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Acerca de SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Die Schatten der Franco-Vergangenheit in Spanien
Das Gedenken an die Opfer der Franco-Diktatur spaltet bis heute die spanische Gesellschaft: Viele wollen von der Vergangenheit nichts mehr wissen, andere suchen immer weiter nach Massengräbern, so erst vor kurzem in Valencia. Der Schatten der Vergangenheit ist nicht zu tilgen. DER DIKTATOR ZU PFERDE Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es 2007 erst eines Regierungsdekrets gegen die Verherrlichung Francisco Francos [https://www.swr.de/kultur/literatur/almudena-grandes-die-drei-hochzeiten-von-manolita-100.html] bedurfte, damit die Reiterdenkmäler – der Generalisimo auf einem stolzen Gaul, in Bronze gegossen – aus dem öffentlichen Raum verschwanden. Neun solcher Skulpturen wurden einst im ganzen Land aufgestellt und dienten seiner Glorifizierung als „Retter Spaniens“. > Kein anderer Diktator des 20. Jahrhunderts hat sich so häufig auf dem Rücken eines Pferdes verewigen lassen wie Franco. > > > Quelle: Julia Schulz-Dornburg – Wohin mit Franco? Das Unbehagen in der spanischen Erinnerungskultur Schreibt die Autorin und Architektin Julia Schulz-Dornburg in ihrem Buch Wohin mit Franco? Das Unbehagen in der spanischen Erinnerungskultur. Sie lebt in Barcelona und hat es geschafft, diese Denkmäler in diversen Depots aufzuspüren. Anlass für ihre Nachforschungen und dieses Buch war eine Ausstellung des Born-Museums in Barcelona, bei der sie 2016 eine Statue Francos öffentlich ausgestellt hat. Sie löste heftige Reaktionen bei der Bevölkerung aus, wurde mit Graffitis bemalt und mit Farbe übergossen, so dass sie nach vier Tagen entfernt werden musste. EINE TRAUMATISCHE ERFAHRUNG > Das war für mich eine so traumatische Erfahrung, dass ich als Gegengift eine Reise durch ganz Spanien unternahm, um herauszufinden, was mit den anderen Reiterdenkmälern des Diktators geschehen war. > > > Quelle: Julia Schulz-Dornburg – Wohin mit Franco? Das Unbehagen in der spanischen Erinnerungskultur Bei deren Abtransport wurden einige von ihnen reichlich ramponiert, ein Bein oder ein Arm war abgefallen, der Kopf ging meist verloren. Danach wurden sie in den hintersten Ecken von Depots „entsorgt“, Ross und Reiter getrennt. Doch es gab auch noch intakte Stücke, beispielsweise bei der Armee. > Die riesige Metallkiste beherrscht etwas theatralisch die Szene. Die Zuschauer, viele in Tarnanzug und Kampfstiefeln, mit Barett und Sonnenbrille, unterbrechen ihre Gespräche, als die Arbeiter anfangen, das Material zu entfernen, das den Reiter bedeckt. Von seinem Leichentuch befreit, reitet Franco hinter Gittern. Er wirkt eher eingesperrt als geschützt. > > > Quelle: Julia Schulz-Dornburg – Wohin mit Franco? Das Unbehagen in der spanischen Erinnerungskultur VEREHRUNG EINES SOCKELS Mit ironischem Blick beschreibt Julia Schulz-Dornburg mitunter ihre Besichtigungen beispielsweise auch eines Sockels, von dem der Reiter abgeräumt wurde, und den zeitweise unverbesserliche Franco-Anhänger wie eine Kultstätte verehrten. Geradezu obsessiv ist die Autorin den einzelnen Spuren nachgegangen und hat sie ausführlich dokumentiert. Dabei war es noch relativ unkompliziert, die Aufenthaltsorte der Franco-Statuen ausfindig zu machen. > Verglichen mit den Formalitäten, die für ihre Besichtigung erforderlich waren. Die Verhandlungen mit den Institutionen, die die Statuen verwahren (nationale Denkmalbehörden, Armee, Stiftungen und Stadtverwaltungen) zogen sich über mehr als ein Jahr. > > > Quelle: Julia Schulz-Dornburg – Wohin mit Franco? Das Unbehagen in der spanischen Erinnerungskultur Alle denkbaren öffentlichen Verhaltensweisen hat Julia Schulz-Dornburg dabei erlebt: vom totalen Schweigen, über die schroffe Ablehnung bis zur freundlichen Zusage der Genehmigung. Ein spannendes Reisetagebuch ist das Ergebnis ihrer Nachforschungen: reich illustriert mit Fotos ihrer heimlichen oder erlaubten Inspektionen der skulpturalen Überbleibsel der Franco-Diktatur.
