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Großbaustelle der Renaissance - Der Dom zu Florenz

Es ist ein Bauwerk, das die Grenzen des Vorstellbaren sprengte - und das ohne moderne Technik: die Kuppel des Florentiner Doms. Ein Blick hinter eines der größten Bauprojekte der Renaissance und auf das Genie dahinter: Filippo Brunelleschi. Autorin: Susanne Hofmann Credits Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse Technik: Andreas Caramelle, Christian Baumann, Friedrich Schloffer Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: * Dr. Bernd Kulawik, Architekturhistoriker, Technische Universität Wien * Ross King, Kunsthistoriker und Autor des Buches „Das Wunder von Florenz“ über die Entstehung der Kuppel des Domes zu Florenz Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: GROSSBAUSTELLEN DER GESCHICHTE – Die Brooklyn Bridge [https://www.ardaudiothek.de/episode/alles-geschichte-history-von-radiowissen/grossbaustellen-der-geschichte-die-brooklyn-bridge/bayern-2/12640935/ ] Die Brooklyn Bridge: Die Verbindung zwischen der Insel Manhattan und Brooklyn ist heute ein berühmtes Symbol von New York City. Doch ihr Bau vor 150 Jahren war mit Skandalen verbunden, mit unendlichen Strapazen - und zahlreichen Opfern. Autorin: Marlen Fercher (BR 2019) ENTDECKEN IN DER ARD AUDIOTHEK [https://www.ardaudiothek.de/episode/alles-geschichte-history-von-radiowissen/grossbaustellen-der-geschichte-die-brooklyn-bridge/bayern-2/12640935/ ] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/radiowissen-manuskripte-dom-von-florenz-domflorenz-baustelle-renaissance-kuppel-100.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLERIN Es ist ein Festtag, wie ihn selbst die Stadt Florenz in ihrer glanzvollen Geschichte selten erlebt hat. Der 25. März 1436. Das Geläut von Kirchenglocken und der Duft von Weihrauch ziehen durch die Gassen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die betuchten Herrschaften tragen ihre Festgewänder – bodenlange Kleider aus purpurrotem oder königsblauem Samt und golddurchwirktem Brokat für die Damen, enganliegende Beinkleider und Säbel für die Herren. Man feiert nicht nur den Beginn des Neuen Jahres. Der fällt damals in Florenz traditionell auf den Festtag Mariä Verkündigung. Die stolze Stadt Florenz – Heimat der Medici und aufstrebende Kunst-Metropole – legt Wert auf kulturelle Eigenständigkeit, dazu gehört auch ein eigener Kalender. Am Neujahrstag von 1436 kommt jedoch noch ein besonderer Anlass dazu: Die Weihe des Doms zu Florenz, der Kathedrale Santa Maria del Fiore. Papst Eugen IV. persönlich weilt in der Stadt, er leitet die Zeremonie. Von seiner Residenz, der Kirche Santa Maria Novella, zieht er in einer feierlichen Prozession zum Dom, flankiert von Kardinälen, mehreren Dutzend Bischöfen sowie Mitgliedern der Florentiner Regierung. Um die schaulustige Menschenmenge auf Abstand zu halten, hat man eigens eine Art Laufsteg für den Papst und seine Entourage gezimmert. Auf der hölzernen Plattform schreiten sie über den Köpfen des Volkes einher und ziehen in den Dom ein.   Musik: Nuper rosarum flores   ERZÄHLERIN Es erklingt die eigens komponierte Motette eines damaligen Weltstars, des franko-flämischen Komponisten Guillaume Dufay: Nuper rosarum flores. Ein gregorianischer Choral über die biblischen Zeilen „Terribilis est locus iste” bildet die Grundlage – “Ehrfurchtgebietend ist dieser Ort”. Noch heute gilt die Komposition als herausragendes Werk der frühen Renaissance. Und ist damit eine angemessene Würdigung des Bauwerks, das hier besungen und von den Florentinern gefeiert wird, so der Musikwissenschaftler und Architekturhistoriker Dr. Bernd Kulawik. Er lehrt an der Technischen Universität Wien:   1. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Dass das das mit Abstand größte architektonische Wunderwerk seit der Antike sein würde, das war klar. … der größte imposanteste Kirchenraum, den man überhaupt haben konnte. Und das ist ganz klar: Wer den baut, ist der Star. Das ist ein Könner ohnegleichen. Musik: Ave maria stella   ERZÄHLERIN Dieser Könner ist der gelernte Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er kommt ein halbes Jahrhundert zuvor, 1377, in Florenz zur Welt. Damals ist der Dombau schon seit mehreren Generationen im Gange. Ein überaus ehrgeiziges Unterfangen, allein schon in seinen Ausmaßen. Das Gebäude soll 150 Meter lang werden und mit seiner Kuppel mehr als 100 Meter in den Himmel ragen. Schließlich wollte man der Welt zeigen, wer man war und insbesondere den ewigen Konkurrenten, den Stadtstaat Siena im Süden der Toskana, ausstechen. Um Platz für das Gotteshaus zu schaffen, ließ man ein ganzes Stadtviertel abreißen, auch zwei alte Kirchen mussten weichen, so der kanadisch-britische Kunsthistoriker Ross King. Er ist für sein Buch „Das Wunder von Florenz“ in die Geschichte des Florentiner Doms eingetaucht.   2. ZUSPIELUNG King 8.16 Making a cathedral was a work of centuries. In those days, the work of many decades at least. And after a century of building the Florentines still had not reached the east end of the cathedral where they were going to have this massive dome.   OVERVOICE Einen Dom zu bauen, war zu dieser Zeit das Werk von Jahrhunderten, zumindest aber vieler Jahrzehnte. Und nach einem Jahrhundert Bauzeit hatten die Florentiner noch immer nicht das östliche Ende des Doms erreicht, wo sie diese gewaltige Kuppel errichten wollten. Musik: Testament   ERZÄHLERIN Menschen wurden neben der Dauerbaustelle geboren und starben, ohne, dass sie darauf hoffen durften, die Vollendung des Bauwerks zu erleben. Fassade und Wände des Längsschiffs wuchsen nur langsam aus dem Boden. Als auch noch die Pest wütete und einen Großteil der Bevölkerung dahinraffte, verzögerte sich der Dombau weiter. Doch auch diese Krise überwanden die Florentiner. Nur für ein strukturelles Problem hatten sie keine Lösung. Und dieses Problem war gewaltig und für alle sichtbar, die hier lebten – wie der Goldschmied Brunelleschi. Im entstehenden Dom klaffte ein riesiges Loch über dem Altarraum. Hier, über einem achteckigen Grundriss, sollte sich eine mächtige Kuppel erheben – nur, wie sollte man die erbauen? Darüber rätselte die gesamte Stadt, so der Architekturhistoriker Bernd Kulawik.   3. ZUSPIELUNG Kulawik Als Brunelleschi geboren wurde, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, gab es … auf der ganzen großen weiten Welt niemanden, der gewusst hätte, wie man das technische Problem löst, diese Kuppel zu errichten.   