
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Podcast door Redaktion NachDenkSeiten
Tijdelijke aanbieding
3 maanden voor € 1
Daarna € 9,99 / maandElk moment opzegbaar.

Meer dan 1 miljoen luisteraars
Je zult van Podimo houden en je bent niet de enige
Rated 4.7 in the App Store
Over NachDenkSeiten – Die kritische Website
NachDenkSeiten - Die kritische Website
Alle afleveringen
4144 afleveringen
Im ersten Teil unseres Interviews [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136481] mit Christoph Polajner von der Eurasien Gesellschaft haben wir über Russlands Sicht auf die sich wandelnde Weltordnung und die veränderten Beziehungen zum Westen gesprochen, wie sie auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum (SPIEF) diskutiert wurden. Im folgenden zweiten Teil beleuchtet Polajner die Rolle des Ukraine-Kriegs, die Resilienz der russischen Wirtschaft angesichts der Sanktionen und Russlands langfristige strategische Neuausrichtungen. Das Interview führte Éva Péli am 14. Juli 2025. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Éva Péli: Herr Polajner, war der Ukraine-Krieg ein dominantes Thema auf dem Forum, und welche Facetten des Konflikts wurden dabei von russischer Seite diskutiert? Christoph Polajner: Ja, selbstverständlich, in den vergangenen und auch in diesem Jahr war der Konflikt ein großes Thema, sowohl seine Ursachen als auch seine Auswirkungen auf Russland und die internationale Sicherheit und Ordnung. Es gab Diskussionen darüber, wie man Rückkehrer aus den Kämpfen – also demobilisierte Soldaten oder Verwundete – wieder in die russische Gesellschaft und Wirtschaft integrieren kann. Es wurden auch die Probleme für die russische Wirtschaft angesprochen – wie weggebrochene Lieferketten oder die hohen Zinsen, die vielen Firmen die Kreditaufnahme erschweren – als auch die aus den Sanktionen resultierenden Vorteile. Ich habe eine ganze Reihe von Personen getroffen, die sagten, die Sanktionen seien unterm Strich gut für die russische Wirtschaft gewesen. Nach der Deindustrialisierung in den 90er-Jahren hatte Russland seine Wirtschaft stark auf den Export von Rohstoffen und den Import vieler benötigter Güter ausgerichtet. Mehrere Teilnehmer äußerten, dass die EU und die USA Russland durch die Sanktionen gezwungen hätten, „die Ärmel hochzukrempeln“ und die Dinge selbst herzustellen. Ich glaube, das ist eine wesentliche Lehre, die die Russen aus den Sanktionen gezogen haben: Sie müssen in vielen wesentlichen Wirtschaftsbereichen weitestgehend souverän werden. Das bedeutet, eine eigene industrielle Basis aufzubauen und viele Dinge auch im Bereich der Hochtechnologie selbst herzustellen, wie zum Beispiel eine eigene russische Cloud. Ziel ist es, nie wieder in die Abhängigkeit zu geraten, in der man sich zwischenzeitlich befand. Wie beurteilen Sie den Zustand der russischen Wirtschaft? Welche Resilienz und welche Herausforderungen wurden dabei sichtbar? Ich kann den Zustand der russischen Wirtschaft nur auf Basis meiner Eindrücke und der Diskussionen vor Ort bewerten. Doch generell, und das hat sich mittlerweile auch hierzulande herumgesprochen, war die russische Wirtschaft in den letzten Jahren wesentlich resilienter als viele vermuteten. 2022 herrschte hier die weit verbreitete Annahme, die russische Wirtschaft würde kollabieren und dies zu politischen Veränderungen in Russland führen. Dies ist erkennbar nicht eingetreten; Russland verzeichnete in den vergangenen beiden Jahren Wirtschaftswachstumszahlen von über vier Prozent. In diesem Jahr geht die Regierung von 2,5 Prozent aus. Auf den ersten Blick sind kaum Auswirkungen der Sanktionen erkennbar. Bei genauerer Betrachtung gibt es jedoch in Teilbereichen Probleme: Nicht alles kann substituiert werden, oder nur zu hohen Preisen. Gewisse Investitionen konnten zwar einige Jahre aufgeschoben werden, doch wie bei einem Gummiband, das man nicht beliebig weit dehnen kann, gibt es auch hier Grenzen. Die Auswirkungen der hohen Zinsen sind klar spürbar. Der Leitzins der Zentralbank hat sich seit Anfang 2022 auf zwischenzeitlich 21 Prozent fast verdreifacht und wurde kürzlich auf 20 Prozent gesenkt (Anm. d. Red.: In der Zeit zwischen dem Interview und der Veröffentlichung wurde der Leitzins um weitere zwei Prozentpunkte auf 18 Prozent gesenkt. Die grundsätzliche Problematik bleibt bestehen). Für Unternehmen bedeutet das, dass sie rund 25 Prozent Zinsen für neue Kredite bezahlen. Kaum eine Firma kann dies erwirtschaften, besonders in kapitalintensiven Branchen oder bei mehrjährigen Projekten. Dies führt zu Problemen in bestimmten Sektoren und hemmt die Investitionsbereitschaft. Auch wenn das Eigenkapital vorhanden ist, braucht es eine außergewöhnlich gute Geschäftsidee, um das Risiko einer Investition einzugehen und noch höhere Erträge zu erzielen, wenn man das Geld auch zu 20 Prozent Verzinsung bei der Bank anlegen kann. Dies ist sehr deutlich wahrnehmbar. Der Staat versucht, die hohen Zinsen mit Instrumenten wie Förderkreditprogrammen oder Innovationsförderprogrammen teilweise abzufedern. Gleichzeitig ermöglicht die Situation vielen Menschen, sich mit guten Geschäftsideen selbstständig zu machen, oder bestehenden Unternehmen, ihre Geschäftsfelder auszudehnen. Dies geschieht oft in einem temporären „Schutzraum“, da ein Teil der ausländischen Konkurrenz den Markt verlassen hat. Welche langfristigen Zukunftsperspektiven und strategischen Neuausrichtungen Russlands wurden auf dem Forum diskutiert? Wir haben bereits einige Punkte angesprochen. Erstens, die unumkehrbare Veränderung des internationalen Systems. Russland ist überzeugt, dass eine Rückkehr zur Ordnung von 2021 ausgeschlossen ist; die Weltordnung der