Auch Nachahmung kann originell sein: Anne Serres Roman „Einer reist mit“
In der Musik ist die Übernahme fremder Themen – ob als Variation oder Sample – ein anerkanntes Prinzip: Das Original bleibt hörbar, wird aber durch die Interpretation Teil von etwas Neuem und Eigenständigem. In der Literatur ist diese Form der künstlerischen Hommage schwieriger zu bewerkstelligen. Ein Zitat bleibt durch seine Anführungsstriche als Fremdkörper sichtbar und wer versucht, etwa den Tonfall von Franz Kafka [https://www.swr.de/kultur/literatur/franz-kafka-in-der-strafkolonie-102.html] zu imitieren, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. LITERATUR ALS SPIEL Die 1960 geborene Autorin Anne Serre [https://www.swr.de/kultur/literatur/swr-bestenliste-20230903-1705-swr-bestenliste-september-100.html] gibt mit ihren Büchern eine überraschende Antwort auf das Problem literarischer Variation: Sie begreift Literatur als Spiel – mit den Lesern, vor allem aber unter Autoren, die einander, wie in einer Jonglage, bunte Bälle der Referenz zuwerfen. Serres liebster Spielkamerad ist der 1948 geborene spanische Romancier Enrique Vila-Matas – zuletzt auch er einer der Dauerfavoriten auf den Literaturnobelpreis [https://www.swr.de/kultur/literatur/eine-sehr-sehr-gute-entscheidung-literaturnobelpreis-fuer-laszlo-krasznahorkai-100.html]. In seinen Romanen, die sich in direkter Nachbarschaft zu den Werken Jorge Luis Borges' und Roberto Bolaños bewegen, wimmelte es nur so von falschen Fährten, doppelten Böden und erfundenen Schriftstellern. Dieses Spiel mit fiktiven Autoritäten ist nicht zuletzt immer auch ein Spiel mit dem Status des Autors selbst – und führt verlässlich die Erwartungen seiner Leser ad absurdum. Anne Serres 2017 erschienener Roman „Voyage avec Vila-Matas“, der nun in Patricia Klobusiczkys exzellenter Übersetzung als „Einer reist mit“ auf deutsch vorliegt, ist ihre Hommage an den spanischen Kollegen. Ein Werk, das nicht nur von ihm handelt, sondern klingt, als hätte er es selbst geschrieben. EIN TEXT WIE EIN FREUNDSCHAFTLICHES ZWIEGESPRÄCH Dem ersten Anschein nach handelt es sich bei diesem Roman um einen autobiografischen Text. Auch die Erzählerin heißt Anne, auch sie wurde in Bordeaux geboren, auch sie lebt als erfolgreiche Autorin in Paris. Aber mit Schreibhemmungen. Und mit der lästigen Pflicht einer Lesereise nach Montauban. > Jedes Mal überlege ich mir zehn verschiedene Ausflüchte, und in einem von zehn Fällen suche ich mir eine aus und sage in letzter Minute ab, auf so dramatische Weise, dass alle Welt mir glaubt, sogar ich selbst. Meine Mutter sei gerade gestorben, mein Sohn (ich bin kinderlos) sei schwer erkrankt, ich hätte entsetzliche Rückenschmerzen (diese Ausrede verwende ich aber nur im Extremfall, denn ich bin abergläubisch), gleich komme ein Klempner, um meinen kurz vor der Explosion stehenden Boiler zu reparieren. > > > Quelle: Anne Serre – Einer reist mit So leichtgängig und mündlich ist Serres Text, dass es sich anfühlt, als säßen wir tatsächlich mit Anne in ihrem Zimmer, vielleicht auf dem Bett, während sie etwas zerstreut ihre Tasche für die Reise packt und uns dabei, wie einem guten Freund, Intimes und Banales erzählte. DEKONSTRUKTION VON AUTORENSCHAFT Bei der Lektüre löst diese Intimität den Reflex autofiktionaler Interpretation aus, den Wunsch, die Autorin mit dem Geschriebenen zu identifizieren. Eine Leseerwartung, die Serre antizipiert und mit der sie im Laufe des Romans genüsslich spielt, wenn sie etwa fiktive und echte Autoren miteinander ins Gespräch kommen lässt – und damit auf den bewährten Erzähltrick von Vila-Matas zurückgreift, der Anne wie ein literarischer Patronus durch den Roman begleitet. > Was ich bei Vila-Matas unter anderem liebe, sagte ich, ist sein Gebrauch von Kommas, die keine Kommas sind, sondern erfundene Zitate von erfundenen Schriftstellern, wenn er seinen Satz und seine Aussage rhythmisieren möchte. ‚Wie schon XY sagte‘, schreibt er, und dieser XY trägt meist einen spanischen Namen und lebt in Südamerika, ohne dass Google oder GPS ihn je orten könnte. > > > Quelle: Anne Serre – Einer reist mit Anne Serre hat ein wunderbar heiteres und anarchisches Buch über Autorenschaft geschrieben, in dem nicht nur der heilige dokumentarische Ernst autofiktionaler Literatur in Frage gestellt wird, sondern auch das Ideal echter literarischer Originalität. Ein Buch, das zwar schwer zu beschreiben, aber leicht zu lesen ist.
