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Wo politische Vernunft und Anstand enden, beginnt die deutsche Russlandpolitik. Gestern gab Friedrich Merz bekannt [https://x.com/bundeskanzler/status/1926985204498829795], dass es keine Reichweitenbeschränkung mehr für von Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffen gibt. Damit kann die Ukraine nun Ziele tief in Russland treffen. Merz machte die Entscheidung auf einem Podium sitzend bei einer Veranstaltung öffentlich – und nicht etwa im Parlament, wo etwas so Weitreichendes hingehört. Merz‘ Auftreten folgt einem Kalkül. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Friedrich Merz besuchte am Montag das Internationale WDR Europaforum in Berlin. Dort setzte er sich zum Gespräch mit einem Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf ein Podium und sagte: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind.“ [https://x.com/Shinsho_ni/status/1926977916736348352] Mimik und Gestik wirken – Merz typisch – so, als spräche hier einer eine banale Selbstverständlichkeit aus. Doch in Wirklichkeit hat Merz eine politische Bombe platzen lassen. Denn die Aussage von Merz bedeutet zweierlei. Erstens gestattet die Bundesrepublik Deutschland nun der Ukraine, Ziele tief im Innern Russlands mit deutschen Waffen zu treffen. Zweitens liegt es nahe, dass Deutschland der Ukraine auch Taurus-Raketen liefern wird – oder haben Politiker hinter den Kulissen bereits Taurus freigegeben? Die Frage drängt sich zumindest auf, wenn man berücksichtigt, dass erst vor kurzem bekanntgegeben wurde, man wolle aus strategischen Gründen nicht mehr öffentlich kommunizieren, welche Waffen der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Ob mit oder ohne Taurus: Diese Entscheidung trifft Russland. Und das auf eine dumme Weise, die Diplomatie, Vernunft und auch dem politischen Anstand trotzt. Dumm deshalb, weil diese Entscheidung Russland ohnehin nicht so weit schwächen kann, dass das Land den Krieg zu den Bedingungen der NATO akzeptieren würde. Und dumm deshalb, weil auf diese Weise eine noch weitere Eskalation zu erwarten ist. Wobei hier rasch einzuschränken ist: Von „Dummheit“ zu sprechen, wäre gefällig. Denn: So dumm kann die Regierung samt ihrer klugen Zuträger gar nicht sein, um diese einfachen Einsichten zu verkennen. Anders gesagt: Die Entscheidung verbreitet förmlich jenen Geruch, der seit langem die Beziehungen zwischen westlicher und russischer Politik umgibt. Es ist der Geruch eines Feuers, das immer weiter angefacht wird. Echte Diplomatie scheint nicht gewollt. Dass bei diesem politischen Grundtakt eine anstandslose Politik herauskommt, ist erwartbar. In Anbetracht von Millionen durch die Wehrmacht getöteter russischer Soldaten und Zivilisten im 2. Weltkrieg ist die aktuelle Entscheidung ein weiterer Akzent einer Politik von historischer Asozialität. Deutsche Panzer im Kampf gegen Russen? Längst Realität. Deutsche Waffen im Kampf gegen russische Soldaten? Längst Realität. Deutsche, weitreichende Waffensysteme, die Ziele tief in Russland treffen? Das wird nun zur Realität. Der deutschen Politik darf man eines nicht unterstellen: Ahnungslosigkeit. Das wird auch noch mal durch den Auftritt von Merz deutlich. Politik, das wissen wir alle, ist auch Inszenierung. Politik ist Kalkül. Merz‘ Auftritt auf dem Europaforum zeigt beides deutlich. Nach außen wirkt der Auftritt von Merz so, als ginge es bei der Entscheidung, die begrenzte Reichweite der Waffen aufzuheben, um eine Petitesse. Das ist sie aber keinesfalls. Im Gegenteil: Im schlimmsten Fall könnte die Entscheidung Deutschland in einen Krieg mit Russland ziehen. Mit anderen Worten: Viel weitreichender als das, was Merz gesagt hat, geht es kaum. Und genau deshalb verkündet Merz die Nachricht an einem Ort und in einem Präsentationsmodus, der die Ungeheuerlichkeit der Aussagen abdämpft und letztlich zu verschleiern versucht. Eine Entscheidung, die unterm Strich das Leben von über 80 Millionen Bundesbürgern betrifft, gehört in das Parlament. Unfreiwillig unterstreicht Merz hier etwas, was ohnehin vielen längst klar ist: Die deutsche Russlandpolitik, die Politik der Kriegstüchtigkeit und die Politik der Waffenlieferungen geht an den Interessen Deutschlands vorbei. So gesehen ist es nur konsequent, dass die Bekanntgabe der Entscheidung außerhalb des Bundestages erfolgt. Titelbild: Ryan Nash Photography / Shutterstock[http://vg07.met.vgwort.de/na/e4a3e28187684e0caa0a05fdc730ac10]

Von Montag bis Sonntag. Es lohnt sich. Zum Verständnis dieser Empfehlung muss ich noch einmal ein bisschen aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzählen – von einem Vorschlag und einer davon ausgelösten Debatte, die 47 Jahre zurückliegen. Lange her, aber immer noch aktuell. