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3572 episodiosÖffentliche Gebäude sollen zu Bunkern umgebaut und dazu eine spezielle Handy-App entwickelt werden. Die Deutschen sollen sich private Schutzräume und Überlebenspakete zulegen. Die zivile und psychologische Aufrüstung für die „kriegsbereite“ Bevölkerung ist in vollem Gange. Von Leo Ensel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Es begann Mitte Februar 2023 mit ausgelassenen Hüpfspielchen in der Unterwelt von Helsinki. Annalena Baerbock geriet ins Schwärmen [https://www.merkur.de/politik/baerbock-erdogan-bunker-skandinavien-finnland-schweden-nato-norderweiterung-92087642.html] über die „Stadt unter der Stadt“: „In Sachen Zivilschutz ist Finnland Vorreiter in Europa und Vorbild für uns alle“, tönte sie begeistert. Die unterirdischen Anlagen böten 900.000 Menschen Platz – mehr, als die Stadt Einwohner hat. Mit ihrem untrüglichen Gespür für Trends erwies sich die deutsche Außenministerin wieder mal als Avantgardistin: Spätestens seit dem unmissverständlichen Postulat von Verteidigungsminister Pistorius, Deutschland müsse kriegstüchtig [https://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/pistorius-wir-muessen-kriegstuechtig-werden-berlin-direkt-100.html] werden, und dem „Operationsplan Deutschland [https://www.emma.de/artikel/operations-plan-deutschland-341027]“ wird hierzulande wieder laut für den – öffentlichen und privaten – Bunkerbau getrommelt. Handy-App zum nächsten Bunker Und nicht nur getrommelt: Wie die Onlineplattform Telepolis kürzlich berichtete [https://www.telepolis.de/features/Bunker-Schutzplan-fuer-den-Ernstfall-Schon-im-Kalten-Krieg-zu-wenig-Plaetze-10175417.html], erarbeitet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gerade einen deutschlandweiten Bunkerschutzplan und prüft, welche öffentlichen Gebäude – U-Bahnhöfe, Behördengebäude etc. – im Bedarfsfalle zu Schutzräumen umgebaut werden können. „Außerdem soll eine spezielle Handy-App entwickelt werden, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Entfernung zum nächsten Bunker ermitteln können. Darüber hinaus wolle das BBK die Bevölkerung ermuntern, selbst Schutzräume einzurichten. Keller könnten demnach ebenso geeignet sein wie Garagen.“ Vor ein paar Tagen legte BBK-Vizepräsident René Funk noch einen drauf: Er ermahnte [https://www.spiegel.de/panorama/bundesamt-fuer-bevoelkerungsschutz-menschen-in-deutschland-sollen-sich-auf-notlagen-vorbereiten-a-e163da86-1a9f-42d2-907c-7b3bc442d406] die Menschen in Deutschland, sich grundsätzlich auf Notlagen vorzubereiten. „Jeder deutsche Haushalt“, so Funk, „sollte so gerüstet sein, dass er sich drei Tage lang selbstständig versorgen kann.“ Neben stromunabhängigen Lichtquellen – Kerzen, Streichhölzer und batteriebetriebenen Lampen – empfahl Funk einen Vorrat von 1,5 Litern Wasser pro Tag und Person, „auch für die persönliche Hygiene“, sowie Lebensmittel für 72 Stunden. „Das können Konserven von Lebensmitteln sein, die nicht gekocht werden müssen, Nüsse, Kekse oder Salzstangen.“ Außerdem hilfreich: „Ein batterie- oder kurbelbetriebenes Radio, um sich weiter informieren zu können.“ „Ihr Vorsorgepaket“ Wer den ersten Kalten Krieg noch bewusst erlebt hat, der erlebt einen Flashback um mehr als vier Jahrzehnte. Damals veröffentlichte der Bundesverband für den Selbstschutz eine Broschüre auf Hochglanzpapier „Ihr Vorsorgepaket“. Auf 50 Seiten wurde hier ausführlich über Verhaltensregeln bei Katastrophen, Vorsorgemaßnahmen für den Energieausfall, Lebensmittel-Notgepäck und Dokumentensicherung sowie über das selbstschutzgemäße Haus informiert. Folgende Tips wurden unter anderem auch für den Atomkriegsfall gegeben: Bei Wasserknappheit nur Einweggeschirr und -besteck benutzen; Spielzeug für Kinder, Unterhaltungsspiele und Lektüre im ‚Hausschutzraum‘ bereithalten; nur Lebensmittel bevorraten, die den Essgewohnheiten der Familie entsprechen, sowie Schmierseife zum Abwaschen unbedeckter Hautstellen beim Einsatz chemischer Kampfstoffe verwenden. Unwillkürlich fragt man sich bei der erneuten Lektüre, ob nicht bald eine aktualisierte Version dieser Broschüre wieder auf den Markt kommen wird – falls das nicht bereits längst Realität [https://www.bbk.bund.de/DE/Warnung-Vorsorge/Vorsorge/vorsorge_node.html] ist! „Wir werden euch nicht helfen können!“ Annalena Baerbock jedenfalls, die ja einen Amtseid abgelegt hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, schlug mit ihrer fröhlichen Bunkerempfehlung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Nicht nur kurbelte die junge grüne Außenministerin die deutsche Selbstschutzindustrie gewaltig an, sie lieferte zudem das passende Gegenstück zu ihrer Forderung, deutsche Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine zu liefern sowie zu der von ihrem Kanzler angekündigten „Nachrüstung 2.0“. Immerhin wäre auf diese Weise die deutsche Bevölkerung ja gegen die von ihrer Regierung provozierten russischen Präventiv- oder Gegenschläge geschützt! Oder etwa nicht? Was auch nur ein „atomarer Schlagabtausch“ bereits anrichten könnte, das hat gerade Klaus-Dieter Kolenda von der Initiative „Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW) im Anschluss an den Mitherausgeber des „Bulletin of the Atomic Scientists“ – es stellte im Januar vergangenen Jahres die sogenannte „Weltuntergangsuhr [https://www.nachdenkseiten.de/?p=93115]“ auf 90 