ERZÄHLERIN Wie um Himmels Willen sollte man eine Spannweite von rund 45 Metern überwölben? Das entspricht der Länge eines halben Fußballfeldes. Und damit nicht genug: Die Kuppel sollte erst in einer schwindelerregenden Höhe von rund 40 Metern beginnen, also ungefähr in der Höhe eines 12-stöckigen Wohnhauses. Nie zuvor war ein derart ehrgeiziger Bau realisiert worden. Der Kunsthistoriker Ross King. 4. ZUSPIELUNG King And what they planned for, was something that was absolutely gargantuan and it was unprecedented in size. And so, what they were hoping is that in future – they knew in 1367 when the townspeople voted for this audacious plan they knew, when the time came for them to build this, they would all be dead. And so, it was still a generation or two away. But they believed sincerely that someone would come into their midst and show them how it could be built. And that’s of course going to become Filippo Brunelleschi, he is going to become this architectural messiah who arrives with the beautiful plan of how exactly he is going to do it.   OVERVOICE Sie planten etwas Gigantisches, in seiner Größe nie Dagewesenes. Als die Florentiner 1367 für diesen kühnen Plan stimmten, war ihnen klar, dass sie alle bereits tot sein würden, ehe es zu dem Bau kommen würde. Aber sie glaubten fest daran, dass ein, zwei Generationen nach ihnen jemand kommen würde, der wissen würde, wie man die Kuppel bauen könnte. Und dieser Jemand sollte Filippo Brunelleschi sein, eine Art architektonischer Messias. Er sollte erscheinen, mit einem wunderbaren Plan zur Umsetzung.   ERZÄHLERIN Für den Architekturhistoriker Bernd Kulawik ist dies eines der spannendsten Kapitel der Architekturgeschichte überhaupt:   5. ZUSPIELUNG Bernd Kulawik Das Irre ist eben: Brunelleschi wurde dann erst geboren. Dass er so genial ist als Ingenieur und Techniker, dass er das Problem lösen kann, das haben die dem Moment, wo die die Größe beschlossen haben, noch gar nicht gewusst, nicht ahnen können.   Musik: Veni creator spiritus   ERZÄHLERIN Die Florentiner planten in ihrem Stadtzentrum also quasi die Errichtung eines Luftschlosses. Ein Bauwerk zu entwerfen und zu beschließen, ohne zu sagen, wie man es bautechnisch ausführen, ja, ob es überhaupt halten würde – für heutige Architekten ist das völlig unvorstellbar. Ross King:   6. ZUSPIELUNG King So … really what they took both in 1367 and then in 1420, when Brunelleschi was given the task of building it, what they took in each case was a huge leap of faith. They believed that they were going to somehow be able to do this against the odds. Because B for example did not have a single mathematical equation he could have worked with, he didn’t have any sort of knowledge of how the structure was going to behave when it was built to that size. And so, it was a leap into the dark, because they simply did not know what problems they were going to encounter. To quote the late Donald Rumsfeld, the American politician, there were all sorts of unknown unknowns that they were going to be faced with as they started building the dome.   OVERVOICE Sie unternahmen also einen riesigen Sprung ins Ungewisse, sowohl 1367 als auch 1420, als man dann Brunelleschi mit dem Bau der Kuppel beauftragte. Sie glaubten daran, dass sie es allen Widrigkeiten zum Trotz irgendwie schaffen könnten. Brunelleschi hatte keine einzige mathematische Gleichung zur Verfügung, mit der er hätte arbeiten können. Es war also ein Sprung ins Ungewisse, sie hatten keine Ahnung, welche Probleme beim Bau auf sie zukommen würden.   ERZÄHLERIN Obwohl die Kathedrale der Sitz des Bischofs ist, handelte es sich nicht um ein Bauvorhaben der katholischen Kirche. Bauherrin war die Wollweberzunft, die Arte della Lana, die reichste Gilde der Stadt Florenz. Bernd Kulawik:   7. ZUSPIELUNG Kulawik Die aber eben vor allen Dingen deswegen so reich war, nicht, weil die alle so fleißig gewebt haben, sondern weil die ganz groß im Tuchhandel aktiv war, über Florenz lief auch der Großteil des Seidenimportes aus China - also sprich, die Tuchhändler waren das eigentlich.   Musik: Pavana und Gallarde   ERZÄHLERIN Die Vertreter der Wollweberzunft waren selbstbewusst. Sie hatten Florenz zum europäischen Zentrum der Textilverarbeitung sowie des Handels mit Stoffen gemacht. Auch politisch hatten die Wollweber was zu sagen. Etliche Mitglieder der Stadtregierung gehörten ihrer Zunft an. Florenz war zudem die Heimatstadt der Medici. Die einflussreiche Bankiers-Familie prägte die Entwicklung der Stadt entscheidend – finanziell, wirtschaftlich, politisch und kulturell als wichtigste Mäzene der Florentiner Geschichte. Die Medici hatten im frühen 14. Jahrhundert ihre eigene Bank gegründet, die schnell zur wichtigsten Bank Europas avancierte. Unter anderem verwaltete sie das Vermögen des Vatikans. Das gab den Medici Einfluss auf die Kirchenpolitik, sie stellten später sogar selbst zwei Päpste. Außerdem finanzierten sie diverse Königshäuser in Europa und mischten bei Handelsgeschäften mit. Diese wickelten sie zum Teil in Goldflorin ab, der Währung der Stadt Florenz. Ross King:   8. ZUSPIELUNG King The Florin was the most reliable currency in Europe at that time because the Florentines very zealously guarded the gold content in the coin and made sure they weren’t counterfit. … Things like that made the Florentines incredibly wealthy. And the next part of the story is, that this wealth is going to be put into the service of art and architecture.   OVERVOICE Der Goldflorin war die verlässlichste Währung im damaligen Europa, weil die Florentiner über den Goldgehalt ihrer Münzen mit großer Aufmerksamkeit wachten und sicherstellten, dass sie nicht gefälscht wurden. … Das machte die Florentiner unglaublich reich. Und dieser Reichtum würde in den Dienst von Kunst und Architektur gestellt werden.   ERZÄHLERIN Florenz hatte um 1400 nur noch rund 40.000 Einwohner, denn der schwarze Tod hatte einen Großteil von ihnen das Leben gekostet. Florenz war eine Stadtrepublik, ihre Bürger lebten nach ihren eigenen Gesetzen.   9. ZUSPIELUNG King About 5.000, all of them men above the age of 29, had the right to vote and hold political office. By our standard that’s not very democratic, but by the standard of most of the rest of Europe that’s not bad. And so, the Florentines were quite proud of their political system, and they thought they represented a kind of beacon of liberty, at least in Italy. There was a kind of civic pride that they had about themselves and their city. And why not? It was a very prosperous city and a city in which a lot of people did hold a political stake because of the voting rights and office holding rights.   OVERVOICE Etwa 5.000, allesamt Männer über 29 Jahre, hatten das Wahlrecht und konnten politische Ämter bekleiden. Nach unseren Maßstäben ist das nicht sehr demokratisch, aber nach den Maßstäben des Großteils des restlichen damaligen Europas ist es nicht schlecht. Die Florentiner waren daher ziemlich stolz auf ihr politisches System und hielten sich für eine Art Leuchtturm der Freiheit, zumindest in Italien. Sie empfanden eine Art Bürgerstolz auf sich und ihre Stadt. Und warum auch nicht? Florenz war eine sehr wohlhabende Stadt, in der viele Menschen aufgrund ihres Wahl- und Ämterrechts politisch aktiv waren.   ERZÄHLERIN Und die majestätische Kuppel des Doms sollte Ausdruck des Florentiner Selbst- und Machtbewusstseins werden. Um den besten Entwurf für die noch fehlende Kuppel zu ermitteln, richteten die Florentiner 1418 einen Wettbewerb aus.   