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Im Spätherbst 1977 – damals war ich Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes – zogen wir uns wie jedes Jahr zu einer Klausur zurück, um vom Tagesgeschäft befreit darüber nachzudenken, was der Bundeskanzler im kommenden Jahr programmatisch propagieren sollte, was sachlich geboten wäre und womit er sich profilieren könnte. Wir hatten vorher schon einige Male unweit von Bonn in einem Hotel in der Eifel getagt. Das war aber steril, wenig anregend und vergleichsweise teuer. Von privaten Ferien kannte ich einen Bauernhof im Schwarzwald. [https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/05/250526_2_am.png]https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/05/250526_2_am.png Dort gab es in einem Nebengebäude Räume zum Übernachten und einen Raum zum Tagen. Die Fragestellung für unsere Beratungen war jedes Mal die gleiche: Was wäre ein interessanter und wichtiger programmatischer Beitrag des Bundeskanzlers für die öffentliche Debatte? Werner Gessler, damals Mitarbeiter der Planungsabteilung, berichtete ziemlich am Anfang unserer Beratungen davon, was er über einen politischen Vorstoß und die folgende Debatte in Ungarn gelesen hatte. Dort erwäge man, einen fernsehfreien Tag einzuführen. Das hielten wir für eine interessante Idee, wir debattierten darüber, auch über Details und haben dann diesen Vorschlag in unser Planungspapier für den Bundeskanzler aufgenommen. Helmut Schmidt griff die Idee auf, er beriet darüber im Mai 1978 in einem kleinen Kreis, zu dem auch die Allensbacher Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann gehörte. Daraus folgte dann der Auftrag, einen Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit zu entwerfen. Helmut Schmidt überarbeitete diesen Entwurf. Sein Text erschien dann am 26. Mai 1978 mit der – heute betulich wirkenden – Überschrift: „Plädoyer für einen fernsehfreien Tag. Ein Anstoß für mehr Miteinander in der Gesellschaft“. Helmut Schmidts ZEIT-Artikel siehe hier [https://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/220828-Medien-Plaedoyer-fuer-einen-fernsehfreien-Tag-ZEIT-ONLINE.pdf]. Der Artikel bestimmte über einige Zeit die öffentliche Debatte. Und er prägte und ergänzte das Image dieses Bundeskanzlers – jedenfalls insoweit, dass dem Imageelement des „Machers“ Helmut Schmidt noch Elemente des Nachdenkens über wichtige gesellschaftliche und familiäre Gewohnheiten, Tugenden und Untugenden hinzugefügt wurden. Ich bin sicher nicht der Prototyp des deutschen Fernsehkonsumenten. Aber am 23. Mai 2025 – also vor drei Tagen – habe ich ausnahmsweise lange ferngesehen: Von 19:00 Uhr bis 23:00 Uhr, wechselnd zwischen ARD und ZDF. Und ich bin bei dieser Gelegenheit – noch einmal – zu einem begeisterten Anhänger des Helmut Schmidt’schen Vorschlags für einen fernsehfreien Tag geworden. Denn was an diesem Abend des Jahres 2025 an Mist und an langweiligem Quatsch, von Heute Show bis Böhmermann, in unsere Wohnstuben gesendet wurde, das hält der Mensch nicht aus, es sei denn, er will sich total belatschern und verbiegen lassen. Viele nehmen das wohl hin. Das ist deprimierend. Ich ermuntere jedenfalls die Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten, sich der Gruppe anzuschließen, die auf Fernsehen verzichtet oder dieses auf ein Mindestmaß beschränkt. Gönnen Sie sich jeden Tag einen fernsehfreien Tag … von Montag bis Sonntag. Titelbild: Screenshot zeit.de

Den USA in ihrem „neuen Realismus“ folgen und sich gleichzeitig von deren hegemonialen Anspruch befreien: Dies betrifft auch jenes postmoderne Kulturkonzept, das auf die Bedingungen des Kalten Krieges zurückgeht. Gerade unsere humanistischen geistigen Traditionen, so Hauke Ritz in seinem Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“, könnten Brücken sein für eine künftige Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“: Einen zugkräftigen Titel hat der Westend Verlag diesem Band des Philosophen und Friedensforschers Hauke Ritz gegeben. Zumal man sofort widersprechen möchte: Auch wenn Kanzler Merz sich wie ein Gernegroß aufführt, was hängt denn momentan noch von Deutschland ab? Der Weltfrieden insofern, weil das Kriegsgeschrei, die Lieferung von Taurus-Raketen und anderen Waffen, die direkt auf Russland zielen, nicht nur unser Land in Gefahr bringen würden. Dass wir uns derzeit zumindest in einem Kalten Krieg befinden, kann niemand verneinen, der das unwürdige politische Theater um den 80. Jahrestag der Befreiung miterlebt hat, den skandalösen Versuch, Vertreter Russlands von den Feierlichkeiten auszuschließen. Die Frage ist wirklich, wie es da je wieder zu gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland kommen soll. Hauke Ritz, 1975 in Kiel geboren, wurde 2013 an der FU Berlin in Philosophie promoviert. Seine Dissertation hatte das Thema „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Diskussion in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall“. Zu Forschungszwecken hat er seit 2014 regelmäßige Russland-Reisen unternommen und unterrichtete an der Universität Gießen, der Lomonossow-Universität Moskau, der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität sowie der Universität in Belgorod. Zuletzt sei er für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Moskau tätig gewesen. So die Information des Westend Verlages, wo Hauke Ritz zusammen mit Ulrike Guérot 2022 das viel beachtete Buch „Endspiel Europa“ veröffentlicht hat und wo von Guérot in diesen Tagen ein neues Buch erschienen ist: „Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart“, das ebenfalls bald hier besprochen werden soll. Bei Ritz‘ neuem Band handelt es sich um eine Sammlung von zehn Aufsätzen, die nicht erst heute geschrieben wurden, sich aber aufschlussreich mit heutigen Problemen beschäftigen. Zum Teil wurden sie überarbeitet, auf jeden Fall aber im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen ausgewählt. Der weltpolitische Wandel, den die USA unter Donald Trump eingeleitet haben, ist in seinen Resultaten noch nicht wirklich absehbar. Aber deutlich sichtbar ist eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen in der Welt, welche gerade Westeuropa vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Ein altes Kriegsziel deutscher Machthaber In einer Situation allgemeiner Unsicherheit setzt Hauke Ritz auf nüchterne Einschätzungen. „Die Abtrennung der Ukraine von Russland war ein altes Kriegsziel des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg, das im erzwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk gewaltsam durchgesetzt wurde. Das ‚Dritte Reich‘ aktivierte dieses Kriegsziel erneut und weitete es noch aus, indem es neben der Aneignung der Ukraine auch noch die Vernichtung eines beträchtlichen Teils aller Russen anstrebte. Denn Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion war offen als rassenideologischer Vernichtungskrieg konzipiert.