Sekunden vor zwölf – Francois Diaz-Maurin ausgeführt [https://www.nachdenkseiten.de/?p=126192]. Wer den Mut aufbringt hinzuschauen, der sollte sich diesen Text sehr gründlich durchlesen! Und was dies für die Menschen in sogenannten Schutzbunkern bedeuten würde, das beschrieb der amerikanische Physiker Kewin Lewis bereits Anfang der Achtziger Jahre: > „Wenn Massenfeuer ausbrechen, würde das Problem, im Bunker Überlebensbedingungen aufrechtzuerhalten, unlösbar erschwert. Außerdem wären Kohlenmonoxid und andere toxische Gase, die das Feuer produziert, für die Bunkerinsassen tödlich, es sei denn, es gäbe ein unabhängiges Sauerstoffreservoir. Die Erwärmung der Bunker durch Flammen und heißen Bauschutt, der noch Tage nach dem Löschen des Feuers gefährlich heiß bleiben kann, würde die Bunkerinsassen bei isolierter Atmosphäre gefährden. In Dresden tötete 1945 ein Feuersturm, der durch chemische Bomben entzündet worden war, Zehntausende Menschen. Die Bedrohung durch giftige Gase und Hitze wurde nur von denen überlebt, die die Bunker vor Ausbruch des Feuers verlassen hatten.“ An dieser Stelle drängt sich zwingend die Frage auf: Hat Frau Baerbock in der Unterwelt von Helsinki sich eigentlich mal die Mühe gemacht, sich vorzustellen, wie 900.000 Menschen unter diesen Bedingungen auch nur eine Stunde gemeinsam verbringen würden? Und was geschähe, sollten diese Menschen – gegen alle Wahrscheinlichkeit – tatsächlich doch noch einmal die strahlenverseuchte Trümmerwüste ihrer dem Erdboden gleichgemachten Stadt betreten? Ein in den Achtzigerjahren der Bevölkerungsmehrheit sehr bekannter Satz brachte es auf den Punkt, und er gilt nach wie vor: „Die Überlebenden werden die Toten beneiden!“ Die heilsam desillusionierende Konsequenz der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ lautete: „Wir werden Euch nicht helfen können!“ Für eine „Entspannungspolitik 2.0“ Die heute wieder offensiv angepriesenen Formen des „Selbstschutzes“ – von der Bunker-App bis zum kurbelbetriebenen Radio im privaten Schutzraum – laufen also auf nichts anderes als psychologische Kriegsvorbereitung hinaus. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb dazu in einer ähnlichen Situation 1982 (Annalena Baerbock war gerade zwei Jahre auf der Welt): „Es ist ein langsamer Prozess der Gewöhnung, eine tägliche Strahlendosis ins Gehirn, damit wir uns an das Undenkbare gewöhnen und seiner Vorbereitung willig zustimmen.“ Wirkliche Abhilfe, wirklichen Schutz schaffen kann allein die Wiederaufnahme der Diplomatie, die Rekonstruktion des Vertrauens und substanzielle Abrüstung, kurz: eine „Entspannungspolitik 2.0“ mit dem Ziel einer neuen globalen Sicherheitsstruktur nach dem Prinzip der „Gemeinsamen Sicherheit“. Und zwar nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich! Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge [https://globalbridge.ch/die-ueberlebenden-werden-die-toten-beneiden-ueber-den-verordneten-neuen-bunkerbauboom/]. Titelbild: Fotokon/shutterstock.com
Der Tayoune-Kreisverkehr liegt am südlichen Rand der offiziellen Stadtgrenze von Beirut. Doch das Beiruter Leben reicht weit darüber hinaus. Südöstlich des Kreisverkehrs liegt Ain el Rommaneh, südlich schließt sich Chiyah an und geht im Westen in den Stadtteil Ghobeiri über, der im Westen an einen großen Friedhof grenzt. Der offizielle Stadtplan von Beirut endet hier, nicht aber Beirut, das sich sehr viel weiter in die südlichen Vororte erstreckt. Von Karin Leukefeld aus Beirut. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Selbst das Zentrum von Beirut – Hamra – blieb von den Angriffen Israels im letzten Krieg nicht verschont, erzählt Maha, Y., die im Familienappartement in Kantari Zuflucht gesucht hatte. Das Viertel liegt nicht weit von der Ruine des Intercontinental Hotels entfernt, das im Bürgerkrieg (1975-1990) zerschossen wurde. Frau Maha leitet den Kindergarten Ghassan Kanafani im Palästinenserlager Mar Elias in Beirut, den die Autorin in den vergangenen Jahren häufig besucht hat. Neben ihrer Wohnung in Kantari sei eine Schule, in der Hunderte Inlandsvertriebene untergebracht worden seien, erinnert sie sich. „Die schmale Straße war immer belebt, Tag und Nacht waren die Menschen auf den Beinen, niemand kam zur Ruhe.“ Sie berichtet von Angriffen unweit des Parlaments, in Zokak el Blat, in Bachoura und in Basta. Am Rande des Stadtteils Mar Elias seien Häuser zerstört worden und auch in Hamra, das am nordöstlichen Rand von Beirut liegt und von der Corniche, der Küstenpromenade, umgeben ist, sei eine Rakete eingeschlagen. „As Safir wurde getroffen“, berichtet sie. As Safir ist eine der ältesten Zeitungen im Libanon, die vor wenigen Jahren das Erscheinen einstellen musste. [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-02.