Musik: Vive le Roy   ZITATOR1 Wer ein Modell oder eine Zeichnung für die Errichtung der Hauptkuppel des Domes anzufertigen wünscht und für Standgerüste, Baugerüste und andere Dinge oder für Hebemaschinen aller Art zum Zwecke der Errichtung und Vollendung besagter Kuppel – soll seinen Entwurf vor Ende September einreichen. Derjenige, dessen Modell ausgewählt wird, erhält 200 Goldflorine.   ERZÄHLERIN 200 Goldflorine, für einen Handwerker der Zeit entsprach das dem Verdienst von mehr als zwei Jahren. Die Ausschreibung erregte unter den Steinmetzen, Zimmerleuten und Maurern - Architekten als Berufsstand mit eigener Ausbildung gab es damals noch nicht – in der gesamten Region Aufsehen. Das Rennen machte schließlich ein Außenseiter: der Florentiner Goldschmied Filippo Brunelleschi. Er war bis dahin nur als Baumeister kleinerer Kapellen in Erscheinung getreten. Seine Vision sah im Unterschied zu den anderen Entwürfen vor, die Kuppel ohne das bislang übliche hölzerne Stützgerüst zu bauen. Aus gutem Grund, so Bernd Kulawik:   10. ZUSPIELUNG Kulawik Ein Gerüst, das so hoch reicht und das dann erst das eigentliche Kuppel-Gerüst trägt, das hätte wahrscheinlich alle Wälder der Toskana gekostet und hätte trotzdem nicht funktioniert.   ERZÄHLERIN Ein Gerüst bis hinauf zur Spitze der Kuppel, also auf eine Höhe von mehr als 100 Metern, wäre wohl schon unter dem eigenen Gewicht in sich zusammengefallen – wenn man überhaupt imstande gewesen wäre, ausreichend lange und starke Baumstämme zu beschaffen. Und trotzdem stößt Brunelleschi mit seiner Idee, die Kuppel mithilfe eines freischwebenden Gerüsts zu mauern, auf immense Skepsis. Den Bauherren fehlte offensichtlich die Phantasie, sich vorzustellen, wie das funktionieren sollte.   11. ZUSPIELUNG Kulawik Das war eine heftige Diskussion damals … in der Dombau-Behörde, da wurde Brunelleschi dann rausgetragen, wie ein Verrückter, weil man ihn weghaben wollte und der Meinung war, was der da erzählt, ist sowieso alles Unsinn. Und dann hat er ein Modell aus Stein und aus Ziegeln gebaut, um zu zeigen, dass man die Kuppel, so wie er sich das denkt, ohne solche Gerüste, bauen kann. Und dann hat man ihn erst gelassen.   12. ZUSPIELUNG King The key thing for him was to get the job to build it, I think he was supremely self-confident, he believed that if you give me the chance to do it, I will be able to solve these problems. Under his breath he might have admitted – I do not know what all of these problems are going to be, but I do think I can solve them, when the time comes.   OVERVOICE Das Wichtigste für ihn war, den Auftrag für den Bau zu bekommen. Ich glaube, er war äußerst selbstbewusst und glaubte: Wenn man mir die Chance gibt, werde ich diese Probleme lösen können. Unter vorgehaltener Hand gab er vielleicht zu: Ich weiß zwar nicht, welche Probleme das sein werden, aber ich glaube, ich kann sie lösen, wenn es so weit ist. ERZÄHLERIN Jetzt endlich kann Brunelleschi loslegen. Er hat eine Mammutaufgabe zu bewältigen, die ihn auf den unterschiedlichsten Gebieten fordert. Er ist Bauleiter, Tüftler, Statiker, Baumaschinen-Erfinder und Logistiker in einer Person. Es gilt, tonnenweise Material zu organisieren und heranzuschaffen – feinsten weißen Marmor aus den Steinbrüchen von Carrara, rund 100 Kilometer von Florenz entfernt, dazu große Sandsteinblöcke und Millionen von Ziegelsteinen aus den Brennereien rund um Florenz. All diese Materialien sucht er eigenhändig aus, verhandelt mit den verschiedenen Gewerken, organisiert die Transporte und ihr rechtzeitiges Eintreffen auf der Baustelle und ist Chef einer wechselnden Belegschaft von gut 100 Handwerkern und Bauarbeitern.

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Piraten der Adria - Wilde Zeiten an Kroatiens Küste

Wo heute Urlauber über Inseln wandern trieben in früheren Jahrhunderten gefürchtete Piraten ihr Unwesen: Uskoken aus Senj, Narentaner aus Brac, Hvar, Korcula oder der Kacic-Clan aus Omiš überfielen Handelsschiffe, die zwischen Venedig und dem Nahen Osten verkehrten. Autor: Bernd-Uwe Gutknecht Credits Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Martin Trauner Es sprachen: Berenike Beschle, Florian Schwarz, Katja Amberger, Katja Schild Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Srecko Cecuk, Piratenverein, Omis Neven Cagal, Fischer, Omis Dr. Vanja Kovacic, Archäologin, Split Nikolas Jaspert, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg Senka Vlahovic, Piraten-Guide, Omis Karlo Kovacic, Wanderverein, Omis Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: Alles Geschichte – Der History-Podcast [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]  Linktipps: Uni Heidelberg Prof Jasper HIER [https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/mitglieder/ls_prof_jaspert/ls_jaspert_projekte_maritime_predation.html] Website von Omis HIER [https://www.visitomis.hr/de/stolze-geschichte] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/manuskripte/index.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Erzählerin: Männer mit Tüchern auf dem Kopf und Säbeln in der Hand klettern bedrohlich brüllend von ihren kleinen Holzbooten auf ein großes Segelschiff. Im idyllisch gelegenen Hafenbecken von Omis (sprich: Omiesch, Betonung auf i) im südlichen Kroatien herrscht normalerweise eine entspannte Stimmung: neben Fischkuttern liegen hier Segelboote für Urlauber. Einmal im Jahr, immer am 18. August, verwandelt sich der ruhige Küstenort aber in ein lautes, grelles und schrilles Piraten-Nest! Ein örtlicher Verein veranstaltet eine Piratenschlacht nach historischem Vorbild. Srecko Cecuk (sprich: Srezko Tschetschuck) ist der Vorsitzende: Zusp. 1 Schlacht OV männl.: SPRECHER 1 „Wir spielen die Schlacht nach, als Papst Honorius der Dritte seine Marine hierherschickte, um gegen die Seeleute aus Omis zu kämpfen. Die Piraten besiegten den Papst! Wir haben Details über den Verlauf der Schlacht in italienischen Archiven gefunden. Also wir wissen ungefähr, was passiert ist: die Seeleute aus Omis attackierten mit kleinen wendigen Booten die wenig beweglichen großen Schiffe des Papstes und enterten sie. Um das Ganze für unsere Besucher spektakulärer zu machen, verwenden wir auch Kanonen, die es damals ja noch gar nicht gab.“ Erzählerin: Im Jahr 1221 mussten die päpstlichen Schiffe diese empfindliche Niederlage gegen die Omiser Seeräuber einstecken. Sieben Jahre später kamen die Schiffe des Papstes wieder, diesmal behielten sie die Oberhand. Die Angriffe der Piraten aus Omis blieben eine Zeitlang aus, aber schon wenige Jahre später trieben die dalmatinischen Freibeuter wieder ihr Unwesen. ATMO 2 Motor Erzählerin: Ein paar Hundert Meter neben dem Hafenbecken mündet der Fluss Cetina (sprich: Setina, Betonung auf e) ins adriatische Meer. Der Fluss kommt aus den Bergen und trägt Sedimente mit sich, deren bräunliche Farbe vermischt sich mit dem Azurblau des Meeres. Der einheimische Fischer Neven Cagal (sprich: Newen Tschagall) kennt die Küste hier wie seine Westentasche. Kurz hinter der Mündung drosselt er den Motor seines Holzbootes: ATMO 3 Boot Zusp. 2 Mostina OV männl.: SPRECHER 2 „Jetzt sind wir genau über der Mostina (Betonung auf o)! Da unten am Meeresboden, diese Stein-Mauer, die reichte früher bis anderthalb Meter unter die Meeresoberfläche, große Militär-Schiffe mit Tiefgang sind da aufgelaufen. Sie hatten also keine Chance, vom Meer aus in die Schlucht hineinzufahren. Die sogenannten Omis-Pfeile dagegen waren so flach gebaut, dass sie ohne Probleme drüberfahren konnten. So ruderten die Piraten ein paar Kilometer ins Hinterland und waren dort absolut sicher.