“[1] Und heute kommt seitens deutscher Politik schon wieder die Forderung, Russland einzudämmen. „Wenn Russland gewinnt“ nannte Carlo Masala sein Horrorszenario. [2] Und der einstige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verstieg sich gar zu der Aussage, „dass ein russischer Sieg schlimmer wäre als eine fortgesetzte Eskalation, die zu einem realen Weltkrieg mit Milliarden von Toten führen kann“. [3] Woher kommt diese Panik? Aus der Gehirnwäsche im Kalten Krieg? Oder mehr noch aus der Angst vor dem Verlust der eigenen Position, weil man nicht in der Lage ist, den weltpolitischen Veränderungen Rechnung zu tragen? Neue Wirklichkeit einer multipolaren Weltordnung Was andere Autoren bereits betonten: In der Ukraine wird ein Weltordnungskonflikt ausgefochten, in dem es dem Westen um die Eindämmung Russlands geht. Die von den USA dominierte unipolare Weltordnung wurde auf Dauer zu kostspielig. Die Außen- und Innenpolitik unter Trump sind eine Reaktion darauf, wobei es wohl noch manche Rückzugsgefechte geben wird, denn im Schatten des Ukrainekonflikts sind unumkehrbare Veränderungen in der Welt vor sich gegangen, neue multipolare Machtzentren entstanden. Wie lange sich der Stellvertreterkrieg in der Ukraine auch noch hinziehen mag – man hofft ja, er ginge schnell zu Ende –, die Bündnisse zwischen Russland, China, Iran, Indien, Nordkorea, Vietnam und immer mehr Ländern des globalen Südens und Lateinamerikas existieren und festigen sich. Und der Dollar sei dabei, seine Rolle als Weltwährung zu verlieren. [4] „Russland hat sowohl geografisch als auch kulturell eine sehr gute Position in dieser neuen Weltordnung“, meint Hauke Ritz. Die USA würden irgendwann „mehr eine abgelegene Insel sein. Entscheidend ist aber nicht die geografische Ordnung, sondern die zivilisatorischen Inhalte, die dann ins Zentrum rücken.“ [5] Da sieht der Autor gerade für Deutschland Chancen, zu Gunsten einer Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent wirksam zu werden. Das aber würde ein Umdenken in vielerlei Hinsicht bedeuten. Pop- und Lifestylekultur als westliche Soft Power „Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?“ Dieser bisher zu wenig thematisierten Frage widmet Hauke Ritz mehrere Texte. Nicht allein durch die skandalöse Ausgrenzung russischer Kultur in der deutschen Öffentlichkeit, es ist ein geistiges Kampffeld entstanden, was kulturelle Werte betrifft. Das hat gegenseitiges Unverständnis zur Folge und, mehr noch, eine Verhärtung von Positionen. Hauke Ritz: „Schon längere Zeit vor Beginn der Ukraine-Krise häuften sich die Meinungsverschiedenheiten zu kulturellen Fragen. Sowohl die Auseinandersetzung um die Punk-Band ‚Pussy Riot‘ als auch die Berichterstattung über die Rechte von Homosexuellen im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi“ wurden seitens des Westens zur Anklage Russlands genutzt, angeblich fortschrittliche Werte nicht zu teilen. [6] In der Folge haben sich die Positionen in Russland immer stärker zu einem Antiliberalismus verfestigt, der die politischen Konflikte in Europa spiegelt, aber ebenso auch dem Weltgefühl weiter Teile der Bevölkerung entspricht. Wir können das rückständig nennen, aber auch große Teile der deutschen Bevölkerung, zumal im Osten, können mit neoliberaler Identitätspolitik inzwischen auch nichts mehr anfangen. „Traditionelle Werte“ – das ist in Russland zum Kampfbegriff gegen den westlichen Liberalismus geworden. Wobei es solche verbindenden Werte einer paneuropäischen Kultur ja gab und zu Teilen immer noch gibt. Dazu zählt Hauke Ritz die Kultur der Arbeiterbewegung mit ihren politischen Utopien und ihren sozialen Gerechtigkeitsforderungen ebenso wie die Kultur des Bürgertums mit ihrer humanistischen Bildung, ihrem Geschichtsbewusstsein und ihrer Unterscheidung zwischen „hoher und niedriger“ Kunst. Soll man es Fortschritt nennen, dass dieses Wertgefüge in die Vergangenheit abgedrängt worden ist? Soll man das Orientierungsvakuum in den heutigen westlichen Gesellschaften als Ausdruck von Freiheit bezeichnen, weil jeder sich aussuchen kann, was er oder sie glaubt, ja wer er oder sie gerade zu sein beliebt? Wenn einem bewusst ist, wie immens die Möglichkeiten von Manipulation und Konstruktion angeblicher Wahrheiten geworden sind, führt das zur Verneinung alles Glaubwürdigen, ja auch Verbindenden. Für eine bessere Welt einzutreten, bringt immer weniger Menschen zusammen. Hauke Ritz meint nun, dass die Etablierung jener Pop- und Lifestylekultur, die heute im Westen zu einer beinahe unhinterfragten Normalität geworden ist, nicht allein nur aus sich selbst heraus geschah, sondern dass dies mit einem politischen Willen verbunden war. Dabei geht er besonders auch auf die Untersuchungen von Francis Stonor Saunders ein („Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg“). Der „Congress for Cultural Freedom, 1950 gegründet, hatte sein zentrales Büro zunächst in Westberlin, dann in Paris. In 35 verschiedenen Ländern gab es Niederlassungen. Heute weiß man von mindestens 170 Stiftungen, die den Transfer von Mitteln ermöglicht haben. Nachdem die geheimdienstliche Finanzierung 1966 bekannt geworden war, wurde der CCR zwar 1969 aufgelöst. Aber das informelle Netzwerk von Kulturschaffenden und Zeitschriften blieb vorhanden, und die Neue Linke begann sich mit ihrem „Diversity“-Projekt mit dem Neoliberalismus zu verschwistern.” [7] Zweifellos reagierte die Pop-Kultur auf Massenbedürfnisse. Gleichzeitig aber wurde sie zur Softpower, um „Westeuropa für amerikanische Kultureinflüsse zu öffnen und zum anderen die Evolution der politischen Linken von den Hauptwidersprüchen des Kapitalismus auf seine Nebenwidersprüche umzulenken.