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-02.jpg Foto: Karin Leukefeld – Jedes Haus, das zerstört wird, hat im Umkreis bis zu acht weitere Häuser, die durch die Explosion beschädigt oder unbewohnbar gemacht werden. Die Kindergärten in den Lagern seien weitgehend verschont geblieben, sagt Frau Maha. Lediglich im Lager Rashidiyeh im Süden des Landes, bei Tyros, habe es Schäden am Dach und an den Fenstern gegeben. Sie zeigt Fotos auf ihrem Handy. Teile der Decke sind heruntergefallen, die Fenster bestehen aus dicken Glasbausteinen und weisen starke Risse auf. „Niemand wurde verletzt, alle waren evakuiert worden“, sagt Frau Maha. Doch nun sei es schwierig, die Fenster zu ersetzen. Glas muss importiert werden und der Preis für Glas hat sich – auch wegen der enormen Nachfrage – mit dem Tag der Waffenruhe vervierfacht. Die stabilen Glasbausteine seien derzeit gar nicht zu haben. Vom Hof ertönt lautes Rufen und Lachen der Kinder im Mar-Elias-Kindergarten Kanafani. „Vor drei Tagen, am vergangenen Montag, haben wir den Kindergarten wieder geöffnet. Die Kinder waren außer sich vor Freude, wieder hier sein zu können,“ sagt Frau Maha und auch ihr ist die Freude anzusehen. Nein, nicht alle Kinder seien zurückgekommen, räumt sie auf Nachfrage ein: „Die syrischen Kinder kamen nicht zurück, sie sind jetzt mit ihren Familien nach Syrien zurückgegangen.“ Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Mal sehen, ob sie wieder zurückkommen.“ „Einfach klicken und es schießt“ Am nächsten Tag sieht die Autorin selbst bei dem Gebäude der Zeitung As Safir vorbei, das von einer israelischen Rakete getroffen worden sein soll. Heil und unversehrt steht es in der schmalen Sackgasse. Ein Friseur kommt aus seinem Laden und berichtet, dass die israelische Rakete nicht bei As Safir, sondern wenige hundert Meter weiter Richtung Hamra-Straße einschlagen sei. Er sucht auf seinem Handy nach einem Videoclip, der den Angriff dokumentiert. Dann läuft er mit der Autorin vor zur Straße und zeigt ihr das Gebäude, das als „Swiss Bank“ bekannt ist. Es liegt an einer Kreuzung von schmalen Straßen, gegenüber einer Tankstelle. „Nichts ist hier“, sagt der Friseur. „Nur Wohn- und Geschäftshäuser, das weiß jeder.“ Israel seien offenbar die Ziele ausgegangen, die Angriffe hätten nur die Bevölkerung einschüchtern sollen. Auf dem Videoclip ist ein brennendes Geschoss zu sehen, das aus der Straße kommt, die an der Tankstelle vorbeiführt. Kaum eine Sekunde dauert es, dann schlägt es direkt in dem Eingangsbereich des Gebäudes ein. Abgeschossen wurde die Rakete offenbar von einer Drohne, die sich durch die engen Straßen bewegt haben muss, bis sie das eingegebene Ziel auf dem Monitor fand und feuerte. „Es ist wie ein Spiel“, sagte der Verkäufer der spanischen Firma Everest in einem Interview mit der Autorin vor einigen Jahren auf der IDEX, der größten Waffenmesse der Welt, die alle zwei Jahre in Abu Dhabi stattfindet. Everest sei die einzige Firma auf der Messe, die diese leichten Drohnen anböten. Anders als Beobachtungsdrohnen seien ihre Drohnen „Kampfdrohen“, also bewaffnet, je nachdem, wie die Kunden es haben wollten. Die Drohnen seien für den urbanen Kampf geeignet, den Krieg in Städten, den es in Zukunft immer mehr geben werde. „Leider“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Doch das sei ihr Geschäftsmodell. Die Drohnen seien sehr leicht zu handhaben, es sei wie ein Spiel: „Einfach klicken und es schießt.“ Interview zu sehen in der Dokumentation „Was von Kriegen übrig bleibt“: Tayoune-Kreisverkehr Unweit des Tayoune-Kreisverkehrs liegt das Geschäft von Walid Shourbaji, einem Import-Export-Händler für Süßwarenrohstoffe. Der Laden liegt im Parterre eines Appartement-Hochhauses, rechts und links sind weitere Geschäfte. Die Nachbarhäuser, in deren oberen Stockwerken ebenfalls Wohnungen waren, sind von israelischen Raketen zu großen Trümmerhaufen zerbombt worden. Sie sei nicht da gewesen, als das passiert sei, sagt Safa Shourbaji, die Tochter des Firmengründers. Sie sitzt hinter einem großen Schreibtisch und gibt bereitwillig Auskunft, Fotos möchte sie nicht. Es habe Warnungen gegeben, daher hätten sie die Gegend verlassen, sagt Frau Shourbaji. Sie wisse nicht, warum die Häuser bombardiert worden seien. „Wir haben hier mit niemandem was zu tun. Wir kommen am Morgen und gehen abends, wir sind nur zur Arbeit hier“, fährt sie fort. Als ihr Vater die Firma vor 40 Jahren gegründet habe, sei die Gegend kaum bebaut gewesen. Die neu entstandenen Gebiete südlich der Stadtgrenze kenne sie nicht. „Ehrlich gesagt, ich habe mich nie getraut, dorthin zu gehen“, sagt sie, ohne das weiter auszuführen. Der Nachfrage, ob sie Angst vor den Gebieten habe, weicht sie aus und wiederholt: „Wir sprechen mit niemandem, wir haben nur unser Geschäft hier.“ Shourbaji importiert Rohstoffe für Süßwaren, für Bäckereien und Konditoreien, sagt sie, aus Deutschland, Frankreich, Brasilien. Durch die Explosionen sei die Fensterfront zerstört worden. „Wir haben gleich nach der ersten Explosion die Glasfront erneuert, dann kam der zweite Angriff“, sagt sie und lacht bitter. „Das war natürlich teuer, dass wir gleich wieder neue Scheiben einbauen mussten.“ Niemand sei zu Schaden gekommen, das sei das Wichtigste. Als Kind habe sie den Bürgerkrieg erlebt, damals sei hier die „Grüne Linie“ verlaufen, eine Art Frontlinie zwischen den verfeindeten Seiten. „Ich war ein Kind und alle Lehrer in unserer Schule waren Franzosen. Wir haben Französisch gelernt und gesprochen, alles ist heute anders.“ Der Bürgerkrieg habe sie traumatisiert und alles, was sie wisse, sei, dass „dieses Land mir nie Stabilität gegeben hat.“ Sie empfinde nichts für das Land und stelle sich immer wieder die Frage, ob sie Libanon nicht verlassen sollten. Der Sohn sei in Dubai, sicher werde sie auch die Tochter eines Tages in die Ferne zum Studium schicken. „Alles, was ich will, ist ein friedliches Leben für mich und meine Kinder, für meine Familie.