“ Erzählerin: Unter anderem wegen dieses natürlichen Schutzraumes in der Cetina-Schlucht konnten die Seeräuber aus Omis über 300 Jahre lang den Küstenraum im mittleren Dalmatien beherrschen. EIN Piratenclan dominierte den Seeraub: die berüchtigten Kacic! (sprich: Katschitsch): Zusp. 3 Handel OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Die Kacic waren eine Fürstenfamilie, diese Seeräuber waren also Adlige! Einige Vornamen der Kacic-Seeräuber sind bekannt: Malduk, Osor, Jodimir oder Miroslav. Man muss verstehen: Seeraub war damals eine ganz normale Form der Geldbeschaffung. Man trieb Handel, wenn die Geschäfte aber nicht gut liefen, hat man eben Zwangszölle, Wegegeld, Lösegeld etc. eingetrieben. Das war gang und gebe im Mittelalter. Im Stadtarchiv von Dubrovnik gibt es dazu einige Dokumente. Etwa einen Vertrag zwischen Omis und Kotor, in dem die Piraten den Handelsreisenden freie Durchfahrt garantierten. Natürlich gegen ein Entgelt.“ MUSIK 2 Erzählerin: Dr. Vanja Kovacic (sprich Wanja Kowatschitsch) ist Archäologin, hat lange am Staatlichen Institut für Konservierung in Split gearbeitet und hat ein Buch über die Piratenfamilie Kacic geschrieben. Zusp. 4 Omis OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Die ersten schriftlichen Quellenangaben zu Piraten in Omis sind aus dem 12. Jahrhundert. Sie kontrollierten den gesamten Küstenstreifen von Trogir in Nord-Dalmatien bis zur Insel Korcula (sprich: Kortschula, Betonung auf o) in Süd-Dalmatien. Sie attackierten vor allem venezianische Schiffe, aber auch der Überfall auf ein Schiff des deutschen Kaisers Friedrich des Zweiten ist überliefert. Und nicht zuletzt päpstliche Schiffe waren Ziele der Seeräuber. Sie mussten Tribut zahlen, sonst wurden sie geplündert.“ Erzählerin: Kaiser Friedrich residierte in Süditalien, seine Handelsschiffe fuhren von dort Richtung Konstantinopel. Die Freibeuter aus Omis hatten ihre Beutezüge also bis ins südliche Italien ausgedehnt. Ihre Lieblings-Opfer waren aber die reich beladenen Schiffe aus Venedig, die quasi direkt vor der Haustüre vorbeifuhren: Zusp. 5 Levante OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Die Venezianer segelten nach Osten: ins Heilige Land, an die Levante, nach Konstantinopel, um Handel zu treiben. Viele dieser Handelsschiffe kamen aber nicht weit weg von Venedig, nur bis hierher! An Bord wurden sogar Pferde transportiert, ansonsten Wein, Getreide, das berühmte Glas aus Venedig, und auf dem Weg zurück unter anderem Metalle oder Gewürze. Davon haben wir detaillierte Warenlisten im Archiv gefunden.“ Erzählerin: Außer den schriftlichen Erwähnungen ist vom Kacic-Clan nicht viel erhalten. Im Stadtmuseum von Omis liegt aber ein etwa drei Meter langer Steinblock, vermutlich ein Grabstein der Freibeuter. Die Archäologin liest die kurze Inschrift vor: Zusp. 6 Miroslav OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Hier ruht Miroslav Kacic zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder. - Diese Steintafel wurde am Friedhof außerhalb der Stadtmauer entdeckt. Was wir auch in Omis gefunden haben, ist ein Dokument eines gewissen Burgherren Jura, in dem er den Bewohnern ausdrücklich die Piraterie erlaubt.“ (((ATMO 4 Friedhof Erzählerin: Am alten Friedhof kennt Vanja Kovacic praktisch jedes Grab, hier hat sie intensiv geforscht. Um eine Kapelle herum liegen rund zwei Dutzend Sarkophage auf dem Erdboden. Namen sind kaum noch zu erkennen, aber Wappen: Zusp. 7 Stein OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Für uns sind diese Wappen auf den Grabsteinen besonders interessant, wie dieses hier mit dem Schwert. Leider haben wir keine Gräber der Kacic-Familie entdeckt, aber in Makarska (Betonung auf erstem a) wurde ein Grabstein mit dem Namen Kacic gefunden, ihr Wappen ziert ein Drache! Wir sind allerdings sehr sicher, dass auch Seeräuber aus dem Kacic-Clan auf diesem Friedhof beigesetzt wurden. Hier drüben ist ein besonderes Wappen: mit drei Köpfen, die dunkelhäutige Soldaten darstellen. Wir vermuten, dass hier Seeleute liegen, die gegen die Osmanen gekämpft haben, denn damals wurden die Osmanen mit solchen klischeehaften Köpfen abgebildet“.))) MUSIK 3 Erzählerin: Auch Nikolas Jaspert, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg, forscht über Piraten in der Adria. Er ist Autor des Buches „Seeraub im Mittelmeerraum“. Mit dem Hollywood-Image der Piraten aus der Karibik, also mit Papagei auf der Schulter, Rumflasche in der Hand und Totenkopf auf der Fahne, hat die historische Realität der dalmatinischen Akteure nicht viel zu tun: Zusp. 8 Adlige (Jaspert): „Keine Totenköpfe, nein, nicht trinkfest! Man kann aber diese Karrieren verfolgen, das sind verarmte Adlige. Und wie auf dem Land manche verarmte Adlige zu Räubern werden, andere überfallen, so entschließen manche verarmte Kleinadlige auch, zur See zu gehen. Denn das, was sie können, ist kämpfen.“ Erzählerin: Neben den Kacic aus Omis gab es im Mittelalter weitere Seeräuber-Gruppierungen entlang der dalmatinischen Küste. Sie hatten sich die Reviere wohl aufgeteilt, ähnlich wie das heute die Mafia tut. Und auch an der westlichen, italienischen Küste der Adria, im westlichen Mittelmeer oder der Ägäis terrorisierten Piraten Handelsreisende. Teilweise agierten diese Freibeuter im Auftrag von Herrschenden: Zusp. 9 halbstaatlich (Jaspert): „Es handelt sich – wenn man so will – um eine Form halbstaatlicher Gewalt. Das sind Personen, die etwa von der Republik Venedig oder der Krone Aragon oder Genua oder wem auch immer Kaperbriefe und die Erlaubnis erhalten, die Feinde dieser Herrschaften anzugreifen. Und es gibt auch – und das ist überraschend – Kaufleute, die auch mal zu Gewalt greifen. Das heißt also der Berufspirat, wie wir es uns vorstellen, so Blackbeard und Captain Sparrow und so, den gibt es im Mittelalter so gut wie gar nicht, sondern die anderen beiden Typen sind vorherrschend.