“ [8] „Die Verschiebung der Identität linken Selbstverständnisses … weg von den Fragen des Eigentums, des Klassenkampfes und der Kritik am Imperialismus, hin zu einem postmodernen Wertesystem, das auf Menschenrechten, Minderheitenrechten, Umweltfragen und Lebensstilthemen basiert“ [9], ist inzwischen so wirkmächtig geworden, dass Fragen, Zweifel, Gegenmeinungen kaum mehr laut werden können. Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus? Innen- wie außenpolitische Konflikte haben also durchaus eine kulturelle Dimension, die man im Auge behalten sollte, wenn man auf Lösungen bedacht ist. In dem Maße, wie der Plan einer unipolaren Weltordnung scheitert, meint der Autor, würde Europa eine Wandlung bevorstehen – selbstbewusster hin zu jenen Werten, mit denen wir in den letzten 500 Jahren eine Weltkultur prägten, und gleichzeitig zu mehr Respekt, was die Vielfalt anderer Lebensweisen betrifft. Dabei sieht Hauke Ritz zwei gefährliche Trends, die einander gegenseitig verstärken: den technologischen Trend, der zum ersten Mal in der Geschichte einen nahezu perfekten Überwachungsstaat ermöglicht, und den Trend zu einer immer größeren Vermögenskonzentration. Dagegen eine notwendige Besinnung auf die Werte humanistischer Kultur in Stellung bringen zu wollen, erscheint auf den ersten Blick vermessen. Doch geht der Autor zu Recht davon aus, dass diese Werte in vielen Menschen lebendig sind und in diesen turbulenten Zeiten Halt versprechen. Sich auf verbindende Werte der europäischen Kultur zu besinnen, Hauke Ritz ist nicht der Erste, der solcher Hoffnung Ausdruck gibt. Bei Andreas Reckwitz klang sie im Bilde eines eingehegten Liberalismus an.[10] Ingolfur Blühdorn sprach von einem „Weg in eine andere Moderne“. Was „diskursive Räume öffnen könne“, in denen das Bekenntnis zu Werten, die „in der Spätmoderne zunehmend verabschiedet werden – Inklusion in ein gutes Leben für alle in ökologischen Grenzen, Ethik des Miteinander, Demokratie, Verantwortlichkeiten“ –, weiter gepflegt werden kann. Wobei er auch die Gefahr sieht, dass es sich dabei nur um Simulationstechniken handelt, „während realgesellschaftlich die entgegengesetzte Logik gezielt forciert wird“. [11] Aus seiner genauen Russland-Kenntnis heraus weiß Hauke Ritz um den hohen Stellenwert von Kunst und Kultur dort, der immer auch den Blick auf Europa einschloss. Jahrhundertelang war Russland, allen Konflikten zum Trotz, von engen kulturellen Beziehungen zu Deutschland geprägt. Fast kommt es einem Wunder gleich, dass die Sowjetunion, die für den Sieg über den Hitlerfaschismus mit mindestens 27 Millionen Toten den höchsten Blutzoll bezahlte, sich nicht von der deutschen Kultur abkehrte, sondern hochgebildete Kulturoffiziere, meist Germanisten, schickte, um diese zu schützen. Daniil Granin und Lew Kopelew können für viele sowjetische Schriftsteller und Intellektuelle stehen, die damals Brücken zu jenem Land gebaut haben, gegen das sie im Krieg gekämpft hatten. Diese Brücken sind gerade im Osten Deutschlands nicht nur vorhanden, sondern auch weiterhin begehbar. Die politisch proklamierte Russophobie stößt dort auf Unverständnis, ja auf Ablehnung, weil man sich der gefährlichen Folgen bewusst ist. Die Erfahrung in zwei Gesellschaftssystemen hat zu einer geradezu selbstverständlichen Widerstandskraft geführt, was ideologische Manipulation betrifft. „Es ist der entscheidende Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR, dass die Bürger in der DDR wussten, dass sie politisch belogen wurden, während die meisten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland dachten und denken, das könne ihnen nie passieren“, stellt Ulrike Guérot fest, die den Osten jetzt erst kennenlernte. „Der deutsche Osten scheint mir heute die Herzkammer der Republik zu sein… da, wo der Sozialismus – wie schlecht auch immer er war – noch residuale Formen von Gemeinschaft und sozialer Sorge hinterlassen hat …“ [12]; und ein Kulturverständnis, so ließe sich hinzufügen, das stärker humanistischen Traditionen verbunden ist und mit der neoliberalen Postmoderne wenig anfangen kann. Realitätsverweigerung führt in die Sackgasse Es ist plausibel, dass Verhandlungen zwischen den USA und Russland im Gange sind, ohne dass die Ukraine und die EU mit am Tisch sitzen. Es war und ist ein Stellvertreterkrieg, das wird von Trump nicht mehr geleugnet. Die Ukraine sieht sich getäuscht und ausgebootet, schließlich wurde seitens des Westens versprochen, dass ein Sieg ohne Gebietseinbußen zu haben ist. Aber die werden unumgänglich sein. Vom zweistündigen Telefonat zwischen Trump und Putin am Montag über eine gesicherte Verbindung erfährt man nur wenige Details. Dass Putin die Bereitschaft unterstrich, an einem „Memorandum“ mit der Ukraine zu arbeiten, das zu einer Friedenslösung führt und einen Waffenstillstand einschließt, kann Trump als Erfolg verbuchen. Aber ein Friedensvertrag ist nur durch schwierige Verhandlungen