Mit aktuellen Büchern von Salman Rushdie, John Banville und Sigrid Nunez
Prag, Venedig, Märchenwelten – Literatur in Bewegung
Das Pinseläffchen Mitz – und wie es die Welt sah
Es muss ein lustiger Anblick gewesen sein: Aus der Weste von Leonard Woolf, Verleger und Autor, obendrein Gatte der berühmten Virginia Woolf, lugt ein winziges, verfrorenes Pinseläffchen namens Mitz heraus. Als die Woolfs 1935 per Automobil Hitler-Deutschland durchqueren und in Bonn in eine Nazi-Kundgebung hineingeraten, hilft ihnen das Äffchen dabei, misstrauische Polizisten zu besänftigen. Lachend über das putzige Wesen, bahnen sie den Weg für die beiden Briten, die sich auf ihrem Trip durchs Reich sichtlich unwohl fühlen. Sigrid Nunez beschreibt in ihrem Roman „Mitz, das Pinseläffchen“, übersetzt von Anette Grube, solche Szenen auf lakonische Weise. Und sie erzählt, wie das winzige Äffchen aus der Gattung der Marmosetten in den literarischen Haushalt der Woolfs kam: Leonard verliebt sich gleich in das Wesen, als es ihm bei den Rothschilds, sehr reichen Freunden, vorgestellt wird. Virginia entdeckt in dem kleinen Gesicht etwas allzu Menschliches: > Das Gesicht einer Elfe, Körper und Schwanz eines Nagetiers: Es war diese Kombination, die aus Mitz so ein Wunder machte. Man sah sie an und dachte: Wie grotesk. Um im nächsten Augenblick: Wie bezaubernd. Und dann wieder: Wie grotesk. > > > Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen MITZ WIRD AUFGEPÄPPELT Die Rothschilds geben das abgemagerte Tier in die Hände Leonards; es wird aufgepäppelt, freundet sich mit dem Hund Pinka an, nimmt vergnügt an Abendgesellschaften teil, fühlt sich aber am wohlsten in den vier Wänden der Woolfs. > Zu viele Soireen griffen ihre Nerven an und verursachten ihr Kopfschmerzen, und gleichgültig wie viel Spaß sie hatte, sie war immer froh, wieder zu Hause zu sein, denn nichts war ihr lieber als diese schlichten, mit Büchern gefüllten Zimmer, ihr eigener gemütlicher Vogelkäfig, ihr eigenes Feuer im Kamin. > > > Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen Was zunächst etwas betulich erscheint, entwickelt eine schöne, ruhige, fließende Erzählkraft. Alles ist sehr klar und anschaulich und lebendig. VIRGINIA SPIEGELT SICH IN MITZ In der kurzen Lebensspanne von Mitz, den Jahren zwischen 1934 und 1938, bekommen wir Einblick in die auf Wohlwollen und kreativer Unbändigkeit basierende Künstlerehe. Wir sehen Leonard und Virginia am Abend lesend am Kamin sitzen, neue Ideen entwickeln, zweifeln und spotten. Mitz ist unser kleiner Spion in diese Welt. Über das Äffchen vermittelt sich nicht nur das Sichtbare, sondern auch das Unausgesprochene: die Routinen und Belastungen, die Zärtlichkeit und Traurigkeit. Nicht zuletzt ist das Tier, ohne dass Nunez dieses Motiv überstrapaziert, ein Spiegel für Virginia Woolf. > Zwei nervöse, zerbrechliche, misstrauische weibliche Wesen, die eine genauso unermüdlich neugierig wie die andere. Beide verliebt in Leonard – für beide war er der Fels in der Brandung, der ‚unantastbare Mittelpunkt‘. Beide waren spitzbübisch. Beide hatten Krallen. > > > Quelle: Sigrid Nunez: Mitz, das Pinseläffchen EINE SCHWERMÜTIGE NOTE Nunez referiert mit „Mitz“ auf Virgina Woolfs humoristische Biografie „Flush“ über Elizabeth Barrett Brownings Cocker Spaniel; sie nutzt Material aus Tagebüchern und Briefen. Aber es ist nicht nur ein heiteres, anspielungsreiches Buch, das zwischen historischer Akkuratesse und