“ Erzählerin: Nikolas Jaspert ist Mitglied einer internationalen Forschungsgruppe, die eine Datenbank über Piraterie im Mittelmeerraum aufbaut. Die Wissenschaftler durchforsten dafür Stadt - und Kirchenarchive, analysieren Handelsverträge und Register, kartographieren regionale Brennpunkte und berechnen die Gewinne der Raubzüge. Laut dem Heidelberger Historiker ein bislang vernachlässigtes Forschungsfeld: Zusp. 10 Archiv (Jaspert): „Da ist noch viel zu finden über Gewalt zu See. Also wenn so ein Seeraub, so eine Prise gemacht wurde, also ein Schiff gekapert wurde, dann hat das häufig diplomatische Konsequenzen gehabt, dann wurden Gesandte hin und hergeschickt und es ging um Schadensausgleich und die Androhung von Repressalien und sowas konnte sich über Monate, Jahre, ja Jahrzehnte hinziehen. Und hat auch Texte hinterlassen, die weitgehend unbekannt sind. Und die gilt es erst einmal zu lesen und auszuwerten und zwar so, dass man die Karrieren und die Handlungen von einzelnen Seeräubern, Individuen verfolgen kann und auch ihre Verbindungen zu unterschiedlichen politischen Einheiten, Herrschaften, Staaten, wenn man so möchte, auch verfolgen kann. Und das ist bislang nicht möglich gewesen, weil die Forschung in der Regel national orientiert ist, also die Italiener forschen zur italienischen Geschichte und die Spanier zur spanischen. Aber diese Seeräuber waren – das liegt in der Natur der Sache – grenzüberschreitend tätig.“ ATMO 5 Stufen Erzählerin: Von der Altstadt von Omis aus führen einige steile Stufen zur Mirabela-Festung hinauf. Sie wurde im 13. Jahrhundert erbaut und überragt die Stadt. Von der Original-Anlage ist noch der Turm erhalten. Senka Vlahovic (sprich: Senka Wlahowitsch) veranstaltet für Interessierte Piraten-Touren durch Omis, vermittelt Wissen aus der Zeit an Schulkinder und spielt auf Festivals eine Kacic-Fürstin. Vom Turm der Festung aus schaut sie auf´s Meer und zur vorgelagerten Insel Brac (sprich: Braatsch): Zusp. 11 fortress OV weibl.: SPRECHERIN 2 „Die Festung wurde zur Verteidigung benutzt, hatte verschiedene Zwecke: der Turm war natürlich Aussichtspunkt, von hier aus hat man einen Blick über die Adria, auf den Kanal zwischen Festland und der Insel Brac, über die ganze Insel hinweg, und auf der anderen Seite zum Cetina-Fluss und den Anfang der Schlucht. Außerdem war es ein Leuchtturm. Mit dem Feuer konnten sie ihren eigenen Booten nachts signalisieren, wo ihr Hafen ist. Und die Burg war der letzte Rückzugsort. Wenn Gegner in die Stadt eindringen konnten, hätte sich die Kacic-Familie für die letzte Schlacht hier verschanzt.“ MUSIK 4 Zusp. 12 wall OV weibl.: SPRECHERIN 2 „Von diesem Ort aus regierten sie. Vor der Kacic-Ära hatte sich hier ein anderes Fürstentum zwischen den Flüssen Neretva (sprich: Neretwa) und Cetina etabliert. Die Kacic-Familie hat ihnen die Herrschaft über diesen Landstrich entrissen. Die geografische Lage ist prädestiniert für Herrschende: die Stadt wurde nicht nur durch die Burg beschützt, sondern auch durch eine Stadtmauer und wo heute die Hauptstraße ist, war ein schützender Wasserkanal.“ Erzählerin: Bereits in der Antike sorgten illyrische Piraten für Angst und Schrecken an der Adria. Die Illyrer waren eine Ansammlung verschiedener Stämme wie den Japoden, Liburnern oder Histriern, die der Region Istrien ihren Namen gaben. Sie jagten schon in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende römische oder griechische Handelsschiffe. Laut Nikolas Jaspert nutzten sie vor allem versteckte Buchten auf den vielen Inseln vor der kroatischen Küste: Zusp. 13 zerklüftet (Jaspert): „Insofern sind solche zerklüfteten Küsten für Seeräuber perfekt, weil die Opfer gewissermaßen an den Küsten entlangfahren und dann kann man von einer Küstenbucht aus oder von hinter einer Küste relativ schnell vorstoßen. Und deshalb ist die Küste Dalmatiens schon seit vielen Jahrhunderten und auch im frühen Mittelalter ein Gebiet, von dem erzählt wird, wo sich sehr häufig Seeraub ereignete. Da sind die illyrischen Seeräuber nur ein Beispiel für eine lange Tradition.“ Erzählerin: Was für heutige Urlauber an den Adriastränden kaum vorstellbar ist, war mehr als Tausend Jahre lang Normalzustand: Segelschiffe mit wertvoller Fracht wurden von Freibeutern überfallen und ausgeraubt. Piratenboote gehörten quasi zur maritimen Landschaft wie heute touristische Ausflugsdampfer. Laut Archäologin Kovacic liegt das an der unterschiedlichen Beschaffenheit der italienischen und kroatischen Küstenlandschaften: Zusp. 14 Adria OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Entlang der kroatischen Adriaküste sind Tausende Inseln. Hier gibt es unzählige Buchten, wo Schiffe anlegen konnten. Auf der italienischen Seite ist die Küste ewig lang, ohne schützende Buchten. Deshalb fuhren venezianische oder päpstliche Schiffe lieber auf unserer Seite. Gleichzeitig waren diese Buchten perfekte Verstecke für die Piraten. Die Seeräuber überfielen aber auch konkurrierende Städte an der Küste. So ist bekannt, dass die Bewohner von Omis einmal fast alles verloren, weil die Stadt von anderen Piraten eingenommen wurde.“ Erzählerin: Von den Neretva (sprich: Neretwa) -Piraten ist die Taktik überliefert, in Inselbuchten Feuer zu entzünden und damit Handelsreisende anzulocken. Die mussten immer wieder anlanden und ihre Vorräte auffüllen. Näherten sie sich den Feuerstellen vermeintlicher Siedlungen, so tappten sie in die Piratenfalle. Am 18. September 887 ereignete sich vor Makarska eine legendäre See-Schlacht: die Neretva-Seeleute verteidigten ihre Stadt gegen eine übermächtige Flotte mit 12 Kriegsschiffen aus Venedig. Der venezianische Doge Urso I. verlor in der Schlacht sein Leben. Am 18. September wird jährlich der „Tag der kroatischen Marine“ gefeiert. MUSIK 5 Erzählerin: In der frühen Neuzeit, also im 16. und 17. Jahrhundert, war eine andere Piratengruppe aus dem heutigen Kroatien sehr erfolgreich: die Uskoken! Dieser militärisch organisierte Verband rekrutierte seine Mitkämpfer unter anderem aus Flüchtlingen osmanisch besetzter Gebiete in Süd-Dalmatien, aber auch aus anderen Bevölkerungsgruppen des westlichen Balkans. Zentrum der Uskoken war der Küstenort Senj (sprich: Sen) in der Nähe des heutigen Zadar (sprich: Sadar, Betonung auf erstem a). Laut Quellen konnten die Uskoken dauerhaft auf 1000 Kämpfer zurückgreifen und legten sich erfolgreich sowohl mit den Venezianern als auch mit den Osmanen an. In Italien nannte man sie „Venturini“, also Glücksritter. Spezialität der Uskoken waren Angriffe nicht auf offener See, sondern im Hafen: Zusp.15 Uskoken (Jaspert): „Das sind Überfälle auf Schiffe, die gerade im Hafen sind, und das passiert sehr häufig. Also unser Bild des Seekrieges, das wir aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert kennen, mit den großen Schlachtschiffen und vielen Kanonen, das gilt für die frühe Zeit und auch für die Zeit der Uskoken weniger. Sie haben schnelle Schiffe, mit denen sie auch Handelsschiffe überfallen. Also ihr Vorteil ist, dass sie das Gelände natürlich gut kennen und in dieser Inselwelt zuhause sind und notfalls auch in Flüsse hochfahren können. Und zum zweiten, dass sie eben kleinere, schnellere, wendigere Schiffe haben.“ Erzählerin: Zur rein materiellen Motivation kam auch eine religiöse hinzu. Die Seeräuber aus Senj raubten vorzugsweise Schiffe der Osmanen aus. Zusp. 16 Andersgläubige (Jaspert): „Die religiösen Gegensätze zwischen Muslimen und Christen erleichtern den Seeraub, weil man als Christ problemlos einen Muslim überfallen darf, weil er eben ein Glaubensfeind ist. Und umgekehrt gilt es genauso, während man sonst schon darauf achten muss, wenn man als Genuese einen Christen überfällt, weil das diplomatische Schwierigkeiten bedingt. Also der Seeraub zwischen Andersgläubigen ist schlichtweg risikoärmer für die Gewaltakteure, für die Piraten.