“ Allem anderen gegenüber sei sie wie betäubt. „Vielleicht glauben Sie mir nicht, ich selber verstehe es auch nicht und finde es merkwürdig, doch so ist das.“ Der Geschäftsbetrieb habe unter dem Krieg gelitten. Die Nachfrage sei zurückgegangen, aber „wir können weiterarbeiten und müssen niemanden entlassen. Unser Betrieb ist bekannt, im In- und Ausland, man schätzt uns, weil wir klar und genau arbeiten. Die Kunden wollen zuverlässige Geschäftspartner und das sind wir.“ Ain el Rommaneh Nur wenige hundert Meter weiter steht an der Straße Richtung Chiyah ein Karren am Straßenrand, der über und über mit Artischocken und Avocados beladen ist. Hinter dem Karren erhebt sich ein mehrstöckiges Bürogebäude, dessen oberste Etage von einem israelischen Raketenangriff zerstört wurde. Neben dem Karren steht ein Mann mit Schirmmütze und knallrotem Pulli. Er heiße Ali, stellt er sich vor, als die Autorin ihn bittet, ein Foto machen zu dürfen. „Ich habe acht Jahre in Deutschland gewohnt und in einem Restaurant gearbeitet“, fügt er dann in Deutsch hinzu und strahlt in die Kamera. Als die Rakete in dem Geschäftshaus eingeschlagen sei, sei er nicht dagewesen: „Die Menschen hier wurden evakuiert, alles war leer.“ [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-03.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-03.jpg Foto: Karin Leukefeld – Der Straßenhänder Ali hat – wie viele Libanesen – auch in Deutschland gearbeitet. Im Hintergrund ein zerstörtes Geschäftshaus. Östlich der Straße liegt Ain el Rommaneh. Das zerstörte Dach des Geschäftsgebäudes ist wie ein Kartenhaus zusammengefallen, ein Teil der Trümmer ragt über die Außenmauer des Gebäudes auf die Straße hinaus. Bizarr erhebt sich darüber ein Aufbau mit Sonnenkollektoren und Wassertanks unbeschädigt in den Himmel. Vor dem Gebäude spricht eine Gruppe Techniker mit den Ladeninhabern. Es werden Namen und Daten aufgenommen, der ungefähre Schaden notiert und welche Zerstörungen es im Einzelnen gibt. Keiner der Läden im Parterre hat noch Fenster. Die Besitzer haben einfach die Gitter heruntergelassen, die normalerweise nachts die Läden schützen sollen. Einige der zerstörten Fronten sind mit gelbem Band abgesperrt. Der Schönheitssalon von Bilal Harb ist in den leerstehenden Nebenraum umgezogen. Wo einst Glasfenster waren, ist Plastikplane gespannt. [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-01.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-01.jpg Foto: Karin Leukefeld – Ende eines Familienprojekts. Der Innenraum des Café Kayan ist mit Glassplittern übersät. Ein Mann tritt aus einem der Läden und fragt Hamza, den Begleiter der Autorin, auf Arabisch: „Was will sie?“ Hamza erklärt und der Mann fragt, ob sie einen Ausweis habe. Genau studiert er dann das Schreiben des Informationsministeriums und sagt schließlich in bestem Englisch: „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen etwas“. Er geht voraus um die Hausecke und weist auf ein Schild. „Café Kayan“ ist darauf zu lesen. Die Außenanlage ist teilweise zerstört. Der Zaun steht zusammengefaltet und mit einer Lichterkette geschmückt gegen einen Pfahl gelehnt. Das Gitter vor dem Café ist heruntergelassen, das Innere des Cafés ist mit Glassplittern übersät. Die Teeküche, die Tische und Stühle, die liebevoll gefertigte Dekoration, alles ist mit Staub, Glassplittern und Steinen bedeckt. Der Mann, der sich als Osama Hassan vorstellt, sagt, er habe das Café einen Monat vor dem Krieg eröffnet. Seine Töchter hätten ihm geholfen, es sei wie ein „Familienprojekt“ gewesen. Er habe das Café in der Nähe der Töchter eröffnet, um nah bei seinen Enkelkindern zu sein. Er selber sei als Kind in England aufgewachsen und habe später 30 Jahre in den Golfstaaten gearbeitet. Mit dem Café habe er sich zur Ruhe setzen wollen, nachdem er sein ganzes Leben gearbeitet habe, damit es der Familie gut gehe. Nun habe er sein Auto verkaufen müssen, um die Familie zu unterstützen, die in den Bergen eine Unterkunft gefunden habe. Er habe Unterstützung beantragt, um das Café zu reparieren, aber auch ihre Wohnung in Dakhiye in den südlichen Vororten sei zerstört. „Mein Vater kommt aus Khiam im Südlibanon, unser Elternhaus ist zerstört. Meine Mutter ist aus Burj Brajneh, das auch schwer bombardiert wurde.“ [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-04.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241220_Beirut-04.jpg Foto: Karin Leukefeld – Der Auszug zeigt das zerstörte Dach eines Geschäftshauses in Ain el Rommaneh. Die Hisbollah hat der Bevölkerung Ausgleichszahlungen für ihre Verluste zugesagt. Auch Osama Hassan hat sich dafür registrieren lassen. Wer eine Mietwohnung in Beirut hatte, die zerstört wurde, erhält 6.000 US-Dollar, was etwa einer Jahresmiete in Beirut entspricht. Dazu gibt es 8.000 US-Dollar für die Einrichtung. Wer auf dem Land in einer Mietwohnung lebte, erhält 4.000 US-Dollar und ebenfalls 8.000 USD für Möbel. Wer ein eigenes Haus besitzt, das zerstört oder beschädigt wurde, muss die Rechnungen für Reparaturarbeiten vorlegen, die ihm dann ersetzt werden. Osama Hassan wirkt bedrückt. In einem Krieg müsse unterschieden werden zwischen Zivilisten und bewaffneten Soldaten. Hier lebten nur Zivilisten, hier gäbe es weder Waffendepots noch Kommandozentralen. Der Krieg sei ein Geschäft für die Waffenhändler. „Wir sterben und sie investieren mit ihrem Geld in Land und Grundbesitz.“ Für ihn sei die Lage hoffnungslos, sagt er: „Alle Türen sind geschlossen, alles ist tot.“ Es sei, als würden sie nicht als Menschen betrachtet, die ein Recht auf Leben hätten. „Wir wollen in Ruhe leben, unsere Kinder erziehen und ihnen eine gute Ausbildung geben, das ist alles“, sagt er. Die Libanesen lebten seit Jahren ohne Präsident und ohne eine Regierung, aber sie lebten und arbeiteten. „Wir freuen uns über das Leben, wir reisen, wir investieren, wir machen Geschäfte. Immer denken wir an die Zukunft, an unsere Kinder, die es einmal besser haben sollen. Wir lieben unser Land.“ Alle Bilder: © Karin Leukefeld