erfindungsreicher Freiheit oszilliert. Es ist nicht nur ein Buch, in dem Nunez zum ersten Mal in ihrem Werk die rätselhafte Beziehung zwischen Tier und Mensch umkreist. „Mitz“ erzählt auch von dem Unheil, das 1938 am Horizont schon aufscheint: Kurz vor seinem Tod erfahren wir, wie das Pinseläffchen und seine Artgenossen aus ihrem südamerikanischen Habitat gerissen und nach England verbracht wurden. Nur wenig später wird der Zweite Weltkrieg beginnen, Menschen werden wie Tiere behandelt, verschleppt, misshandelt, getötet. Kurz darauf, 1941, auch das ist beim Lesen gegenwärtig, wählt Virginia Woolf den Freitod. All das wissend, schleicht sich in diesen anrührenden, auf schöne Weise bedächtig und souverän erzählten Roman eine schwermütige Note.
Die Drehung der Schraube
Venedig kann sehr kalt sein. Und sehr neblig. Zum Beispiel am Neujahrstag des Jahres 1900: Zwei Jungvermählte aus London, der Engländer Evelyn Dolman und seine Frau Laura, Tochter eines amerikanischen Öl- und Eisenbahntycoons, treffen ein in der Lagunenstadt, während der feuchte Abend dämmert. Geplant war eine Art verspätete Hochzeitsreise, stattdessen folgt für Evelyn eine Zeit immer fataler werdender Verstrickung und ruinöser Verwirrung. > Warum nur, warum, fragte ich mich, hatte ich eingewilligt, mit in diese künstliche, trostlose, wassergetränkte Stadt zu kommen? > > > Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln RÄTSELHAFTE DINGE IM PALAZZO In der ersten Nacht will er sich nur die Beine vertreten und gerät in die Fänge des luziferischen Landsmanns Frederick und dessen schöner Schwester Francesca. Als Evelyn nach diesem Abend volltrunken zurückkehrt in den weitläufig-unheimlichen Palazzo Dioscuri, wo das junge Paar sich einquartiert hat, vergewaltigt er seine Frau. Am nächsten Tag ist Laura verschwunden. > Ich mühte mich zu denken, mich zu erinnern. Mein Gehirn kam mir vor wie ein blindes, im Untergrund lebendes Wesen, das sich unbeholfen den Weg hinauf ins Licht bahnt. Was war gestern Abend geschehen? > > > Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln Doch anstatt nach ihr zu suchen oder die Polizei zu informieren, lässt sich Evelyn weiter von Freddy und vor allem Cesca einwickeln, in die er sich Knall auf Fall verliebt hat. Nach und nach treten in John Banvilles neuem Roman „Schatten der Gondeln“ die schwerwiegenden Hypotheken dieser Ehe vor das Leserauge: ein tyrannischer Schwiegervater, der kurz vor seinem nicht unverdächtigen Tod aus unbekanntem Grund seine Tochter enterbt hat, eine seltsam distanzierte Ehefrau, deren Innenleben beunruhigende Geheimnisse zu verbergen scheint. Währenddessen spielen sich im Palazzo rätselhafte Dinge ab, Geistererscheinungen, die irgendwann in wilde Ausschweifung übergehen. Die Serenissima zeigt sich alles andere als heiter, sondern ist voller unergründlicher Kanäle und finsterer Gestalten, von denen Evelyn sich verfolgt fühlt. Zeitweise glaubt er, wahnsinnig zu werden. GROSSE VORBILDER, GROSSE FALLHÖHE John Banville hat nicht grundlos ein Zitat aus Henry James‘ Horrorklassiker „Die Drehung der Schraube“ als Motto gewählt. Sein Buch versammelt alles, was ein viktorianischer Schauerroman braucht. Aber nicht nur Handlung und Leitmotive verweisen auf große Vorbilder. Bei wem er sich hier bedient, benennt Banville ganz offen. Sein Ich-Erzähler Evelyn Dolman versteht sich selbst als Literat, allerdings als gescheiterter. Ein „Schreiberling“ sei er, sagt er über sich