nahen und mittleren Zukunft wird eine andere sein. Präsident Putin betonte bereits 2022 auf dem Forum, dass Russland diese neue Ordnung aktiv mitgestalten müsse, um seine staatliche Souveränität zu bewahren. Diese Souveränität sei unteilbar und müsse in allen Bereichen vorangetrieben werden. Abzuwarten und die Dinge geschehen zu lassen, wäre das Gefährlichste. Zweitens: Russland hat dafür eine Reihe von Partnern identifiziert und baut diese Beziehungen intensiv aus, allen voran mit China, aber auch mit vielen Staaten aus Zentral- und Südostasien, Afrika, der arabischen Welt und Lateinamerika, dem sogenannten Globalen Süden. Diese Formate entwickeln sich erst mit der Zeit. Ich habe 2022 sehr deutlich wahrgenommen, dass es noch ein großer Findungsprozess war. Das Forum im Juni 2022 war von der Notwendigkeit geprägt, zu analysieren, was in den Monaten zuvor geschehen war, wie es einzuordnen ist und welche Möglichkeiten bestehen. Einiges ist in den letzten Jahren sicherlich besser gelungen, als viele damals dachten, manches aber auch schlechter. Ich habe beispielsweise eine gewisse Enttäuschung wahrgenommen: Trotz der vielen Partner, die Russland gefunden hat, ist der Zugang zu den Finanzmärkten schwierig geblieben, da viele Staaten Angst vor US-amerikanischen oder europäischen Sekundärsanktionen haben. Bereits 2022 wurde intensiv darüber diskutiert, Alternativen zum US-Dollar als Reserve- und Handelswährung zu etablieren und den Handel zwischen einzelnen Staaten verstärkt in nationalen Währungen abzuwickeln. Auch die Suche nach Alternativen zum SWIFT-System, von dem viele russische Banken ausgeschlossen wurden, war ein zentrales Thema. Solche Entwicklungen geschehen nicht über Nacht. Es gab Diskussionen innerhalb der BRICS-Staaten, wo es durchaus unterschiedliche Positionen dazu gibt. Mein Eindruck ist jedoch, dass gerade die massiven Sanktionen der EU und der USA einen Katalysator-Effekt hatten und diese Prozesse, die vielleicht ohnehin stattgefunden hätten, deutlich beschleunigt haben. Was waren die Schlüsselthemen, die für die zukünftigen deutsch-russischen und europäischen Wirtschaftsbeziehungen von besonderer Relevanz waren, und welche grundlegenden Veränderungen zeichnen sich hier ab? Ein ganz klares Schlüsselthema war die deutliche Abwendung Russlands von der Europäischen Union. Mein Eindruck ist, dass Russland von den späten 1980ern bis in die 2000er-Jahre hinein stark daran interessiert war, Teil eines gemeinsamen europäischen Raums zu werden. Das war auch in den Anfängen der Amtszeit von Präsident Putin deutlich erkennbar. Dies hat im Laufe der Zeit etwas abgenommen, wie auch an seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 deutlich wurde. 2014 markierten die Annexion der Krim sowie die darauffolgenden Sanktionen der EU und der USA gegen Russland einen weiteren deutlichen Einschnitt und eine klare Zuwendung Russlands zu China. Auch hier hatten die Sanktionen einen Katalysatoreffekt. Der Bau der Pipeline „Kraft Sibiriens 1“ zum Transport von Gas aus Russland nach China war lange Jahre zwischen beiden Staaten verhandelt worden. Erst unter dem Druck der Sanktionen kam es 2014 zum Durchbruch in den Verhandlungen und zur Unterzeichnung eines Vertrags mit 30-jähriger Laufzeit. 2022 hat sich die geopolitische Neuorientierung Russlands nochmals verstärkt: Russland hat, teils erzwungen, teils aus eigenem Antrieb, die Entscheidung getroffen, sich dem Globalen Süden zuzuwenden. Das hat strukturelle Konsequenzen für die Entwicklung von Organisationen wie den BRICS oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und auch für die Infrastruktur. Es gibt vermehrte Investitionen im Fernen Osten und eine Zusammenarbeit auf allen Ebenen mit der Volksrepublik China. Auch hierzu gab es in diesem Jahr eine interessante Podiumsdiskussion. Ein zweiter wichtiger Punkt war der Abzug europäischer Unternehmen aus Russland. Die russische Position hierzu ist klar: Man habe die Firmen nicht zum Verlassen des Landes gezwungen. Insbesondere seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wird in Russland und den USA zunehmend darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen Firmen aus der EU oder den Vereinigten Staaten nach Russland zurückkehren könnten. Es gibt hierzu regelmäßige Diskussionen und verschiedene Vorschläge, wobei die Positionen sehr unterschiedlich sind. Einige wirtschaftlich erfolgreiche Russen wünschen keine europäische oder US-amerikanische Konkurrenz mehr. Präsident Putin selbst vertritt die Position, dass Konkurrenz für die russische Wirtschaft wichtig sei und eine Rückkehr der Firmen prinzipiell erlaubt werden solle. Man wolle jedoch prüfen, wie sich die Firmen in der Vergangenheit positioniert haben, wie wichtig sie für den russischen Markt seien, und dann über die Bedingungen einer Rückkehr sprechen. Auch hier ist mein Eindruck, dass eine Rückkehr zur Situation von 2021 nicht möglich sein wird. Wie in den 1990er-Jahren muss man sich jetzt erst wieder neu finden und neu verhandeln, unter welchen Regeln man auf welchen Ebenen miteinander umgeht. Ich sehe hier, vielleicht auch aufgrund meiner früheren Arbeit in China, eine Tendenz Russlands zu einem kontrollierten Öffnungsmodell des Marktes, ähnlich dem chinesischen Modell. Der Marktzugang würde dann unter ganz anderen Bedingungen erfolgen als in den 1990er-Jahren. Wir hatten zu Beginn von der Entstehung des SPIEF in den Jahren nach der Schocktherapie gesprochen. Die Sanktionen sind eine zweite Schocktherapie für die russische Wirtschaft, aber dieses Mal vielleicht in Teilen heilsamer. Lesen Sie auch den ersten Teil des Interviews: „Ein Blick hinter die Kulissen des SPIEF: Russlands Perspektive auf