“ Erzählerin: Was oftmals bei Piraten-Erzählungen unberücksichtigt bleibt, ist die Versklavung der Opfer. Seeräuber nahmen nicht nur sämtliche Waren der eroberten Schiffe mit, sondern oftmals auch die Besatzung oder Reisende. Und Archäologin Kovacic hat Aufzeichnungen ausgewertet, die sogar Entführungen in Küstenorten erwähnen: Zusp. 17 Hvar OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Aus dem 16. und 17. Jahrhundert haben wir Belege, dass osmanische Piraten hierherkamen und vor allem auf den Inseln Männer und Frauen entführt haben, die nach kräftigen Arbeitskräften aussahen. Teilweise wurden alle Bewohner von kleineren Inseln mitgenommen, so dass diese Eilande über Nacht unbewohnt waren. 1571 drangen ottomanische Piraten nach Zentraldalmatien ein, sie griffen die Siedlungen auf der Insel Hvar an und brannten praktisch alles nieder. Aber aus welchem Grund auch immer sind sie nicht ins nahegelegene Omis gekommen.“ (((Zusp. 18 Opfer (Jaspert): „Wir haben nicht nur in der Forschung, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung gerne auf die Akteure geschaut, also auf die sogenannten Piraten, aber viel zu wenig danach gefragt, was passiert eigentlich mit den Menschen, die geraubt werden. Und Seeraub hat ganz viel mit Menschenhandel zu tun, also mit dem Kidnappen, dem Entführen von Menschen, die dann gegen Lösegeld entweder verkauft werden oder die auf den Sklavenmärkten verkauft werden. Denn die Sklaverei ist ein Alltagsgeschäft, sowohl von Seiten der christlichen Europäer als auch von Seiten muslimischer Herrschaften. Und die Opfer sind ganz unterschiedlich, das können Kaufleute sein, können Pilger sein, es sind auch ganz häufig Küstenbewohner.“))) Erzählerin: Der Heidelberger Historiker Niklas Jaspert macht in seinen Veröffentlichungen immer wieder deutlich, dass Piraterie von der Antike bis zur Neuzeit eine breite gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Bedeutung hatte. Das Bild der freiheitsliebenden Revolutionäre unter dem Totenkopf, die den Reichen das Geld stahlen und es den Armen gaben, ist ihm zufolge stark romantisierend. Ein Freibeuter im Mittelmeer war eher Wirtschaftskrimineller als Robin Hood. Und letztlich war ein großer Teil der Bevölkerung beteiligt: als Täter, Opfer oder Nutznießer: Zusp. 19 Küstenbewohner (Jaspert): „Man tut gut daran, wenn man eine Geschichte des Seeraubs in Dalmatien und an der Küste schreibt, dann immer die Küstenbewohner mitzuschreiben, die ganz unterschiedlich involviert sein können. Als Opfer natürlich von Überfällen, als Täter, die selbst zur See gehen und rauben, aber nicht zuletzt auch als Käufer und als Teil dieses Handels-Netzwerks, auf dem ja auch der Seeraub beruht, dass man die Beute verkaufen können muss.“ Erzählerin: Die kroatische Archäologin Vanja Kovacic ergänzt, dass man Piraterie in früheren Epochen nicht mit heutiger Moral beurteilen dürfe: Zusp. 20 Zoll OV weibl.: SPRECHERIN 1 „Das war keine Frage von gut und böse, das war normal. Sie forderten Geld oder Ware dafür, dass fremde Schiffe durch die hiesigen Seegebiete fahren durften. Wenn man so will, tun wir das heute auch, in dem wir Zölle, auf der Autobahn Gebühren von den Durchreisenden oder in den Häfen Liegegebühren verlangen, freilich ohne Gewalt!“ Zusp. 21 zeitlos (Jaspert): „Ich halte Seeraub schon für ein zeitloses Phänomen, wir haben es ja immer noch! Also am Golf von Aden und anderswo, man muss sich nur die Zahlen anschauen, werden Jahr für Jahr Schiffe überfallen. Und das kriegen wir in Deutschland nur bedingt mit. Am Horn von Afrika eine Zeitlang schon, da war es auch in den Nachrichten. Und Reedereien reagieren zum Beispiel damit darauf, dass sie Söldner, Privattruppen anstellen, um Schiffe zu verteidigen. Also das ist ein Phänomen, das die Zeiten überdauert.“ MUSIK 6 ATMO 1 Schlacht Erzählerin: Wenn alljährlich im August im Hafenbecken von Omis die Piratenschlacht tobt, hat man von der Festung Fortica Starigrad (sprich: Fortizza Starigrad, nicht Schtari) aus den besten Ausblick. 300 Meter über der Stadt ist diese Anlage aus dem 15. Jahrhundert. Auch sie diente den Piratenfamilien als Hochburg, Aussichtspunkt und Rückzugsort. Erobert wurde sie nie. Wann genau und warum die Herrschaft der Kacic-Freibeuter endete, ist nicht überliefert. Ihre Nachfolger in Dalmatien, die Uskoken, gerieten im sogenannten „Krieg um Gradiska“, den Venedig und Habsburg ausfochten, zwischen die Fronten. Nach dem Friedensschluss der beiden Großmächte von 1617 wurden alle Schiffe der Uskoken verbrannt, sie mussten ins Hinterland umsiedeln. Viele von ihnen schlossen sich als Söldner den Habsburgern an, die übrigen zerstreuten sich zwischen Balkan und Österreich, die Piraterie an der kroatischen Küste löste sich fast über Nacht in Luft auf! ATMO 7 Festung Erzählerin: Karlo Kovacic ist Mitglied der örtlichen Sektion des kroatischen Wanderverbandes und kümmert sich mit seinem Team um die Instandhaltung der Wanderwege zu den Burgen und Höhlen der Gegend. Er beobachtet die Piratenschlacht immer von oben, ganzjährig führt er Wandergruppen auf den Spuren der Piraten durchs Gelände. (((Vor allem in der Cetina-Schlucht vermutet er noch spannende Funde, die auf Archäologen warten: Zusp. 22 Cetina OV männl.: SPRECHER 1 „Am Flussufer lagerten die Piraten ihre Boote. Und sie trieben auch dort Handel, z.B. mit Salz, das damals sehr wertvoll war. Es wurden Überreste von Windmühlen entdeckt, d.h. die Bewohner hier haben ihr Mehl gemahlen. Das war eine wichtige Nahrungsquelle auch für die Piraten. Entlang des Flusses sind auch zahllose sehr alte Natursteinmauern zu sehen. Leider gibt es dazu noch keine archäologischen Untersuchungen. Da gibt´s noch viel zu erforschen, was die Piraten hier taten. Es war auf jeden Fall die Speisekammer der Piraten. Sehr gut kann man all die Mauern und Ruinen vom Fluss aus bei einer Raftingtour sehen“))) Erzählerin: Und auf EINE Entdeckung warten die Bewohner von Omis seit langem: irgendwo muss doch ein Piratenschatz vergraben liegen!? Zusp. 23 Schatz OV männl.: SPRECHER 1 „Leute aus Omis suchen seit Jahrhunderten nach möglichen Piratenschätzen, zum Beispiel in den vielen kleinen Höhlen hier. Bisher hatte aber noch kein Schatzjäger Glück, es wurde nichts Wertvolles gefunden. Wir wissen nicht, wohin die Kacic ihre Schätze geschafft haben oder ob sie hier irgendwo ruhen. Zur Bank haben sie die Schätze sicher nicht gebracht!“

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Maltechnik - Der Stoff aus dem die Kunst ist

