unsachliche, giftige Aufschreie sind zu hören, schwach sind indes deren Argumente gegen den „Spinner“, „Fantasten“, gegen den Mann, der unter Steinen gelebt haben muss [https://www.ksta.de/kultur-medien/ranga-yogeshwar-podcast-aussagen-sorgen-fuer-vernichtende-kritik-1017170]. Sind Groß-Denken, Fantasie und Mut also nur dann anerkannt, wenn es im genehmen Kontext der Aufrüstung geschieht? Ja nicht beim Entmilitarisieren, bei der Militarisierung schon? Mir fallen Stichworte ein: Rüstungsfirmen, Regierungen, fanatische Schreiberlinge sinnieren über Star Wars, hierzulande wird an einer schlagkräftigen Bundeswehr von mehreren Hunderttausend Leuten – Mann und Frau – gefeilt, über die Wehrpflicht, eine Reservearmee, Aufmarschpläne, eine kriegstüchtige, kritische Infrastruktur, Bunker für zigtausend Leute, Überlebensvorräte, Drohnen, KI, Waffen und Fähigkeiten, die man sich nur in Science-Fiction-Filmen vorstellen kann. Chemische, akustische, biologische, Psycho-Waffen. Schon jetzt ist Deutschland weltweit viertgrößter Standort bei den Rüstungsausgaben – das Land, das zwei Weltkriege zu verantworten hat. Ruft jemand, wir müssen mehr rüsten, wird sich lobend geäußert – ruft ein Bürger wie Yogeshwar zum Gegenteil auf, heulen die Sirenen … Wie viele Kompetenzen, Ideen, Konzepte, Lösungen finden sich in einem Militärjet? Wie viele in Panzern usw.? Nicht annähernd so engagiert wird im Zivilleben agiert und finanziert, behaupte ich. Nur ein Beispiel: Das Internet, mittlerweile ein unersetzlich scheinendes Werkzeug in unserer Zivilgesellschaft, ist zunächst ganz und gar nicht entwickelt worden, um es den einfachen Menschen zur Verfügung zu stellen. Die Entwicklung nahm ihren Anfang im Bereich der Militarisierung, beim US-Militär wurde ein ARPA-net entwickelt (1969). (Quelle: Demokratiewerkstatt [https://www.demokratiewebstatt.at/thema/thema-being-digital-und-neue-medien/von-neuen-und-alten-medien/wer-erfand-das-internet]) Wer also Yogeshwars Worte belächelt und angreift, tut das, weil er den friedlichen Menschen nicht zugesteht, was er den kriegerischen gewährt. Noch mal: Wie wäre es, einfach mal die Perspektive umzudrehen und sich das Denken, Handeln und Fantasieren für das Militärische stattdessen für die Zivilgesellschaft vorzustellen? Titelbild: Markus Wissmann/shutterstock.com
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