eine sich wandelnde Weltordnung“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136481] Über den Interviewpartner: Christoph Polajner berät in den Schnittpunkten von Geopolitik, Geoökonomie, Außenpolitik und Wirtschaft und ist Gründungsmitglied und Stellvertretender Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft mit Sitz in Berlin. Seine geographischen Schwerpunkte sind China und Russland, inhaltlich sind es Eurasien, die BRICS, die Shanghai Cooperation Organization, der Ukrainekonflikt und die chinesisch-russischen Beziehungen. Er war lange Jahre weltweit tätig: in Lateinamerika, Afrika, Südostasien, Zentralasien, der Ukraine, China und Russland, den Großteil der Zeit für eine humanitäre Organisation. Er hat einen Master-Abschluss in Chinese Studies mit den Schwerpunkten chinesischer Außenpolitik und Wirtschaft. Titelbild: Christoph Polajner[https://vg01.met.vgwort.de/na/80697758bb9e443ca57c0b8f9e92d5f4]

Das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten müssen dem abzulehnenden „Deal“ zwischen EU und USA noch zustimmen. Wenn dort verantwortungsvolle Politiker sitzen würden, könnte die geplante Selbstdemontage der EU also noch abgewendet werden. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Wie selbstzerstörerisch der angestrebte „Deal“ der EU mit den USA und die kurz zuvor verhängten EU-Sanktionen gegen Nord-Stream, Russland und andere Staaten wirken, wurde bereits gestern im Artikel „EU beschließt Selbstzerstörung: Durch Sanktionen und US-Unterwerfung [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136577]” beschrieben. Es gibt noch Möglichkeiten, diese Selbstsabotage abzuwenden: Das EU-Parlament muss ihr wie auch die Mitgliedsstaaten zustimmen, wie die „Tagesschau“ berichtet [https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/zollstreit-usa-trump-eu-100.html]. Der EU-Abgeordnete des BSW, Fabio De Masi, schreibt dazu [https://x.com/FabioDeMasi/status/1949824368646693237]: > „Die spannende Frage wird sein ob von der Leyen versuchen wird das Europäische Parlament zu entmachten (was ich ihr zutraue) und ob das EP sich dies gefallen lässt (was ich ihm leider ebenfalls zutraue) a) die EU-Kommission könnte möglicherweise gewillt sein unterhalb der Schwelle eines Handelsabkommens die Zustimmung des Europäischen Parlaments in Form einer einseitigen Durchführungsverordnung zu umgehen (…).“ Die laute Kritik der Heuchler Inzwischen ist laute Kritik an der Zoll-Einigung laut geworden – zum Teil auch in „etablierten“ Medien, wie etwa dieser Artikel zitiert [https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100840622/zoll-deal-von-eu-und-usa-so-reagiert-die-internationale-presse.html]. Diese Kritik vonseiten der zitierten Mainstream-Medien ist aber überwiegend als Heuchelei einzuordnen: Wer den Wirtschafts- und Propagandakrieg gegen Russland mit vorangetrieben hat, wie zahlreiche Journalisten großer deutscher Medien, der trägt eine große Mitverantwortung (unter anderem) an dem jetzigen angeblichen „Zwang“, Unsummen für Rüstung und Fracking-Gas ausgeben zu „müssen“ – Unsummen, die laut dem Deal nun auch in die USA fließen werden. Und wer – wie zahlreiche deutsche Journalisten – nicht nur für eine EU-Konfrontation gegenüber Russland, sondern auch noch gegenüber China getrommelt hat, der trägt eine starke Mitverantwortung daran, dass der strategische Spielraum der EU gegenüber den USA massiv und ohne Not eingeschränkt ist. Für die in der EU bestimmenden transatlantischen Kräfte ist diese selber angerichtete Verengung der strategischen Möglichkeiten kein Nachteil, denn der Verlust geo- und wirtschaftspolitischer Alternativen „zwingt“ die EU-Staaten umso mehr zu Disziplin bzw. Unterwerfung gegenüber den USA. Fabio De Masi schreibt dazu [https://x.com/FabioDeMasi/status/1949854671444578414]: > „Die EU hat versucht ohne ein Ass im Ärmel und nach Jahren fehlgeleiteter Wirtschafts- und Energiepolitik einen Drei-Fronten-Wirtschaftskrieg (USA, Russland und China) zu führen.“ Ein „Kolonialvertrag“ Wie am Anfang dieses Artikels beschrieben wird: EU-Parlament und Nationalstaaten könnten den „Deal“ noch verhindern. Der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei) schreibt dazu [https://x.com/MartinSonneborn/status/1949763337123667973]: > „Nichts an diesem ‚Deal‘ ist auch nur akzeptabel – er wird die EU ökonomisch niederwerfen, geopolitisch vernichten und innerlich zerreißen. Wenn die europäische Wirtschaft, die europäischen Bürger, die europäischen Regierungen Frau von der Leyen diesen Kolonialvertrag durchgehen lassen, dann haben sie genau die Kommissionspräsidentin, die sie verdienen.“ Titelbild: Tomas Ragina / Shutterstock Mehr zum Thema: EU beschließt Selbstzerstörung: Durch Sanktionen und US-Unterwerfung [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136577] EU-Verbot russischer Gasimporte – Selbstmord auf Raten [https://www.nachdenkseiten.de/?p=132562] Klimapolitik paradox: LNG-Gas aus den USA ist bis zu dreimal so klimaschädlich wie Kohle [https://www.nachdenkseiten.de/?p=108069] Das Zeitfenster für eine mögliche Sanierung von Nord Stream schließt sich [https://www.nachdenkseiten.de/?p=127213] Die Grünen rufen (schon wieder) „Haltet den Dieb!“ – Jetzt soll die Gas-Geschichte umgeschrieben werden [https://www.nachdenkseiten.de/?p=133228] Russisches Gas – jetzt: Alles andere ist doch nur Theater [https://www.nachdenkseiten.de/?p=107686] [https://vg04.met.vgwort.de/na/fa3b47a815584ac1bc063132e7b95d56]