zu haben und nicht dadurch, dass Westeuropa den „Druck“ auf Moskau erhöht, wie Kanzler Merz wieder einmal verlautbarte. Wie derlei Realitätsverweigerung in eine Sackgasse führt, kann einem in der Tat Angst machen. Insofern hängt der Weltfrieden tatsächlich von Deutschland ab. Wir können uns um eine Russland einbeziehende Friedensordnung in Europa bemühen, die mit der Charta von Paris schließlich schon einmal angedacht worden ist, oder uns dem Narzissmus unseres Kanzlers beugen, die Bundeswehr zu Europas „stärkster Armee“ zu machen. [13] – mit der Aussicht, sie dann auch gen Osten einzusetzen. Chancen für Europa Wir leben mit Russland auf einem Kontinent. Sich auf Dauer voneinander abzuschotten, sich gar feindlich zu verhalten, wäre von Schaden für beide Seiten. Für Russland weniger, wo man sich gezwungenermaßen inzwischen stärker nach Osten und nach Süden orientierte. Für Deutschland schon. Insofern hat Hauke Ritz ein Buch geschrieben, das in die Zukunft weist. „Der wirtschaftliche Wind in den Segeln, der Europa von Westen nach Osten zieht, kann auch zu der Kraft werden, die Europa helfen wird, sich aus dem gegenwärtigen Abwärtssog des kulturellen Nihilismus zu befreien und die Schätze seines vergangenen intellektuellen Lebens neu zu entdecken und wiederzubeleben.“ [14] Wir haben uns in eine Ecke manövriert, aus der wir herausfinden müssen. „Europa muss die paradoxe Bewegung vollziehen, einerseits den neuen Realismus aus den USA zu übernehmen und sich andererseits gerade aufgrund dieses Realismus von den USA zu lösen, um zu einem eigenständigen Pol in der multipolaren Welt zu werden.“ [15] Nicht durch Aufrüstung, durch neue Großmachtgelüste, mit der wir unsere Vernichtung riskieren, sondern als Friedensmacht. Hauke Ritz: Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt. Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch, 224 Seiten, ISBN 978-386489491624, Euro. Titelbild: Tricreative project / Shutterstock ---------------------------------------- [«1] Hauke Ritz, S. 157 [«2] Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. C. H. Beck 2025, 119 S., br., 15 Euro. [«3] Hauke Ritz, S. 158 [«4] finanzmarktwelt.de/warum-sich-der-weltweite-trend-weg-vom-dollar-beschleunigt-348379/ [https://finanzmarktwelt.de/warum-sich-der-weltweite-trend-weg-vom-dollar-beschleunigt-348379/] [«5] Hauke Ritz, S. 185 [«6] ebenda, S. 15 [«7] ebenda, S. 113 [«8] ebenda, S. 79 [«9] ebenda, S. 39 [«10] Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Edition Suhrkamp 2019, 306 S., br., 18 Euro. [«11] Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition Suhrkamp 2024, 284 S., br., 20 Euro. [«12] Ulrike Guérot: Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart. Westend Verlag 2025, 223 S., geb., 24 Euro. [«13] bild.de/politik/inland/merz-plan-kann-die-bundeswehr-europas-staerkste-armee-werden-6827364da6a34a0a03285a0e [https://www.bild.de/politik/inland/merz-plan-kann-die-bundeswehr-europas-staerkste-armee-werden-6827364da6a34a0a03285a0e] [«14] Hauke Ritz, S. 51 [«15] ebenda, S. 212

‚Hätte ich das gewusst, hätte ich die Partei X nicht gewählt…‘. So dürften viele Menschen kurz nach den Bundestagswahlen gedacht haben, als der damals designierte Bundeskanzler Friedrich Merz die Schuldenbremse entgegen seiner Wahlkampfaussagen für die Aufrüstungsfinanzierung des deutschen Militärs sturmreif schoss. Wie kann es in einer Demokratie sein, dass politische Entscheidungen bisweilen diametral den gesellschaftlichen Vorstellungen und Interessen zuwiderlaufen? Heißt Demokratie nicht Volksherrschaft? Wie passt das Bild von Demokratie mit den mitunter selbstherrlichen Entscheidungen politischer Entscheider zusammen? Der entscheidende Begriff hierfür lautet: Repräsentation. Und, was kann gegen politische Selbstherrlichkeit der Gewählten unternommen werden? Auch hier lautet das entscheidende Instrument: Volksentscheid. Von Alexander Neu. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Repräsentation“ bedeutet, dass eine Person oder eine Personengruppe, gewählt in staatliche Organe (Deutscher Bundestag, Bundesregierung, Bundeskanzler), die Interessen einer größeren Gruppe (des Volks als eigentlicher Souverän) in deren Auftrag vertritt bzw. repräsentiert (siehe hier Art. 20 Abs. (2) Grundgesetz). Diese Person oder Personengruppe erhält über Wahlen den Auftrag. Damit unterscheidet sich die repräsentative Demokratie von der direkten Demokratie. In der direkten Demokratie entscheidet die Gesamtheit der Personen über ihr gemeinsames Schicksal unmittelbar. Es besteht eine direkte, auch personelle, Identität zwischen Regierenden und Regierten – zwischen Rechtsetzenden und Rechtsunterworfenen. Angesichts einer großen Personengruppe, also eines Volkes, ist diese demokratische Variante jedoch nicht alltagspraktikabel. Hinzu kommen die Menge und die Komplexität politischer Fragestellungen, die es einer ganzen Gesellschaft gar nicht erlaubt, sich damit täglich auseinanderzusetzen. Das Konzept der Repräsentation ist eine praxistaugliche Kompromisslösung, um dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen und diesen auch politisch umzusetzen, so die dahinterstehende Idee. Es wird also eine fiktive Identität von Repräsentanten und Repräsentierten unterstellt. Was aber, wenn die gewählten Repräsentanten ganz andere Vorstellungen von dem haben, was gut für das Volk, für das Gemeinwesen ist, also die Repräsentierten – wenn also eine Entfremdung zwischen beiden Gruppierungen zu beobachten ist? Dann spricht man von einer Krise der Demokratie oder der Repräsentation, einer