„Strack-Zimmermann über Putins Pläne: Bereitet einen Angriff auf die NATO vor“ [https://www.stern.de/politik/strack-zimmermann-ueber-putin--bereitet-einen-angriff-auf-die-nato-vor-35321890.html] – so lautet eine aktuelle Überschrift einer dpa-Meldung, die auf Stern.de veröffentlicht ist. Und so ähnlich lauten die Überschriften zahlreicher Artikel, die die Aussage der FDP-Politikerin aufgreifen. Das Problem: Substanzielles zur Untermauerung dieser schier ungeheuerlichen Aussage findet sich nicht. Und so entsteht: furchtbare Propaganda. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagt, Putin bereite einen Angriff auf die NATO vor. Und Medien springen auf die Aussage, als handelte es sich dabei um eine exklusive Nachricht. Doch damit diese Aussage tatsächlich zu einer Nachricht werden könnte, müsste sie durch Substanzielles untermauert werden. Das fehlt allerdings. Darauf weist die dpa auch richtigerweise hin. So heißt es, Strack-Zimmermann „glaubt“ an einen russischen Angriff: > „Ihren Angaben nach bereite das russische Staatsoberhaupt einen Angriff auf die NATO vor, schreibt die dpa und zitiert Strack-Zimmermann: „Wir wissen, dass Putin sich vorbereitet darauf, möglicherweise Ende der 20er – wobei so eine Zahl immer gegriffen ist – auch einen Nato-Staat anzugreifen”. Schließlich merkt die Nachrichtenagentur an: „Woher sie diese Informationen hat, sagte sie nicht.“ Gut, dass die Redaktion das klar hervorhebt. Nur: Wenn die Basis für die Aussage Strack-Zimmermanns im Nebel bleibt, dann machen sich Medien, die trotzdem darüber berichten, der Propaganda schuldig. Denn was soll eine derartige Aussage sonst sein als eine fürchterliche Stimmungsmache gegen Russland, wenn keine harten Beweise vorgelegt werden? Zumal: Die Aussage an sich ist nicht neu. Seit geraumer Zeit ist immer wieder – in ebensolcher Vagheit – zu hören, dass Russland einen NATO-Staat angreifen könnte. Was ist also an der Aussage Strack-Zimmermanns so besonders, dass die dpa sie ohne tragfähiges Fundament als Nachricht verkauft und sie so Medien Land auf Land veröffentlichen? Bei Lichte betrachtet: nichts. Trotz des Ungeheuerlichen, das in der Aussage mitschwingt, hat sie für einen seriösen Journalismus keinerlei nachrichtlichen Wert. Und zwar auch deshalb nicht, weil Strack-Zimmermann und ihre Positionierung in Bezug auf Russland bekannt sind. Sie kann als Hardlinerin eingeordnet werden. Die Aussage, dass Russland plane, einen NATO-Staat anzugreifen, passt genau in das Konzept jener Kreise, die sich für die Politik der harten Hand gegenüber Russland aussprechen. Und sie passt auch genau in das Konzept jener, die eine immer weitere Aufrüstung der NATO befürworten. Anders gesagt: Wenn Journalisten überhaupt eine derartige Aussage aufgreifen wollten, müsste das erfolgen, was Medien doch vorgeben, so gerne zu machen: Einordnung! Wo ist der begleitende kritische Kommentar, der Strack-Zimmermann und ihre Haltung zu Russland und zum Krieg in der Ukraine einordnet? Wo sind kritische Stimmen von Experten, die eine andere Sicht vertreten? Fehlanzeige! Am Ende bleibt beim Mediennutzer hängen: Russland wird bald einen NATO-Staat angreifen. Das ist eine furchtbare Propaganda und journalistisch nicht zu rechtfertigen. Anmerkung der Redaktion: Nachfolgend einige Schlagzeilen zu der „Nachricht“: t-online: Strack-Zimmermann warnt vor baldigem Putin-Angriff Tagesspiegel: „Wir wissen, dass Putin sich vorbereitet“: Strack-Zimmermann warnt vor russischem Angriff auf die Nato Welt: Strack-Zimmermann warnt vor Putin-Angriff auf Nato MSN: Strack-Zimmermann warnt vor Putin-Angriff auf Nato Yahoo Nachrichten: Strack-Zimmermann warnt vor Putin-Angriff und fordert höheren Wehretat (von der Nachrichtenagentur AFP) Titelbild: Juergen Nowak/shutterstock.com
Ein juristisches Gutachten betont eine staatliche Schutzpflicht gegenüber denen, die bei der Digitalisierung nicht mitmachen können oder wollen. In der Realität werden die Betroffenen immer mehr abgehängt und ausgegrenzt. Der öffentliche Sektor steht dem privaten dabei in nichts nach. Alles, was Kosten spart oder Profite verspricht, könnte es bald nur noch online geben. Dem muss der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben – in der Verfassung. Von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Bloß die Idee eines Rechts oder gar Grundrechts auf ein analoges Leben wäre vor 30 Jahren gewiss müde belächelt worden. Dass man damals ein weit überwiegend analoges Leben führte, dürfte kaum einem bewusst gewesen sein, geschweige denn, dass dieses irgendwann einmal gegen ein digitales Leben behauptet werden müsste. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, war vor allem Spielwiese für Nerds, und nur die größten Enthusiasten sahen die technischen, ökonomischen und kulturellen Umbrüche kommen, die heute so bestimmend, ja beherrschend sind in unserer Welt der Bits und Bytes. Wobei „beherrschend“ sich längst im buchstäblichen Sinne versteht: Die Digitalisierung übt Macht über uns aus beziehungsweise tun dies die politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die sich ihrer zur Sicherung ihrer Interessen bedienen. Aber die wenigsten ahnen das oder stören sich daran. Die allermeisten glauben, nichts als Vorteile für sich zu verbuchen: die unbegrenzten Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen, über alle physikalischen Grenzen hinweg zu kommunizieren, allzeit zu konsumieren und ganz bequem die tollsten Dienstleistungen zu beanspruchen. Die Kehrseiten nehmen sie nicht wahr oder sehen darüber hinweg, während sie sich mit ihrem Smartphone freiwillig einer Rundumbeschattung ausliefern, in erster Linie durch kommerzielle Akteure, mithin aber auch staatliche Stellen, Geheimdienste oder Kriminelle. Und sie bemerken nicht, dass andere ausgeschlossen, ins Abseits gedrängt werden. Denn wo eine Mehrheit durch ihr Verhalten neue Standards setzt, bleiben Minderheiten auf der Strecke: Menschen, die bei all dem Neuen nicht mitmachen können oder wollen, und solche, die zum Mitmachen genötigt sind. Mensch ist kein Objekt Für sie alle brauche es ein „Recht auf analoge Teilhabe“ [https://digitalcourage.de/blog/2024/rechtsgutachten-digitalzwang], findet der Verein Digitalcourage. Aber nicht irgendeines: Um echte Wirkung zu entfalten, gehöre die Bestimmung ins Grundgesetz, als ein neues Grundrecht neben andere wie das auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder das auf ein menschenwürdiges Leben. Um Würde geht es auch bei der Digitalisierung. In der Vorwoche stellte die Initiative ein Rechtsgutachten [https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/sites/default/files/gut_2024_digitalzwang3.pdf] des Netzwerks Datenschutzexpertise vor. Erfolge eine „totale Digitalisierung des Alltags, so wird die Schwelle des Würdeverstoßes überschritten“, heißt es in der von Karin Schuler und Thilo Weichert verfassten Analyse, und weiter: „Der Mensch darf nicht zum ausschließlichen Objekt der Technik werden.“ Laut Statistischem Bundesamt [https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_15_p002.html] hatten 2022 knapp sechs Prozent der zwischen 16- und 74-jährigen Bürger in Deutschland noch nie das Internet genutzt. Das sind nahezu 3,4 Millionen Menschen. Die größten Anteile fallen auf die über 65-Jährigen mit 17 Prozent Netzabstinenz, bei den zwischen 45- bis 64-Jährigen sind es fünf Prozent und selbst von den unter 45-Jährigen sind es immerhin zwei Prozent. Oft sind die Betroffenen, gerade die älteren, schlicht überfordert von den technischen Herausforderungen oder wegen Krankheit oder Behinderung eingeschränkt. Andere hingegen können sich die nötigen Geräte und Anschlüsse finanziell nicht leisten. Wieder andere meiden die neuen Techniken aus Sorge um ihre Daten zwecks Bewahrung ihrer informationellen Selbstbestimmung. Zu besagten über drei Millionen Offlinern kommt obendrein eine nicht bezifferte Gruppe an Menschen, die zwar einen PC, aber kein Smartphone haben, sowie diejenigen, die die Digitalisierungswelle nur widerwillig mitreiten, weil sie andernfalls bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllen können. Kurzum: Eine sehr beträchtliche Kohorte der Bevölkerung ist in ihren Freiheiten beschränkt, wenn offline so gut wie nichts mehr läuft. Online oder nichts Und genau dahin geht der Trend. Die Studie liefert eine ganze Reihe an Beispielen: Inzwischen setzen fast alle Banken auf digitale Kontoverwaltung, dünnen ihr Filialnetz aus und verlangen Gebühren für eine Kontoführung auf Papier. Die Terminvereinbarung beim Arzt erfolgt immer häufiger über Vermittlungsplattformen (Doctolib). Eintrittskarten für Museen, Schwimmbäder oder Freizeitparks lassen sich vielfach nur noch elektronisch erwerben. Es gibt Strom-, Gas-, Wasser- und IT-Anbieter, die inzwischen vollständig auf Onlinekommunikation umgestellt haben und die Entgegennahme von Mitteilungen per Post oder Telefon verweigern. Bei Kultur- und Sportveranstaltungen lässt sich der Erwerb von Eintrittsberechtigungen zum Teil nur noch per Smartphone nachweisen. Digitalzwang entsteht auch dort, wo Einkaufsmöglichkeiten vor Ort so beschränkt sind, dass die Befriedigung von Grundbedürfnissen nur mehr durch Onlineshopping möglich ist. Mit schlechtem Beispiel voran geht ausgerechnet die Deutsche Bahn. Ein Bahnticket ohne PC oder Smartphone zu erwerben, ist heute nur mit Zumutungen zu bewältigen. Schalter im Bahnhof sind rar, das Personal ist wegrationalisiert und die Fahrscheinautomaten bringen Kunden zum Verzweifeln. Die Bahncard gibt es neuerdings nicht mehr als „Card“. Wer kein Smartphone hat, muss im Zug einen papiernen Fresszettel vorzeigen. Auch im hoheitlichen Bereich brechen traditionelle, analoge Strukturen weg. So mussten 2,8 Millionen Studierende und Fachschüler 2023 zur Beantragung einer Energiepreispauschale von 200 Euro eine „BundID“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=94228] einrichten, ein digitales Nutzerkonto, worüber sich nach dem Leitbild „E-Government“ Verwaltungsleistungen unterschiedlichster Behörden online beantragen lassen. Die bayerische Künstlerförderung ist nur digital beantragbar. In Baden-Württemberg sind öffentliche Bekanntmachungen, etwa in Form