Wer über Malerei spricht, meint meist Motiv und Stil, also das WAS und WIE der Darstellung, die Farben und Formen, die Stimmung im Bild. Dabei ist Malen zunächst mal ein technischer Vorgang: ohne Handwerk kein Gemälde. Julie Metzdorf mit einem Blick auf die technische Kunstgeschichte, auf rollbare Leinwände, schimmelnde Fresken und Kunstwerke aus Hasenhaut und Eigelb. Von Julie Metzdorf (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Christian Baumann, Susanne Schroeder Technik: Anton Wunder Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview: Dr. Kathrin Kinseher, Leiterin Studienwerkstatt Maltechnik an der Akademie der Bildenden Künste München David Kremer, Farbmittelhersteller Kremer Pigmente Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/radiowissen-manuskrip-maltechnik-malen-pinsel-farbe-tempera-aquarell-kunst-100.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLER  Am Anfang waren Fels und Stein. Die ersten Menschen nutzten für ihre Malereien Holzkohle, Blut oder zu Pulver geriebenes Ockergestein, das sie mit Wasser oder Speichel zu Farbe vermischten und direkt auf die Höhlenwand aufbrachten. Als Pinsel dienten fasrig angekaute Zweige. Die Farbe konnte aber auch durch ein Röhrchen aufgesprüht werden, Hände dienten dann gern als Schablonen.  Musik 2: Parovskapproved  -  27 Sek Schon die ersten Menschen nutzten also ganz verschiedene Materialien und Techniken. Im Lauf der Jahrtausende kamen unzählige weitere hinzu. Das beginnt beim Untergrund: Mauerputz und Tonvasen, Buchseiten aus Pergament oder Glasscheiben für Kirchenfenster, selbst die menschliche Haut kann als Malgrund dienen: beim Body Painting. ERZÄHLERIN Heute denken wir beim Stichwort Malerei vor allem an transportable Gemälde, „Öl auf Leinwand“ scheint dabei so etwas wie der Standard zu sein. Doch Leinwände aus Stoff sind erst seit 500 Jahren üblich. Zuvor wurde vor allem auf Holz gemalt, man spricht dann von „Tafelbildern“. Die Mona Lisa hat beispielsweise Pappelholz im Rücken, Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock ist auf Linde gemalt. 1 OT Kinseher Also wenn wir zurückschauen, in die Malereigeschichte, dann sind es immer massive Holztafel. Im Mittelalter ist es immer die sogenannte Kerntafel, also ohne Splintholz, die ist am stabilsten, mit stehenden Jahresringen. Die verbiegt sich am wenigsten…  ERZÄHLER  Dr. Kathrin Kinseher leitet die Studienwerkstatt Maltechnik an der Akademie der Bildenden Künste in München. Sie ist studierte Restauratorin und kennt sich deshalb sowohl mit historischen, als auch mit aktuelle Maltechniken aus.  Die Qualität der Holztafeln war entscheidend für den Wert des gesamten Gemäldes. War das Holz zu frisch oder schlecht verleimt, konnte es sich in verziehen, Risse bilden und das Bild letztlich zerstören.  Musik 3: Melancholy Pavan – 13 Sek ERZÄHLERIN Etwa um das Jahr 1500 entschlossen sich immer mehr Maler dazu, statt auf Holz, auf Leinwand zu malen, also auf einem flexiblen Gewebe, weil… 2 OT Kinseher …die Leinwand einfach sehr viel leichter ... ist. Das Gemälde von A nach B zu tragen, zu transportieren, ist sehr, sehr viel einfacher. Musik 4: Manifest - 36 Sek ERZÄHLER  Gemälde konnten nun viel größer werden. Das Große Jüngste Gericht von Peter Paul Rubens in der Alten Pinakothek in München misst fast fünf mal sechs Meter, die Leinwand musste aus vier einzelnen Bahnen zusammengenäht werden. Auf Holz wäre solch ein Gemälde undenkbar, zumindest hätte man es nie und nimmer von Antwerpen nach Bayern bekommen. Das Leinwandbild aber konnte zum Transport gerollt werden. 3 OT Kinseher Das geht natürlich tatsächlich nur bei jüngerer Kunst, bei junger Malerei ein Gemälde, das 50 oder 100 Jahre ist oder noch älter würde man natürlich absolut vermeiden ist zu rollen. Ja, auch wenn man das nach allen Regeln konservatorischen Regeln macht, sagen es ist natürlich eine extreme Strapaze und extremer Stress.  ERZÄHLERIN Trotzdem wurde der Rubens später noch zweimal aufgerollt: 1945 bei der Evakuierung der Alten Pinakothek und noch einmal für eine Restaurierung in den 90er Jahren. Das Gemälde hätte sonst einfach nicht durch die Tür gepasst.  ERZÄHLER Um die Leinwand bemalen zu können, muss sie zunächst einmal auf einen Rahmen gespannt werden. So wird das flexible Leinen zur einigermaßen stabilen Wand, also zur Leinwand. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzten sich Keilrahmen durch. 4 OT Kinseher Wenn man die Leinwand aufspannt, hat es erstmal eine gewisse Straffheit. Aber diese Spannung kann auch nachlassen mit der Zeit. Und dann ist es natürlich hilfreich über dieses sogenannte Auskeilen auf der Rückseite der Leinwand, also ganz sachten, zarten Schlägen mit dem Hammer auf die sogenannten Keile, die in diese Ecken gesetzt werden, die Spannung wieder leicht zu erhöhen.  ERZÄHLERIN Ursprünglich bestand das Gewebe aus Leinen oder Flachsfasern, heute spricht man auch von Leinwand, wenn es sich um Hanf, Jute oder Baumwolle handelt. Zum Schutz und für zusätzliche Stabilität wird das Gewebe mit Leim bestrichen, danach kommt die Grundierung, meist mehrere Schichten einer weißen Kreide-Leimmischung. Die Grundierung gleicht Unebenheiten aus und sorgt für perfekte Saugfähigkeit beim späteren Farbauftrag. Gerade in Kombination mit Ölfarben ist sie extrem wichtig. 5 OT Kinseher Die Grundierung ist hier vor allem auch Schutz zwischen dem textilen Gewebe der Naturfaser und dem Öl. Denn sonst ohne Grundierung würde das Öl durchdringen, würde sich einbauen in die textile Faser und die Oxidation und den Alterungsprozess der Faser extrem beschleunigen. Das Gewebe wird dann sehr viel schneller spröder, brüchiger.  Musik 5: Cavendish lab – 35 Sek ERZÄHLER Doch nicht nur Haltbarkeit, auch ästhetische Gründe spielen für die Grundierung eine Rolle: Sie reflektiert das Licht. Ölfarben sind teilweise lichtdurchlässig: Das Licht dringt in die Malschichten ein. An manchen Stellen dringt es bis auf die Grundierung und wird von dort zurückgeworfen. Die Farbe der Grundierung kann die Wirkung des Bildes deshalb entscheidend beeinflussen. Eine helle Grundierung bringt ein Gemälde zum Strahlen, ein Rot oder Ockerton lässt es leicht goldig und wärmer wirken.  Musik 6: Walks – 40 Sek ERZÄHLERIN Es gibt allerdings auch Maler, die ganz ohne Grundierung gearbeitet haben: Der deutsche Expressionist Otto Mueller beispielsweise hat Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend mit Leimfarbe auf Rupfen gearbeitet, einem Jutegewebe. Die grobe Struktur der Juteleinwand ist in seinen Gemälden sichtbar, hier und da liegt das Gewebe ganz frei. Mueller ging es in seiner Kunst um die Einheit von Mensch und Natur. Mit Vorliebe hat er Mädchen und Jungen beim Baden an einem See gemalt, nackt in der freien Natur, zwischen Bäumen und Büschen. 6 OT Kinseher Da passt eigentlich alles zusammen, … also so der Mensch ganz pur unbekleidet in der Natur. Und auch die Wahl dieser einfachen Materialien, die Jute, die er einfach auch zeigt. ERZÄHLER  Nackte Menschen auf nacktem Malgrund: Thema und Technik, Motiv und Gesamtwirkung greifen hier nahtlos ineinander. Auch der britisch-kenianische Maler Michael Armitage ist dafür bekannt, seinen Malgrund ein Wörtchen mitreden zu lassen. In seinen Gemälden sind oft Risse, Nähte oder gar Löcher zu sehen. Armitage malt auf Lubugo, einem Stoff aus der Rinde der Natalfeige, der in Ostafrika für Kleidung oder auch als Leichentuch verwendet wird. Als Grundlage seiner Malerei steht Lubugo symbolisch für die kenianischen Wurzeln des Malers.   