Repräsentationslücke etc. Eine tatsächliche fiktive Identität wäre beispielsweise durch ein imperatives Mandat (gebundenes Mandat) gesichert. Der gewählte Abgeordnete müsste so im Parlament entscheiden, wie seine Wähler es wollen. Im Grundgesetz (Artikel 38 Abs. (1) Satz 2) indessen heißt es: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Sodann bleibt festzustellen, dass Friedrich Merz sich mit seinem politischen Coup innerhalb des Verfassungsrahmens bewegte; er tat es, weil er es grundgesetzlich durfte. Es war legal, wenn auch politisch nicht so sehr legitim – wie so viele politische Entscheidungen, die im Gegensatz zu vorherigen Wahlversprechen getroffen werden. Der Wähler gibt dem gewählten Abgeordneten (Erststimme) bzw. der Partei (Zweitstimme) einen politischen Blankocheck in der Hoffnung, dass dieser auch in seinem Sinne eingelöst wird. Wird er nicht im Wählersinne eingelöst, so hat der Wähler mal wieder Pech gehabt, so die politische und Verfassungsrealität. Der Wähler selbst also kann die politische Entscheidung über das Instrument des imperativen Mandats nicht steuern, da die Abgeordneten, die Regierungsvertreter nur ihrem „Gewissen unterworfen“ und somit dem Souverän gegenüber nicht weisungs- und auftragsgebunden sind. Allenfalls bleibt die Chance, nach Ablauf der Wahlperiode seine Wahlpräferenz einer anderen Partei, einem anderen Direktkandidaten zuzuteilen. Für die übrigen vier Jahre ist der Souverän erstmal raus – so zumindest die Verfassungswirklichkeit. Besonders prägnant brachte dies die damalige Außenministerin Annalena Baerbock zum Ausdruck, als sie sich zu ihrer Bereitschaft der Unterstützung der Ukraine – so lange, wie es nötig sei – äußerte und mit dem Halbsatz ergänzte: „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Legal, aber demokratietheoretisch sehr fragwürdig, wenn nicht gar unverschämt – wird der Wähler, der zugleich Steuerzahler ist und alle politischen Entscheidungen mit seinen Steuern finanzieren muss, doch zur Melkkuh degradiert. Die Steuergelder, die der Souverän zahlt, werden der Regierung zum guten Regieren mithin zum Wohle des Gemeinwohls treuhänderisch anvertraut. Nutzt die Regierung das anvertraute Geld ohne Rücksichtnahme auf den Willen des Steuerzahlers/Souveräns – beispielsweise ausgedrückt durch Umfragen –, so wird der Boden zur Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden bereitet. Der sogenannte „empirische Volkswille“ verliert zunehmend an Bedeutung, während der „hypothetische Volkswille“ die Oberhand gewinnt. Empirischer Volkswille versus hypothetischer Volkswille Was unterscheidet beide Formen des Volkswillens? Der „empirische Volkswille“ ist der Volkswille, der durch Umfragen und andere Formen öffentlicher Meinungsfeststellungen zur Grundlage politischer Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie gemacht wird. Tatsächlich leidet das Konzept des „empirischen Volkswillens“ daran, dass es kaum einen messbaren einheitlichen Volkswillen gibt, zumal in einer stark ausdifferenzierten postmaterialistischen Gesellschaft. Bis auf wenige Themen, wie vielleicht der Friedensfrage, geht es um Mehrheits- und Minderheitenmeinungen. Politische Parteien und deren Vertreter, die sich stärker als andere dem „empirischen Volkswillen“ sowie auch sprachlich dem Volke annähern, werden häufig abwertend als Populisten bezeichnet. Der Begriff „Populismus“ selbst wird gerne von den Vertretern des „hypothetischen Volkswillens“ verwendet, um die „Populisten“ zu diffamieren. Dabei merken sie gar nicht, dass sie sich genau dann selbst elitär und abgehoben verhalten. Jedenfalls ist die fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden im Konzept des „empirischen Volkswillens“ im Vergleich zum „hypothetischen Volkswillen“ höher. Denn der „hypothetische Volkswille“ bedeutet, dass die gewählten Abgeordneten und die indirekt gewählte Regierung schon wissen, was das Beste fürs Volk ist, selbst dann, wenn die öffentliche Meinung eine ganz andere Meinung ist. Die oben zitierte Aussage von Annalena Baerbock ist daher ein Glanzstück eines politisch-demokratischen Verständnisses im Sinne des „hypothetischen Volkswillens“. Die ohnehin fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden tendiert gegen null. Verfassungsrealität versus Verfassungstheorie Das Grundgesetz selbst ist durchaus offener, was die Frage zur politischen Partizipation des wählenden Staatsbürgers, des Souveräns angeht. So erhebt Artikel 20 Abs. (2) zunächst den Staatsbürger zum Souverän: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Im nachfolgenden Satz heißt es: „Sie [Die Staatsgewalt, A. Neu] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Hier sind die beiden Begriffe „Wahlen“ und „Abstimmungen“ interessant. Mit „Wahlen“ sind unzweifelhaft die Bundestagswahlen gemeint. Was aber ist mit „Abstimmung“ gemeint? Ist damit eine direkte politische Entscheidung des Souveräns, also Volksentscheide gemeint? Ja, genau das ist damit gemeint. Ergänzt wird diese Annahme durch einen weiteren Verfassungsartikel, nämlich Artikel 21 GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Mitwirkung bedeutet eben kein Wirkungsmonopol der Parteien. Somit wird auch hier die Möglichkeit von Volksentscheidungen implizit eröffnet. Und in Artikel 29 („Neugliederung des Bundesgebietes“) wird der Begriff des „Volksentscheids“ explizit sowie Art. 146 („Geltungsdauer des Grundgesetzes“) implizit verwendet. Kurzum: Das Grundgesetz selbst eröffnet die Möglichkeit von Volksentscheiden – zumindest in den beiden Fällen (Art. 29 und 146), aber auch durch die