eines Aushangs, nicht mehr verpflichtend. Hotline und Servicewüste Die Aufzählung gibt auch einen Eindruck davon, dass die Digitalisierung längst nicht immer die Verheißungen einlöst, mit denen Politik und Wirtschaft sie so gerne bewerben. Mit einem Klick einzukaufen, ist komfortabel und oft billiger als im stationären Einzelhandel. Bei der Mehrzahl an Dienstleistungen, vor allem denen zur Daseinsvorsorge – Energie, Post, Telekommunikation, Gesundheit, öffentliche Verwaltung –, ist Digitalisierung dagegen ein Synonym für Servicewüste. Die neuen Techniken dienen vor allem der Kosteneinsparung, dem Abbau der Vorortversorgung und -betreuung und der Streichung von Arbeitsplätzen. Wen das Bürgeramt oder der Kinderarzt in seinen Hotlines hängen lässt, kann nach zehn Minuten ein Liedchen davon summen. Was Mensch bei all dem vor allem verlernt, ist der direkte, verbale Austausch mit anderen, also das Zwischenmenschliche oder anders: seine Menschlichkeit. So schwarz will man bei Digitalcourage nicht sehen. Vielmehr erkennen die Gutachter an, dass Digitalisierung durchaus zu größerer Bürgernähe und Wirtschaftlichkeit führen könne. Aber es gelte, eine Balance herzustellen zwischen den Interessen derer, die profitieren, und den Belangen jener, die nicht daran teilhaben können oder wollen. Tatsächlich bestehen bereits gesetzliche Vorschriften, die regeln, wann hoheitliche Aufgaben rein digital erfüllt werden können und wann es einer analogen Alternative bedarf. So sind Ausnahmen von der elektronischen Übermittlung der Einkommensteuererklärung festgelegt. Beim Parken ohne Barzahlung darf auf die Parkscheibe zurückgreifen, wer nicht über elektronische Zahlungsmittel verfügt. Dies seien aber nur Einzelregelungen für besondere Fälle, und insbesondere für private Dienstleistungen fehlten klare juristische Vorgaben, monieren die Autoren. Frankreich macht‘s vor Hier müsse der Gesetzgeber eingreifen. „Wenn ein Vertragspartner so viel Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, hier für Ausgewogenheit zu sorgen“, und gebe es eine „staatliche Schutzpflicht, eine zumutbare Alternative zu garantieren“. Verwiesen wird auf den Fall Frankreich, wo 2023 ein Gesetz über öffentliche Dienste verabschiedet wurde, das besage: „Niemand darf gezwungen werden, in seinen Beziehungen mit der Verwaltung auf entmaterialisierte Verfahren zurückzugreifen.“ Das bekräftige auch ein Recht, mit Menschen zu interagieren. „Ein sinnvolles Nebeneinander von Digitalisierung und analogen Alternativangeboten ist weder fortschrittshemmend noch unzumutbar“, lautet ein Fazit der Expertise. Konkret zielen die Initiatoren darauf, Artikel 3 des Grundgesetzes, der Benachteiligung und Diskriminierung untersagt, um ein Verbot zu ergänzen, Menschen bei der Grundversorgung zu benachteiligen, wenn sie ein bestimmtes Gerät oder eine digitale Plattform nicht nutzen. Wer die Forderung unterschreiben will, kann dies tun. Digitalcourage hatte schon im Mai anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Verfassung eine entsprechende Petition [https://civi.digitalcourage.de/recht-auf-leben-ohne-digitalzwang] gestartet. Diese richtet sich ausdrücklich auch an solche Bürger, die gerne online unterwegs sind. Denn: „Auch wenn wir selbst gerne die Technik nutzen, sollten wir uns trotzdem dafür einsetzen, dass es stets eine nicht-digitale Alternative gibt.“ Titelbild: Stokkete/shutterstock.com[http://vg06.met.vgwort.de/na/cd717bec34a148918c49db5f8ea8aa27]
Syrien unterliegt seit vielen Jahren umfassenden EU-Sanktionen, unter denen mit Abstand die Zivilbevölkerung am meisten leidet. Die EU-Kommission und auch zahlreiche Außenminister von EU-Staaten haben diese Woche verkündet, dass eine Aufhebung dieser Sanktionen erst erfolgen wird, wenn die neue Übergangsregierung die russischen Luftwaffen- und Marinebasen in Syrien schließt. „Wir wollen die Russen raushaben“, dies sei der erste Schritt, bevor man über die Beendigung der Sanktionen sprechen könne, hieß es dazu aus Brüssel. Die NachDenkSeiten wollten wissen, ob die Bundesregierung diese Forderung unterstützt und wenn ja, wie diese Konditionalisierung sich mit der sonst bei anderen Ländern propagierten „freien Bündniswahl“ verträgt. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Den russischen Einfluss loswerden …“ Am 16. Dezember hatte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas nach dem ersten Treffen der EU-Außenminister unter ihrer Leitung erklärt [https://www.dw.com/de/europäische-union-eu-aussenminister-treffen-syrien-rebellen-russland-georgien/a-71073714], dass man übereingekommen sei, es zur Bedingung für die Aufnahme von Beziehungen „zur neuen syrischen Führung“ zu machen, dass „sie den russischen Einfluss loswird” und die dortigen russischen Militärbasen schließt. Zudem betonte sie: > „Extremismus sowie Russland und der Iran sollten in der Zukunft Syriens keinen Platz haben.