selbst, der sich mit dem Verfassen von Reiseführern über Wasser hält. Umso demütigender, da er mit großen Ambitionen angetreten war: > [...] meine Ziele waren die mächtigsten Ungetüme des literarischen Dschungels, die Henry Jamese, die George Eliots, die Conrads und die Hardys und die Ford Madox Fords. > > > Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln Tatsächlich erinnert Banvilles literarisches Vorgehen stark an die psychologischen Vexierspiele in berühmten Romanen und Erzählungen von Henry James – tragikomische kulturelle Missverständnisse des Briten im Ausland inklusive. Vor allem aber ist der bedauernswerte Evelyn Dolman eine besonders eigenwillige Ausprägung des unzuverlässigen Erzählers: ähnlich dem scheinbar ahnungslosen, sich selbst und damit die Leser in einer Tour belügenden Trottel John Dowell, der Madox Fords Roman „Die allertraurigste Geschichte“ erzählt. ACHTLOS UND TÖRICHT IN DIE EIGENE ZERSTÖRUNG GESTÜRZT Wie in diesem bis heute lesenswerten Meilenstein der englischsprachigen Literatur blickt auch Banvilles Erzähler auf ein Geschehen zurück, das er nie wirklich verstanden hat. Immer und immer wieder blitzen Hinweise auf das schlimme Ende auf. Auch das kennt man – hier wirkt es aber vor allem wie ein absichtsvolles Signal an die Leser, wie virtuos der Autor mit dieser Erzähl-Trope spielt. > Jetzt blicke ich zurück und sehe mich damals als einen völlig anderen Menschen, töricht, eitel und bedürftig, der sich achtlos in die eigene Zerstörung stürzte. Es besteht kein Zweifel, ich habe alles verdient, was ich bekommen habe. Aber wie gesagt, ich muss meine arme, traurige Geschichte so erzählen, wie sie sich zugetragen hat, und nicht, wie ich mich heute daran erinnere, voll Kummer und bitterer Reue. > > > Quelle: John Banville ‒ Schatten der Gondeln Zwar spricht in unseren postmodernen Zeiten eigentlich nichts dagegen, in der Art eines literarischen Re-Enactments alte Formen wie die Gothic Novel oder die Ghost Story aus der Vitrine zu nehmen und aufzupolieren, bis sie glänzen wie neu. Aber in „Schatten der Gondeln“ mit seinen fast vierhundert Seiten wird einfach viel zu lang poliert und mit deutlich zu viel Aufwand für einen dürftigen Ertrag. Die bewährten Zutaten, die Banville versammelt – ein vages Gesicht am Fenster, geheime Kammern, eine übersexualisierte Mänade im Markusdom, ein dämonischer Graf und seine rätselhaft willige Dienstmagd –, erregen in ihrer Gesuchtheit weder Schrecken noch erotischen Schauder. Dass der ebenso eingebildete wie bornierte Ich-Erzähler sein Misstrauen auf die verschlagenen Einheimischen richtet und nicht etwa auf seine undurchsichtige Frau und seine zwielichtigen Landsleute, deren Machenschaften seinen Untergang besiegeln, ist von eher plumper Ironie. Zumal die Intrige der Kriminalhandlung ebenso löchrig wie vorhersehbar ist. IST DIESES VENEDIG VIELLEICHT EINFACH AUSERZÄHLT? Vielleicht ist Venedig als Topos mit seinen verdächtigen Schatten, traurigen Gondeln, bröckelnden Palazzi, seinen Kanälen und Kaschemmen einfach so sehr auserzählt, dass jede Neubefassung entweder gleich zum Brunetti-Krimi wird oder zum Versuch, einen zusammengeflickten Leichnam galvanisch zum Leben zu erwecken. Vielleicht hat John Banville sich für sein Spiel mit literarischen Traditionen und kulturgeschichtlichen Referenzen aber auch einfach zu viel vor- und all das dann nicht mehr recht ernst genommen.
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