offene Formulierung der Artikel 20 („Abstimmung“) und 21 (Mitwirkung). Dass die Verfassungsrealität sich auf eine Parteiendemokratie/Parteienstaat hin verengt, bedeutet hingegen nicht, dass die Verfassungstheorie nicht auch andere Optionen beinhaltet. Volksentscheide als Korrektive? Die repräsentative Demokratie ist in einem modernen Staatsgebilde angesichts der Komplexität zu klärender Fragen und Regularien (Gesetze) und deren Menge sicherlich die geeignetere Form der Demokratie. Die direkte Demokratie mag in den antiken Stadtstaaten Athen und Sparta funktioniert haben, deren Regelungskomplexität und -menge überschaubar gewesen sein mag. In modernen Staaten hingegen ist es nicht praktikabel. Aber die rein repräsentative Form der Demokratie stößt eben selbst auch an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn Zweifel an der Demokratie laut werden, weil das Konzept des hypothetischen Volkswillens die fiktive Identität zwischen Regierenden und Regierten ad absurdum führt. Wenn politische Entscheidungen gewählter Volksvertreter in Qualität und Quantität an den Interessen eines Staatsvolkes (scheinbar) vorbeigehen oder sich gar in einen Widerspruch begeben; wenn der Staat von den Parteien zu ihrem Staat, zum reinen Parteienstaat degradiert wird und sich Parteien am Staat bedienen; wenn beispielsweise sogenannte NGOs mit Steuergeldern des Souveräns finanziert/alimentiert werden, um als sogenannte „Zivilgesellschaft“ einen engen Diskursrahmen unter Nutzung einer scheinbar moralisch fundierten „Political Correctness“ zu schaffen; wenn Bürger/Steuer- und GEZ-Zahler mit ihrem eigenen Geld durch betreutes Denken zu Konformismus statt zu kritischen Staatsbürgern erzogen werden sollen; wenn die politische Klasse also nicht nur zu wissen glaubt, was gut und richtig fürs Volk ist („hypothetischer Volkswille“), und sich daher über den „empirischen Volkswillen“ hinwegsetzt, sondern vielmehr noch den „empirischen Volkswillen“ selbst von oben zu formieren versucht; wenn Kritik an der Regierung bereits als Kritik am Staat diffamiert wird, wenn also die politische Klasse sich selbst als Staat denn als Volksvertreter versteht, dann ist das Erfordernis von Korrekturen naheliegend. Volksentscheide sind eine interessante Form, den in eine Vertrauenskrise fahrenden Willensbildungsprozess der reinen repräsentativen Demokratie zu beleben. Volksentscheide sollen und können nicht die repräsentative Demokratie aus den oben genannten Gründen ersetzen. Sie sollen aber potenzielle Fehlentscheidungen der repräsentativen Demokratie korrigieren können. Sie sollen auch die Abgeordneten des Parlaments unter Druck setzen, Entscheidungen zu treffen, die den Interessen der Bevölkerung dienlich sind und nicht den Interessen möglicherweise ideologiegetriebener politischer Eliten. Sie sollen den formal politisch mündigen Bürger tatsächlich befähigen, politisch mündig zu sein, statt ihn auf den Status des Wählers faktisch zu reduzieren. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik muss demokratisiert werden: Wichtige Fragen wie Rüstungsexporte, Bündnisoptionen oder die Entscheidung von Krieg und Frieden sollten nicht einer politischen Elite allein überlassen werden. Denn die Rechnungen für falsche Entscheidungen der politischen Elite zahlen diese am wenigsten und die Bürger im Zweifel am meisten. Wenn der neue Bundeskanzler die Bundeswehr zur „stärksten konventionellen Armee Europas“ machen will, wie verkündet, so darf eine solche sicherheits- und finanzpolitische Entscheidung nicht allein den gewählten Abgeordneten und schon gar nicht einer mittelbar gewählten Bundesregierung überlassen werden. Fragen des sicherheitspolitischen Mehrwertes oder gar die Gefahren des Rüstungswettlaufs, der Eskalation, der enormen finanziellen Kosten sowie die Einsparungen an anderen Stellen gehören gesellschaftlich debattiert und durch einen Volksentscheid geklärt und nicht par ordre de mufti entschieden. Und die Argumente gegen direktdemokratische Partizipation, ja ich kenne sie, und sie überzeugen mich nicht. Sie sind teilweise sehr konstruiert, ja bisweilen einfach wahrheitswidrig. Beispielsweise der Verweis auf die Todesstrafe, die dann wahrscheinlich wieder eingeführt würde, obschon sie den europäischen Werten widerspreche. Oder der Verweis auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der damit einhergehenden Einführung ihrer Diktatur. Nicht minder der Verweis auf die mangelnde Kompetenz der Gesellschaft, schwierige Themen adäquat zu beurteilen. Meine Replik auf derartige Nebelkerzen: 1. Die Todesstrafe ist explizit grundgesetzlich verboten (Artikel 102 Grundgesetz). Und Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verweisen im weiteren Sinne auf ein Verbot der Todesstrafe angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie das Recht auf Leben. Artikel 1 unterliegt sogar der Ewigkeitsklausel, darf also nicht angetastet werden. Somit wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe nach dem Grundgesetz gar nicht möglich. Und selbstverständlich könnten Ergebnisse von Volksentscheiden ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht auf Prüfung ihrer Verfassungskonformität hin vorgelegt werden. 2. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Tatsächlich hat die NSDAP die Macht in Deutschland nicht per Volksentscheid, sondern durch demokratische Wahlen – also repräsentativ – errungen. Und der Schritt zur endgültigen Diktatur wurde auch im Deutschen Reichstag mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz entschieden. Der Reichstag hat sich mit entsprechender Mehrheit selbst entmündigt. Die SPD-Fraktion stimmte als einzige Fraktion dagegen, die Abgeordneten der KPD wurden zuvor bereits verhaftet oder befanden sich auf der Flucht vor ihrer Verfolgung. Beide Schritte, die Machtergreifung der NSDAP wie auch der nachfolgende Schritt zur Diktatur, verliefen im Rahmen der repräsentativen Demokratie und eben nicht direktdemokratisch. Und dennoch spricht niemand davon, angesichts der NS-Machtergreifung via Reichstagswahlen und Abstimmung im Reichstag die repräsentativ-parlamentarische Demokratie abzuschaffen. 3. Tatsächlich sind viele politische Fragestellungen hoch komplex und zeitraubend in der Beantwortung. Und nicht jede politische Problematik bzw. Frage sollte direktdemokratisch geklärt werden, weil dies unrealistisch wäre. Fragen von wirklich nationaler Bedeutung, von hoher Relevanz, von Systemrelevanz (beispielsweise, wer alles in die Rentenkasse einzahlen sollte) für die Gesellschaft sollten jedoch vom Souverän direkt entschieden werden können. Dem können und sollten mitunter monatelange moderierte Diskussionen vorausgehen. Und es sei mir etwas Polemik erlaubt: In meiner Zeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag, im Verteidigungsausschuss als Obmann sitzend, habe ich genügend mäßig begabte Kollegen erlebt, die definitiv nicht in der Lage waren, die Komplexität des jeweiligen Themas wirklich zu erfassen. Sie folgten blind der Vorgabe ihrer Sprecher und der Fraktionsvorsitzenden – reduzierten sich also auf die Mehrheitsbeschaffung. Aber warum wird so vehement gegen das partizipative Instrument des Volksentscheids nahezu parteiübergreifend Stimmung gemacht? Die Antwort ist so einfach wie banal: Die politische Klasse – formiert in diverse Parteien – hat keinerlei Interesse, ihre Macht mit dem eigentlichen Souverän zu teilen, weder hinsichtlich der politischen Themen und Inhalte noch organisatorisch. Titelbild: Shutterstock / Rafael de Gracia[https://vg01.met.vgwort.de/na/799aa59f86434e74ac63e3748dfe2c18]

Unsere Medien manipulieren ohne Rücksicht auf Verluste. Heute meldet die Regionalzeitung Die Rheinpfalz auf der Basis einer dpa/adh-Meldung: „Merz verspricht Hilfe gegen russische Bedrohung“. Im Einführungstext ist von der „wachsenden Gefahr durch Russland“ die Rede. Und dann wird ein Foto abgedruckt. Es zeigt den Bundeskanzler, den Bundesverteidigungsminister und deutsche Soldaten mit einer deutschen Flagge in Litauen. Im Text heißt es „Abschreckung und Verteidigung sind Deutschlands Top-Prioritäten“. Und zu Anfang des Textes wird wie selbstverständlich als vernünftig unterstellt, dass die Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöht werden und weitere 1,5 Prozent zusätzlich für militärisch notwendige Infrastruktur ausgegeben werden sollen, also 5 Prozent insgesamt. – Der helle Wahnsinn. Nicht für die Zeitung und nicht für den abgebildeten Kanzler und Minister. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Jetzt wird unsere Freiheit nicht mehr am Hindukusch verteidigt, sondern im Baltikum. Da ich schon einige Jahre auf dem Buckel habe, sind mir die Tiefen und Höhen der Sicherheitsdebatte noch aus eigenem Erleben bewusst. Es fing so blöd wie heute an – mit Adenauers CDU-Anzeigen. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“. Siehe hier: [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/250523-Militarisierung-darum-cdu.jpg] Dann kamen einige deutsche Politiker nach dem Mauerbau von 1961 zur Besinnung. Im Sommer 1963 berichtete der SPD-Vorsitzende Brandt und sein Weggefährte Egon Bahr auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing von neuen Überlegungen: „Wandel durch Annäherung“ lautete jetzt die Parole. Das bedeutete praktisch: Verhandeln, zusammenarbeiten, sich annähern, um damit auch einen inneren Wandel beim politischen Gegner im Osten zu erreichen. Das betraf damals neben Russland auch Polen, Tschechien, Ungarn usw. Diese Strategie hat funktioniert. Am 28. Oktober 1969 erklärte der neue Bundeskanzler, Willy Brandt: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Es kam zum Botschafteraustausch und zu verschiedenen Verträgen mit Moskau, mit Warschau, mit Prag. Der Kern dieser Verträge: Gewaltverzicht. – Zwischenfrage: Warum geht das heute nicht? Und dann kam es zur KSZE, zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und zur OSZE, zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Heute suchen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker ihr Glück in der Aufrüstung. Das kann man gut und gerne die „Militarisierung der Politik“ nennen. Welch ein Rückschritt!! Welch ein Wahnsinn! Die meisten Medien folgen dem wie dumme Lämmer. Im konkreten Fall hat die Geschichte auch noch ein Nebenkapitel: Kanzler Merz und Verteidigungsminister Pistorius haben sinnigerweise ein Land zur neuerlichen Verkündung ihrer dummen Sprüche gewählt, das beim letzten großen Krieg in Europa sowohl Opfer des deutschen Militärs und der Nazis als auch Opfer des sowjetischen Militärs geworden war: Litauen und die baltischen Staaten insgesamt. Dass die beiden Politiker diesen Zirkus mitmachen, enttäuscht. Sie sind offensichtlich wie die meisten Medien Opfer westlicher Propaganda. Diese macht blind. Der beschriebene Rückschritt lässt übrigens trotz allem hoffen. Es könnte ja wie zwischen den 1950er-Jahren und 1963/1969 noch einmal eine Wende zur Vernunft geben. Das setzt voraus, jetzt die laufende Eskalation der Konfrontation zu stoppen. Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=133632].
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