“ Ähnlich äußerte sich auch der spanische Außenminister José Manuel Albares. Laut ihm müsse die EU „mit den neuen Behörden“ sprechen, um „rote Flaggen für Syriens Zukunft” aufzuzeigen. Auch solle sichergestellt werden, „dass es keine ausländische Einflussnahme in Syrien gebe“. Eigentlich unnötig zu präzisieren, dass sich diese Aussage nur auf den russischen und iranischen Einfluss bezog. Die Einflussnahme der USA, der Türkei oder selbst der Golfstaaten führt offensichtlich nicht zu Missfallen der EU-Vertreter – von deren eigenen Träumen, entsprechend Einfluss auf Damaskus auszuüben, ganz zu schweigen. Nichtdestotrotz wurde der niederländische Außenminister Caspar Veltkamp noch deutlicher. Wohl wegen der Befürchtung, dass man die etwas allgemeinere Aussage seines spanischen Amtskollegen doch als generelle Verhinderung ausländischer Einflussnahme missverstehen könnte, erklärte dieser unmissverständlich: > „Wir wollen die Russen raushaben. Dies ist ein erster Schritt, bevor man über das Aufheben von Sanktionen gegen Syrien reden kann.“ Die ganze (zynische) Doppelmoral der EU zeigt sich exemplarisch in diesem Agieren. Sanktionen, die vor allem die Zivilbevölkerung treffen und entgegen der offiziellen Darstellung auch den Zugang zu Lebensmitteln und lebensnotwendigen Medikamenten erschweren bis verunmöglichen, werden instrumentalisiert, um Einfluss auf das Bündnisverhalten der neuen syrischen Machthaber zu nehmen. „Freie Bündniswahl“ gilt scheinbar nur, wenn dies westlichen Bündnissen zugutekommt. Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 18. Dezember 2024 Frage Warweg Herr Wagner, Syrien unterliegt ja nach wie vor einem sehr umfassenden Sanktionsregime. Jetzt kam aus der EU-Kommission und auch gestützt von einigen EU-Hauptstädten die Forderung auf, dass man die Aufhebung der Sanktionen dermaßen oder in der Form konditionalisiert, dass man sagt, die würden erst aufgehoben, wenn die russischen Stützpunkte in Tartus und Hmeimim aufgekündigt werden. Da würde mich interessieren: Unterstützt denn die Ministerin diese Forderung, oder spricht sie sich eher dagegen aus? Wagner (AA) Danke, Herr Warweg, für die Frage. Das knüpft ja im Grunde auch an eine Thematik an, nach der hier vorher auch schon gefragt worden ist. Natürlich ist die Frage, wie wir jetzt mit Blick auf Syrien mit den bestehenden Sanktionen umgehen, eine wichtige, die jetzt auch international sehr intensiv beraten wird. Es ist ja einfach so, dass es da eine Lageentwicklung gibt. Wir sind ja nicht mehr dort, und man hat ja die Entwicklung auch nicht voraussehen können, wo wir vor zwei Monaten waren, als sozusagen große Teile Syriens noch unter der Kontrolle des Assad-Regimes standen. Insofern ist das eine Diskussion, die geführt wird. Ich kann jetzt hier sozusagen nicht vorschattieren, wo es hingehen wird. Aber es stellt sich natürlich die Frage, wie man die Weichen stellen kann, um die Stabilisierung Syriens eben auch von internationaler Seite her zu begleiten. Weil Sie mich nach dem russischen Einfluss in Syrien fragen: Ich glaube, es hat in Damaskus keiner so richtig vergessen, wie sich Russland in den letzten Jahren in Syrien betätigt hat und mit welcher Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung Russland dort aufgetreten ist, mit welchen Bomben. Insofern ist das, glaube ich, ein Aspekt, der in der Bewertung Russlands zukünftiger Rolle in Syrien auch bei den Menschen dort eine gewisse Rolle spielt. Aber ich spekuliere jetzt hier nicht über Konditionierungen oder sozusagen über die weiteren Entwicklungen. Das sind alles Diskussionen, die jetzt geführt werden. Zusatzfrage Warweg Das ist ja nicht nur eine Spekulation. Das wurde explizit aus Brüssel so kommuniziert. Da wäre meine Verständnisfrage, jetzt unabhängig von Russland: Generell wird ja auch von der Bundesregierung eine freie Bündniswahl propagiert. Wie sieht sich denn die Bundesregierung in Bezug auf die Aufhebung der Sanktionen? Will sie das als Instrument nutzen, um Einfluss auf die Bündniswahl der aktuellen Übergangsregierung auszuüben, sei es in Bezug auf China oder auf Russland, oder ist die Aufhebung der Sanktionen davon völlig unbenommen? Wagner (AA) Herr Warweg, ich glaube, wir werden da nicht zusammenkommen, weil wir da eine sehr unterschiedliche Auffassung haben. Aber ich glaube, es wäre ein großer Fehler, darzustellen, dass die Rolle, die ein großer Teil der internationalen Gemeinschaft, die Deutschland, Europa sowie die amerikanischen Partner spielen können, und die Rolle, die Russland in breiten Teilen dieser Welt spielt, sozusagen auf einer gleichen Ebene zu betrachten wären. Russland führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine. Russland nimmt einen sehr destruktiven Einfluss in breiten Teilen der Welt. Ich will den Sahel nennen, ich kann aber eben auch auf die Geschichte in Syrien schauen. Insofern, glaube ich, wird so etwas bei einer Bewertung dessen, was Sie als Bündnisfreiheit beschreiben, sozusagen der Partnerschaft, die man da eingehen kann, auch eine Rolle spielen. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 18. Dezember 2024 Mehr zum Thema: Syrien gestern und heute – Betrachtungen einer Korrespondentin [https://www.nachdenkseiten.de/?p=126339] Der Umsturz in Syrien, seine Hintergründe und möglichen Auswirkungen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=126397] Sieht die Bundesregierung Israels Massenbombardements in Syrien vom Völkerrecht gedeckt? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=126152] Syrien – Die geopolitischen Folgen des Regime Change [https://www.nachdenkseiten.de/?p=126109] Landeten deutsche Hilfsgelder und Ausrüstung für Kiew bei den HTS-Dschihadisten-Verbänden in Syrien? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=125792] [https://vg07.met.vgwort.de/na/b95d8bf385384a2088637bbd559544e2]
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