Trotz Vollzeitjob abends in der Notunterkunft oder gar auf der Straße schlafen – was nach einem unvorstellbaren Widerspruch klingt, ist in Deutschland längst Realität: Tausende Menschen finden trotz Erwerbsarbeit keine eigene Wohnung. Diese Menschen führen ein Leben im permanenten Ausnahmezustand – sichtbar vielleicht für Sozialarbeiter vor Ort, im politischen Berlin jedoch weitgehend unsichtbar. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die gängigen Klischees von Obdachlosigkeit (Faulheit, Sucht, „selbst schuld“) greifen hier nicht: Diese Betroffenen gehen einer Arbeit nach und gehören dennoch zum wachsenden Phänomen der sogenannten „Working Poor ohne Wohnsitz“ (Working Poor = Menschen, die arm sind, obwohl sie arbeiten). Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat sich der Anteil erwerbstätiger Wohnungsloser in Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts nahezu verdoppelt. 2009 hatten rund 6 Prozent der Wohnungslosen einen Job, 2019 waren es bereits 11,7 Prozent – also jeder Neunte. In Großstädten und Ballungsräumen sprechen Sozialarbeiter inzwischen von einem festen Personenkreis, der tagsüber in niedrig entlohnten Jobs arbeitet und abends mangels Wohnung in Notquartieren, Wohnheimen oder improvisierten Schlafplätzen unterkommt. Aktuelle Zahlen unterstreichen die Dramatik noch: Offiziell waren Ende Januar 2024 547.200 Menschen in Deutschland obdach- oder wohnungslos. Darin eingerechnet sind zwar auch Geflüchtete ohne eigene Bleibe – doch selbst abzüglich dieser Gruppe bleibt eine historisch hohe Zahl von Einheimischen ohne Wohnung. Unter ihnen befindet sich eine wachsende „neue Unterschicht“ aus Erwerbstätigen, die trotz regelmäßigen Einkommens durchs Raster des Wohnungsmarkts fallen. Ihr Alltag ist von ständiger Unsicherheit geprägt: Sie pendeln zwischen Arbeitsstelle und Notunterkunft, lagern Habseligkeiten in Spinden oder bei Freunden, kämpfen mit bürokratischen Hürden (ohne feste Meldeadresse) und stehen unter enormen psychischem Druck, Job und Wohnungslosigkeit zugleich zu bewältigen. Viele schämen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie sich trotz eigener Arbeit als „nicht bedürftig genug“ für klassische Obdachlosenhilfe empfinden. Kurz: Diese Menschen führen ein Leben im permanenten Ausnahmezustand – sichtbar vielleicht für Sozialarbeiter vor Ort, im politischen Berlin jedoch weitgehend unsichtbar. Wer wird gehört? Demokratietheoretisch gilt „politische Responsivität“ als Gradmesser dafür, inwieweit Regierende auf die Anliegen und Wünsche aller Bevölkerungsgruppen eingehen. In der idealen Demokratie sollte politische Gleichheit herrschen – das heißt, kein Anliegen einer sozialen Gruppe wird systematisch überhört. Die Realität jedoch weicht von diesem Ideal ab. Studien zeigen, dass in modernen Demokratien vor allem die Anliegen einkommensschwacher und an den Rand gedrängter Gruppen häufig unberücksichtigt bleiben. So fand die Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer für Deutschland eine „starke soziale Schieflage in der politischen Repräsentation“: Entscheidungen fielen deutlich zugunsten der oberen Berufsgruppen aus, während die politischen Anliegen der unteren Schichten von keiner Regierungspartei aufgegriffen wurden. Anders formuliert: Wer arm oder ohne Einfluss ist, dessen Stimme verhallt oft im politischen Prozess. Wenn ganze Gruppen – etwa Geringverdienende, prekär Beschäftigte oder gar Erwerbstätige ohne eigene Wohnung – kaum Chancen haben, mit ihren Interessen durchzudringen, wird das demokratische Versprechen der Gleichheit verletzt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie repräsentativ die Politik des Bundestages tatsächlich ist – und wer systematisch außen vor bleibt. Ungleiches Gehör im Bundestag Die politische Aufmerksamkeitsskala im Bundestag ist deutlich verschoben. Ein Blick auf die Interessenvertretung verschiedener Gruppen zeigt, wer Gehör findet – und wer nicht. Organisierte Wirtschafts- und Kapitalinteressen genießen dabei ein ungleich größeres Gewicht als die Belange verletzlicher sozialer Gruppen. So traf sich die Bundesregierung der Ampel-Koalition im Jahr 2022 zu 142 persönlichen Gesprächen mit Lobbyist:innen der Immobilienwirtschaft, aber nur 50-mal mit Mieterorganisationen. Unternehmen wie Vonovia oder Branchenverbände hatten nahezu dreimal so häufig Zugang zu Ministerien wie der Deutsche Mieterbund. Während Wirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck (Grüne) etwa zehnmal den Vorstand des Wohnungskonzerns Vonovia zum Austausch empfing, fand im gleichen Zeitraum kein einziges Treffen mit dem Mieterbund statt. Dieses krasse Ungleichgewicht illustriert, wessen Anliegen auf höchster Ebene Priorität genießen – nämlich die der großen Akteure des Wohnungsmarkts. Die Interessen von Mietern, geschweige denn von wohnungslosen Erwerbstätigen, sind dagegen personell und organisatorisch weit weniger präsent. Im Parlament selbst spiegeln Debatten und Vorstöße diese Asymmetrie wider. Anfragen oder Gesetzentwürfe zur spezifischen Situation erwerbstätiger Obdachloser sucht man im Bundestag bislang vergeblich. Zwar wird Wohnungslosigkeit als allgemeines Problem gelegentlich diskutiert – etwa im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans Wohnungslosigkeit 2024“. Doch selbst dort bleiben working homeless als eigene Gruppe unerwähnt. Eine öffentliche Anhörung zur Wohnungslosigkeit im Bundestag im Jahr 2023 musste von Betroffenenvertretern gar kritisiert werden, weil wohnungslose Menschen selbst nicht angehört wurden. Die Schwächsten bleiben stumm – und das Parlament bleibt meist stumm über sie. Diese parlamentarische Blindstelle korrespondiert mit den politischen Kräfteverhältnissen. Einflussreiche Verbände der Bau- und Immobilienbranche, genauso wie Eigentümer- und Vermieter-Lobbys, üben erheblichen Druck auf die Gesetzgebung aus – sei es bei Mietrechtsreformen, bei steuerlichen Rahmenbedingungen oder Förderprogrammen. Forderungen nach strengerem Mieterschutz oder einer sozialen Wohnraumoffensive stoßen dabei oft auf gebremstes Interesse, wenn sie mächtigen Interessen zuwiderlaufen. Im Ergebnis setzt sich eine selektive Responsivität fort: Durchsetzungsstark sind Anliegen, die von wirtschaftlich potenten Akteuren vorgebracht werden (etwa Steuererleichterungen für Investoren oder Abbau von Bauvorschriften). Schweres politisches Gehör finden hingegen jene Probleme, für die es keine einflussreiche Lobby gibt – wie eben das Schicksal von Menschen, die trotz Arbeit ohne Wohnung dastehen. Die Politik der Regierung Merz – Prioritäten und Folgen Unter der Regierung Friedrich Merz haben sich diese Schieflagen deutlich verschärft. Die neue schwarz-rote Koalition (CDU/CSU und SPD) verfolgt in der Sozial- und Wohnungspolitik einen Kurs, der primär auf wirtschaftliche Anreize und Haushaltsdisziplin setzt – und weniger auf den Schutz der finanziell Schwächsten. Konkrete Beispiele verdeutlichen dies: Gleich zu Beginn kündigte Kanzler Merz an, das im Jahr 2023 eingeführte Bürgergeld grundlegend zu überarbeiten. Tatsächlich wird nun das Bürgergeld zur neuen „Grundsicherung“ mit härteren Regeln umgebaut – inklusive strengerer Auflagen für Erwerbslose und Sanktionen bis hin zum vollständigen Leistungsentzug bei mehrfacher Stellenablehnung. Diese Verschärfung der Sozialhilfe – von Merz’ Generalsekretär Carsten Linnemann als „wichtigste Sozialreform seit Agenda 2010“ gepriesen – sendet ein klares Signal: Der Fokus liegt darauf, Leistungsbeziehende schneller in Arbeit zu drängen, notfalls mit Druck. Für jene jedoch, die trotz Arbeit arm sind, bedeutet dieser Kurs keinerlei Verbesserung – im Gegenteil. Wer etwa aufgrund prekärer Jobs auf ergänzende Leistungen angewiesen ist oder bei Jobverlust auf das Bürgergeld zurückfällt, sieht sich künftig strengeren Bedingungen ausgesetzt. Strukturelle Armutsprävention (z. B. durch höhere Mindestlöhne oder Ausbau von Hilfen) steht erkennbar nicht im Vordergrund. Auch in der Wohnungs- und Steuerpolitik setzt die Merz-Regierung Akzente, die vor allem Vermögenden und Investoren zugutekommen. Im Wahlprogramm der Union lag der Schwerpunkt beim Thema Wohnen darauf, durch Neubau-Offensiven, Deregulierung und Steuersenkungen das Angebot zu erhöhen. So sollen vereinfachte Bauvorschriften, beschleunigte Genehmigungsverfahren und steuerliche Entlastungen für private Wohnungsbauinvestoren den Wohnungsmarkt beleben. Gegen mehr Angebot ist zwar grundsätzlich nichts einzuwenden – doch handelt es sich vorwiegend um Angebote des freien Marktes, nicht um gezielte Hilfe für Geringverdiener. Tatsächlich fehlen im Programm von CDU/CSU jegliche konkreten Maßnahmen zum Mieterschutz. Die Union stellt lediglich allgemein fest, man stehe „für einen wirksamen und angemessenen Mieterschutz – dazu gehören auch Regeln zur Miethöhe“. Auf gut Deutsch: Man will Vermieterinteressen nicht allzu sehr beschneiden. Folgerichtig wurde die Mietpreisbremse – ohnehin ein eher mildes Instrument – von der neuen Koalition nicht verlängert, sondern stillschweigend auslaufen gelassen (ein Kurs, den bereits die FDP in der Vorgängerregierung propagiert hatte). Mietendeckel oder umfassende Mietstopps – wie von sozialen Verbänden gefordert – sind mit Merz’ CDU/CSU völlig vom Tisch. Im sozialen Wohnungsbau zeichnen sich ähnliche Prioritäten ab. Die Ampel-Regierung hatte vollmundig 100.000 neue Sozialwohnungen jährlich versprochen, dieses Ziel aber krachend verfehlt (2022 wurden z.B. nur rund 22.500 Sozialwohnungen neu gebaut, während zugleich 36.500 aus der Bindung fielen). Nun setzt die Merz-Regierung zwar verbal auf eine „solide Förderung“ des sozialen Wohnungsbaus, bleibt aber vage. Konkrete zusätzliche Milliarden für kommunalen und gemeinnützigen Wohnungsbau – wie sie Fachleute fordern – sind im Koalitionsvertrag nicht festgeschrieben. Stattdessen konzentriert man sich darauf, Privatinvestitionen durch Steueranreize zu stimulieren. Entsprechend begrüßt die Immobilienwirtschaft die geplanten Sonderabschreibungen und steuerlichen Vergünstigungen, die Renditeanreize erhöhen sollen. Leistbare Wohnungen für niedrige Einkommen entstehen dadurch jedoch nicht automatisch. Im Gegenteil: Ohne staatliche Vorgaben fließt Kapital bevorzugt in lukrative Neubauprojekte im höheren Preissegment, während günstiger Wohnraum in Ballungszentren knapp bleibt. Kurzum: Die Regierung Merz verstärkt marktorientierte Rezepte und zieht sich an mancher Stelle aus der sozialen Verantwortung zurück – mit der Konsequenz, dass strukturelle Ungleichheiten eher zunehmen. Hinzu kommt ein merklicher Klimawandel im politischen Diskurs: Sozialstaatliche Instrumente und Hilfen stehen unter Rechtfertigungsdruck, während Eigentum und Investition als schützenswerte Güter betont werden. Steuerpläne der Koalition – wie die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Spitzenverdiener oder großzügige Freibeträge bei Erbschaft- und Vermögenssteuern – begünstigen eindeutig Wohlhabende. Die Finanzierungsspielräume für Sozialausgaben und Wohnprogramme werden damit tendenziell enger. Insgesamt entsteht so das Bild einer Politik, die überwiegend jene fördert, die bereits haben, während neu entstandene Notlagen – wie die der obdachlosen Erwerbstätigen – keinen vergleichbaren Stellenwert genießen. SPD: Anspruch und Wirklichkeit eines sozialen Gewissens Besonders kritisch fällt in diesem Zusammenhang der Blick auf die SPD aus. Als traditionelle Arbeiterpartei und selbsternanntes soziales Gewissen der Koalition müsste die SPD eigentlich Anwältin der Working Poor und Wohnungslosen sein. Die Realität jedoch offenbart ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwar betonen SPD-Politiker immer wieder ihre historische Verantwortung, „niemanden zurückzulassen“. Im aktuellen Regierungsbündnis blieben die Sozialdemokraten jedoch erstaunlich zahm, wenn es um die Verteidigung sozialer Schutzmechanismen ging. Beispiel Mieterschutz: Hier rühmte sich die SPD, noch in der Ampel gemeinsam mit den Grünen eine große Mietrechtsreform geplant zu haben – inklusive Verschärfung der Mietpreisbremse und Kappungsgrenzen. Umgesetzt wurde dies bis 2025 nicht. Die SPD gibt der Blockadehaltung des kleineren Koalitionspartners FDP eine Mitschuld: „In der Vergangenheit ist besserer Mieterschutz aufgrund der Blockadehaltung insbesondere der FDP leider nicht gelungen“, beklagte etwa Brian Nickholz, der SPD-Beauftragte für Wohnungslosenhilfe. Dennoch bleibt festzuhalten: Als Seniorpartner der letzten Regierung hätte die SPD stärker Druck machen können, anstatt die Reform scheitern zu lassen. Beispiel „Housing First“ Dieses fortschrittliche Konzept der Wohnungslosenhilfe – obdachlosen Menschen sofort Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ohne Vorbedingungen – wird von Experten seit Jahren empfohlen. Im Koalitionsvertrag 2021 hatte die SPD das Ziel verankert, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden, und „Housing First“ flächendeckend zu etablieren. Doch konkrete Schritte blieben zaghaft. Bis Anfang 2025 existierten nur einige Modellprojekte in wenigen Städten; ein Bund-Länder-Fonds, der Housing-First-Programme massiv finanziert, wurde nicht aufgelegt. Die SPD beklagt zwar öffentlich den Mangel an Finanzierung und schiebt erneut anderen die Schuld zu – doch dieses Zaudern kostet Zeit, die viele Betroffene nicht haben. Auch im sozialen Wohnungsbau zeigte die SPD ein Paradox: Einerseits warb sie im Wahlkampf 2021 mit ehrgeizigen Zahlen (400.000 neue Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 Sozialwohnungen). Andererseits sank in ihrer Regierungszeit die Zahl der Sozialwohnungen auf einen historischen Tiefstand von gut 1,07 Millionen Ende 2023 – trotz Wohnungsnot wurden also unter dem Strich weiter Wohnungen aus der Bindung verloren. Der „Deutschlandfonds“ für gemeinnützigen Wohnungsbau, den die SPD nun in ihrem Programm vorsieht, kommt reichlich spät und mit ungewisser Finanzausstattung. Die Ursachen dieses Versagens liegen tiefer. Die SPD hat sich – wie Elsässer konstatiert – in den letzten Jahrzehnten verstärkt an der Mittelklasse orientiert. Ihre „alte Kernwählerschaft“ – Industriearbeiter, Geringqualifizierte, heute auch prekär Beschäftigte – wird programmatisch zwar beschworen, aber praktisch kaum noch priorisiert. Das Ergebnis: Weder in der Großen Koalition noch zuvor in der Ampel konnte oder wollte die SPD die Anliegen der unteren sozialen Schichten systematisch mobilisieren. Im Gegenteil trug sie in der Vergangenheit selbst Reformen mit, die die soziale Absicherung schwächten (Stichwort Agenda 2010). Dies hat das Vertrauen vieler Betroffener in die Sozialdemokratie untergraben – und erklärt mit, warum neue soziale Probleme wie das Phänomen der „arbeitenden Wohnungslosen“ politisch unterbelichtet bleiben. Wenn die SPD als eigentlich prädestinierte Interessenvertreterin dieser Gruppe ausfällt, klafft eine Repräsentationslücke, die bisher keine andere Kraft füllt. Zwar versucht die Linkspartei, das Thema Obdachlosigkeit aufzugreifen, fordert etwa einen Mietendeckel und ein Verbot von Zwangsräumungen. Doch ihr politischer Einfluss ist begrenzt. Somit bleibt die Interessenvertretung der Working Poor diffus – und gerade das ermöglicht erst ihre chronische Übergehung im parlamentarischen Raum. Eine Grundsatzfrage an die demokratische Architektur Der beschriebene Missstand wirft letztlich eine beunruhigende Grundsatzfrage auf: Was sagt es über die politische Architektur der Bundesrepublik aus, wenn selbst erwerbstätige Menschen – diejenigen also, die Leistungsbereitschaft zeigen und „alles richtig machen“ – kein Dach über dem Kopf haben und dennoch im parlamentarischen Diskurs nicht vorkommen? Die Antwort fällt ernüchternd aus. Es offenbart sich ein Strukturproblem unserer Demokratie, eine Verzerrung zugunsten der Privilegierten. Selektive Responsivität – das Muster, wonach Politik stärker auf die Wohlhabenden hört – ist nicht nur eine theoretische Figur, sondern hier konkret spürbar. Die Schicksale der „arbeitenden Obdachlosen“ sind zum Prüfstein geworden, an dem sich zeigt, wie weit sozioökonomische Ungleichheit bereits in politische Ungleichheit umgeschlagen ist. Die Nüchternheit, mit der dieser Befund formuliert werden muss, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Kern des demokratischen Versprechens berührt. Eine Demokratie, die es hinnimmt, dass Menschen mit Vollzeitjob in Notunterkünften schlafen, während Kapitalanleger mit steuerlichen Vergünstigungen hofiert werden, muss sich fragen lassen, wessen Interessen sie priorisiert. Wenn das Parlament die einen – etwa große Immobilienkonzerne – mit rotem Teppich empfängt, die anderen aber – wie die neuen städtischen Armen – über Jahre ignoriert, gerät der Leitsatz „Dem Deutschen Volke“ über dem Reichstagsportal zum Spottvers auf einen wichtigen Teil des Volkes. Die Antwort kann keine moralische Empörung allein sein, sondern eine Rückbesinnung auf die Gleichheitsgrundsätze der Demokratie. Es geht nicht um Almosen oder symbolische Debatten, sondern um vertretende Politik im Wortsinn: darum, dass auch jene ohne Lobby eine Stimme erhalten. Der Befund mag kühl formuliert werden – doch er zwingt zu einer wärmeren Politik, die den Menschen wieder über den Markt stellt. Denn letztlich wird der Zustand einer Demokratie daran gemessen, wie sie mit ihren verwundbarsten Mitgliedern umgeht. Dass in einer der reichsten Volkswirtschaften der Welt Menschen trotz Arbeit im Freien übernachten müssen und politisch kaum Erwähnung finden, ist ein Alarmsignal. Es signalisiert, dass politische Responsivität kein abstraktes Ideal ist, sondern eine täglich neu zu verteidigende Errungenschaft – und dass diese Errungenschaft in Gefahr ist, wenn wir die leisen Stimmen am Rande überhören. Jeder Paragraf, jede Entscheidung im Bundestag sollte sich daran messen lassen, ob sie der Realität auf der Straße gerecht wird. Im Fall der obdachlosen Erwerbstätigen besteht hier dringender Nachholbedarf – für alle demokratischen Parteien, insbesondere aber für jene, die das Soziale im Namen tragen. Titelbild: Dikushin Dmitry / Shutterstock

„Haltet endlich ein, tut was gegen dieses schreiende Verbrechen, gegen diese Unmenschlichkeit!“, rief ich heute früh beim Lesen der Worte des Direktors der World Peace Foundation, Alex de Waal, laut aus. Hellwach war ich sofort und sehr ernüchtert, weil ich wie viele Bürger in unserem Land sehe und dabei hilflos wie entsetzt bin, dass wir große, nicht wiedergutzumachende Schuld auf uns laden. Wir, konkret die Führung unseres Landes, sind dagegen nicht hilflos, doch lässt die schwarz-rote Bundesregierung der israelischen Regierung ihre Verbrechen durchgehen, sie duckt sich weg, sie behauptet gar, dass sie ja „protestiert“: Was für ein Hohn. Wir Bürger müssen von Friedrich Merz fordern: Machen Sie dem ein Ende – jetzt! Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Worte für die Ewigkeit – ein minutiös geplantes Verbrechen: Massenaushungerung Der folgende Abschnitt in der Tageszeitung junge welt ist eine weitere der zahlreichen, erschütternden Veröffentlichungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Gaza vor unser aller Augen stattfinden. Die Worte von Alex de Waal machen einen fassungslos: > Der Direktor der World Peace Foundation, Alex de Waal, erklärte in der am Montag (Ortszeit) ausgestrahlten US-Sendung »Democracy Now!«: »Ich beschäftige mich seit mehr als 40 Jahren mit Hungersnöten, Ernährungskrisen und humanitären Maßnahmen, und in diesen vier Jahrzehnten hat es keinen Fall einer derart minutiös ausgearbeiteten, genau überwachten und präzise konzipierten Massenaushungerung einer Bevölkerung gegeben, wie es heute in Gaza geschieht.« Die Phase der Hungersnot habe nun begonnen, konstatierte der Direktor für medizinische Hilfe in Gaza, Mohammed Abu Afash, am Dienstag. Er erwarte ein Massensterben von Frauen und Kindern. > > (Quelle: junge welt [https://www.jungewelt.de/artikel/504573.krieg-gegen-palästinenser-nichts-mehr-zu-verteilen.html]) Worte wie minutiös, genau überwacht, präzise konzipiert, Massenaushungerung – sie sind die monströse Boshaftigkeit, die Deutschland nicht durchgehen lassen darf. > „… keinen Fall einer derart minutiös ausgearbeiteten, genau überwachten und präzise konzipierten Massenaushungerung einer Bevölkerung gegeben, wie es heute in Gaza geschieht“. Wie reagiert der Bundeskanzler? So, wie er agiert, nämlich gar nicht. Die Nachricht macht die Runde, dass 30 Staaten in einer gemeinsamen Erklärung fordern, den Krieg in Gaza sofort zu beenden – ein Akt, der ohnehin zu spät und immer noch zu zaghaft ausfällt. Steigern kann man derlei Zaghaftigkeit noch, indem man wie Deutschland nicht zu diesen 30 Staaten gehört. Wie reagiert der Bundeskanzler? Wie er agiert – gar nicht. Vor allem seine Wortwahl, sein Sich-Winden und die Verwendung von „in aller Deutlichkeit“ und „nicht hinnehmbar“ – bedeuten, dass das Unheil in Gaza sich fortsetzt. > Merz sagte bei einer Pressekonferenz in Berlin, die Bundesregierung habe schon lange vor der Erklärung von rund zwei Dutzend Staaten genau die dort aufgestellten Forderungen vertreten. Eine wenige Wochen alte Erklärung des Europäischen Rates sei praktisch inhaltsgleich mit dem nun veröffentlichten Brief. Zudem sei er in Deutschland einer der Ersten gewesen, die in aller Deutlichkeit die Zustände im Gazastreifen als nicht hinnehmbar beschrieben hätten. Merz forderte die israelische Regierung erneut auf, die massiven militärischen Interventionen zu stoppen, einen Waffenstillstand zu ermöglichen und humanitäre Hilfe für die Bevölkerung zu ermöglichen. > > (Quelle: Deutschlandfunk [https://www.deutschlandfunk.de/merz-verteidigt-nichtbeteiligung-deutschlands-an-appell-gegen-gaza-krieg-100.html]) Was Merz bewegt, so nicht zu handeln, muss auch mit dieser Tatsache zu tun haben: > Deutschland ist weiterhin einer der größten Waffenlieferanten Israels. > > (Quelle: Deutschlandfunk [https://www.deutschlandfunk.de/merz-verteidigt-nichtbeteiligung-deutschlands-an-appell-gegen-gaza-krieg-100.html]) Und weiterhin läuft der „Plan“, Gaza von Palästinensern „zu befreien“ Die Phase der Hungersnot habe begonnen, heißt es, täglich weitet Israel seinen unfassbaren Krieg aus und fordert dabei die in Gaza gefangenen Palästinenser auf, ihre eigene Evakuierung umzusetzen. > »Unser letztes Zelt, unser letztes Lebensmittelpaket, unsere letzten Hilfsgüter sind verteilt worden. Es gibt nichts mehr«, so Leiter Jan Egeland gegenüber Reuters. Es sei die vergangenen 145 Tage nicht möglich gewesen, Hunderte von Lastwagenladungen mit humanitären Gütern nach Gaza zu bringen. > > Parallel hat Israel seinen Krieg ausgeweitet und nach einer Aufforderung zur »Evakuierung« am Montag Panzer in der zentral gelegenen Stadt Deir Al-Balah auffahren lassen. Zehntausende hatten dort Schutz gesucht, zumeist in Zelten. Damit stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 88 Prozent der Enklave unter Evakuierungsbefehl. > > (Quelle: junge welt [https://www.jungewelt.de/artikel/504573.krieg-gegen-palästinenser-nichts-mehr-zu-verteilen.html]) All das Unfassbare geschieht und wird enden wie geplant, befürchte ich. Zur aktuellen Erinnerung: vor zwei Wochen hat die „Tagesschau“ der ARD von solchen Ungeheuerlichkeiten berichtet, die wie Mosaiksteine zusammengesetzt werden für das große Ziel: > Israels Verteidigungsminister will im Süden des Gazastreifens ein Lager für 600.000 Menschen errichten. Er selbst spricht von einer „humanitären Stadt“ – viele Palästinenser sehen darin jedoch eine Vorstufe zur Vertreibung. Im Angesicht der Not, der Ohnmacht, des Nichtstuns, des schlimmsten Treibens bleiben den Menschen in Gaza nur ihr Stolz, ihre Wut, ihre Würde – so wie Abu Samir Al-Fakaawi, ein Mensch aus Gaza. Der sagte im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters deutlich, dass er in Gaza bleibt, und dies an die Adresse der beteiligten Politiker: > „Ich verlasse Gaza nicht. Dies ist unsere Heimat. Sollen wir sie einfach aufgeben und weggehen? Unsere Kinder, unsere Toten, sie sind hier begraben. Wem überlassen wir unser Land? Einer Bande von Kriminellen? Wir werden auf diesem Land bleiben, egal was Trump und Netanjahu und alle anderen sagen.“ > > (Quelle: Tagesschau [https://www.tagesschau.de/ausland/asien/gaza-israel-plaene-auffanglager-100.html]) Titelbild: Anas-Mohammed / Shutterstock

Der Umbau des Militärflughafens Büchel in der Eifel wird teurer als geplant. Rund 800 Millionen mehr werden nun veranschlagt. Die Kosten sollten eigentlich 1,2 Milliarden Euro betragen. Das berichtet der Nachrichtensender n-tv. Der Flughafen soll für die von der Bundeswehr bestellten US-Kampfjets vom Typ F-35 angepasst werden. Die Flugzeuge sind dafür gedacht, im Kriegsfall US-amerikanische Atombomben zu transportieren und abzuwerfen. Die Kosten für ein Militärprojekt werden hier also fast verdoppelt. Aufrüstung auf Kosten der Steuerzahler. Gleichzeitig soll am Bürgergeld gespart und länger gearbeitet werden. Die Unverschämtheit der Politik kennt keine Grenzen mehr. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Mehr, noch mehr, noch viel mehr: Die Aufrüstung der Bundesrepublik ist zu einem Fass ohne Boden geworden. Über eine Billion Euro sollen – bis jetzt – für das Projekt Kriegstüchtigkeit bereitgestellt werden. Und jetzt erfährt die Öffentlichkeit, dass sich die Kosten für den Umbau des Flughafens Büchel in der Eifel von 1,2 Milliarden Euro auf rund zwei Milliarden fast verdoppeln, wie n-tv berichtet [https://www.n-tv.de/politik/Umbau-fuer-neue-Atom-Jets-verursacht-Kostenexplosion-article25927308.html]. Also: Vorläufig! Weitere Kostensteigerungen sind möglich. Während die Politik gerade auf die Ärmsten der Gesellschaft fokussiert, den Rotstift ans Bürgergeld ansetzen will und die Bürger länger arbeiten sollen, gilt in Sachen Aufrüstung das Gießkannenprinzip. Zwei Milliarden dafür, dass von der Bundeswehr gekaufte US-amerikanische Kampfjets im Ernstfall mit Atombomben starten und sich am Nuklearkrieg gegen Russland beteiligen können? Was läuft hier für ein Wahnsinn ab? Bei einem Atomkrieg zwischen NATO und Russland würde aller Voraussicht nach von Deutschland nichts übrig bleiben. Die Kampfjets sollen – Achtung, Propagandasprech – zur „nuklearen Abschreckung“ der NATO gegenüber Russland beitragen. Wir schreiben das Jahr 2025 und rückwärtsgewandte Politiker muten der Bevölkerung eine Politik aus der Hochzeit des Kalten Krieges aus dem vergangenen Jahrhundert zu. Was den Umbau des Flughafens Büchels angeht: Hier wirft die Politik im wahrsten Sinne des Wortes das Geld der Steuerzahler mit beiden Händen aus dem Fenster. Ein Bild, das für das gesamte Vorhaben Kriegstüchtigkeit gilt. Von welch einer „nuklearen Abschreckung“ fantasiert hier die Politik? „Schreckt“ die NATO nicht ohnehin Russland bereits genug nuklear ab? Russland hat die NATO nie angegriffen. Sowohl NATO als auch Russland sind atomar bis zum Anschlag bewaffnet. Was soll es bringen, wenn nun in der Eifel ein Militärflugplatz umgebaut wird, auf dem Flugzeuge mit Atomwaffen starten und landen können? In den Köpfen der Militärs und einer Politik, die jede Bodenhaftung verloren, dafür aber ein Feindbild im Kopf hat, mag die Aufrüstung in Büchel Sinn ergeben. Außerhalb der geistigen Horizonte der Kalten Krieger 2.0 tut sie das nicht. Vonseiten des Bundesverteidigungsministeriums heißt es laut n-tv: > „Die zugrundeliegende Kalkulation umfasst alle heute absehbaren Aufwandspositionen und Kostenfaktoren einschließlich Risikozuschlägen, kann aber aufgrund der besonderen Herausforderungen des Vorhabens keinen abschließenden Festpreis darstellen.“ Und n-tv weiter: Weitere Preissteigerungen, zum Beispiel wegen personeller Verstärkungen zur Einhaltung der „extrem ambitionierten zeitlichen Vorgaben“ könnten nicht ausgeschlossen werden. „Die Gesamtkosten werden nach Abschluss des Projekts 2027 ermittelt“, so das Ministerium. Die Kostensteigerung sei zu Beginn des Projekts nicht absehbar gewesen, sagte eine Ministeriumssprecherin. Sie führt laut n-tv die „enormen Sicherheitsvorgaben, die die USA auch noch im Laufe des Prozesses“ gemacht hätten, als Ursachen an. Außerdem heißt es: „Eine Verzögerung des Projekts, um höhere Ausgaben zu verhindern, war und ist hingegen keine Option, weil die Zeitlinie für die Stationierung der F-35 ab 2027 nicht verschiebbar ist.“ Fast eine Milliarde Euro mehr, weil man sich an die „Zeitlinie“ halten will. Und überhaupt: Das Geld muss offensichtlich fließen. Titelbild: e-crow / Shutterstock

Rated 4.7 in the App Store
Tijdelijke aanbieding
3 maanden voor € 1
Daarna € 9,99 / maandElk moment opzegbaar.
Exclusieve podcasts
Advertentievrij
Gratis podcasts
Luisterboeken
20 uur / maand