7 OT Kinseher Das ist ja die Herausforderung in der Wahl der Materialien, dass man mit den Materialien arbeitet oder aber auch bewusst sich dagegenstellt, das kann auch interessant sein. Musik 7: fach - 30 Sek ERZÄHLERIN Das Angebot an Farben ist heute kaum noch überschaubar: Es gibt Dispersionsfarben, Schulfarben, Fingerfarben, Plakatfarben, Acryl-, Tempera-, Wasser-, Aquarell-, Textil- und Wandfarbe, das alles in Eimern, Tuben, Dosen, Plastikbechern oder -flaschen, beim Künstlerbedarf oder im Baumarkt. In früheren Jahrhunderten mussten die Malerinnen und Maler ihre Farben erst einmal anrühren, also selbst herstellen. Einige und vor allem die Restauratoren, machen das immer noch.  Geräusche Holztor 8 OT Kremer Das ist unser Kollergang, der kommt aus Italien wurde ursprünglich für Olivenölproduktion vermutlich verwendet oder auch zum Vermahlen von Getreide, also sehr weiche Stoffe. Die Mühlräder selber sind aus Granit und werden über ein Riemenmotor angetrieben. Ich kann denn auch mal anmachen: Geräusch Kollergang ERZÄHLER  David Kremer von der Farbmühle in Aichstetten im Allgäu, Der Familienbetrieb „Kremer Pigmente“ ist spezialisiert auf die Herstellung von historischen Pigmenten und Farbstoffen. Im Angebot sind mehr als 1000 verschiedene Farbpigmente. 9 OT Kremer, über Geräusch Kollergang Hier haben wir jetzt im Moment Azurit drauf … eigentlich eher ein hellblaues (Pulver) auf dem Mahlteller hier liegen. Und wir wollen natürlich vorwiegend die dunkelblauen Teilchen hinterher, das heißt, der muss jetzt erst gewaschen werden, sortiert werden, so dass nachher ein Pigment und schönes Dunkelblau entsteht. ERZÄHLERIN Vereinfacht gesagt: werden in der Farbmühle bunte Steine zu Pulver gemahlen, dem Pigment. Aber was ist eigentlich ein Pigment? Und was ist der Unterschied zu Farbstoff? Pigment und Farbstoff verhalten sich etwa wie Sand und Salz: Schüttet man Salz in einen Becher Wasser, löst es sich auf. Die Sandkörner hingegen bleiben erhalten, nach einiger Zeit setzen sie sich am Boden ab. So etwa kann man sich auch Pigmente vorstellen, nur dass die Teilchen viel kleiner als Sandkörner sind. 10 OT Kremer  Das Pigment Teilchen bleibt immer ein Teil. Pigmente sind sehr viel stabiler als Farbstoffe. Sie sind nicht so lichtempfindlich, sie sind nicht so säureempfindlich und werden deshalb vorwiegend in der Malerei eingesetzt. ERZÄHLER  Im Showroom in Aichstetten reiht sich ein farbenprächtiges Pigment neben das andere. Alle haben eine erstaunliche Strahlkraft. Die meisten Pigmente sind aus Erden oder Mineralien gewonnen: grüner Malachit, roter Jaspis, rosa Rubin, Schiefergrün oder andalusischer gelber Ocker. Organische Pigmente aus Pflanzen wie Krapplack, Indigo, Algen oder Sandelholz gibt es weniger. 11 OT Kremer Der Nachteil von den Pflanzen-Pigmenten oder auch Farbstoffen ist, dass sie nicht lichtstabil sind. Das Licht zerstört einfach den Farbstoff sehr viel schneller als bei einem mineralischen Pigment.  ERZÄHLERIN Viele Maler haben aber den Anspruch, ihre Bilder in den strahlendsten und haltbarsten Farben zu malen, die es gibt. Das verlangt oft schon das Bildmotiv. Der Mantel der Jungfrau Maria darf schließlich nicht verblassen! Legendär ist die Farbe Ultramarin. Ultramarin wird aus Lapislazuli gewonnen, einem Gestein, das hauptsächlich aus Afghanistan kommt.  12 OT Kremer  Wenn man ein Kilo Stein hat, dann hat man am Ende 50 Gramm Pigment und Lapislazuli oder allgemein die mineralischen Pigmente sind eher transparent, weshalb man dann mehrere Malschichten eigentlich auch benötigt. ERZÄHLER  Die wenigen, teils schwer erreichbaren Vorkommen und die aufwändige Herstellung machen Lapislazuli zu einem der teuersten Pigmente der Welt, im Mittelalter wurde es mit Gold aufgewogen. ERZÄHLERIN Doch Kremer Pigmente arbeitet nicht nur mit jahrhundertealten Rezepturen. Künstler von heute freuen sich auch über ganz neue Farben – zum Beispiel über ein Pigment aus Maw Sit Sit bzw. Kosmochlor, ein Gestein, das einst per Meteor auf die Erde kam. Geräusche Mühlen 13 OT David Kremer  Hier sind wir in unserer Werkstatt, wo verschiedene Mühlen laufen. Man hört das Rasseln hier hinten. Und das ist das sagenumwobene Maw Sit Sit. Und das sieht ja wirklich sehr leuchtend aus, Schwefelgrün könnte man vielleicht sogar sagen. Musik 8: micromanaged – 30 Sek ERZÄHLERIN Doch egal ob Alge, Lapislazuli oder Kosmochlor: Mit dem Pigment allein kann man nicht malen. Damit das Pigmentpulver auf dem Untergrund hält, braucht es ein sogenanntes Bindemittel, eine Art Kleber. Möglich sind Gummiarabikum, Leim, Harz, Wachs oder Lack. Eines der häufigsten Bindemittel in der europäischen Malerei ist Öl. Aber Öl ist nicht gleich Öl:  14 OT Kremer  Walnussöl … ist ein sehr helles Öl im Vergleich zum Leinöl, trocknet sehr viel langsamer als das Leinöl. Der Vorzug beim Walnussöl ist, es gilbt nicht so stark, weshalb man das auch eher bei blauen und weißen Pigmenten verwendet, sonst hat man nachher beim Leinöl mit einem blauen Pigment vergrünt das nachher. ERZÄHLER  Jedes Öl hat andere Eigenschaften, manche neigen zum Vergilben, andere trocknen schneller. Olivenöl nutzt man zum Beispiel nicht zum Malen, das trocknet praktisch nie. Nächstes Problem: Pigmente und Öl lassen sich nicht so einfach vermischen: Das Pigment muss in das Öl eingerieben werden. In früheren Zeiten beschäftigten die großen Maler deshalb Lehrlinge, die ausschließlich mit dem Anrühren der Farben beschäftigt waren. 15 OT Kremer  Das macht man klassisch auf so einer Platte wie hier zum Beispiel auf einer Marmor-, auf einer glatten, nicht saugenden Oberfläche. Mit einem Glasläufer oder früher haben die auch einfach solche glattgeschliffenen Steine genommen, wo das Pigment nachher in das Öl eingerieben wird, sodass man eine Paste hat. Und mit der Paste kann man natürlich sehr pastös auf die Leinwand malen, so dass die Farbe steht. ERZÄHLERIN Ist die Paste zu dick, muss man sie verdünnen. Dazu nimmt man Terpentinöl, das aus Nadelholz gewonnen wird und für den markanten Geruch in vielen Künstlerateliers sorgt. Es ist auch nicht ganz ungiftig. Kurz gesagt: Die ganze Sache mit dem Malen ist ziemlich kompliziert. Da wundert es nicht, dass Maler lange Zeit als Handwerker galten. Etwa bis ins Jahr 1800 unterstanden sie der Zunftordnung und bewegten sich auf der gleichen Stufe wie ein Bäcker oder Schornsteinfeger. Zwischen Malen und Schuhflicken wurde also kein Unterschied gemacht.  Musik 9: Parovskapproved – siehe vorn – 48 Sek ERZÄHLER  Jede Maltechnik hat ihre Vor- und Nachteile: Ölfarbe trocknet langsam, man kann lange nass in nass malen. Was nicht gefällt, kann man mit einem Tuch oder Spachtel gut wieder wegkratzen. Doch die Farben neigen zum Vergilben und zu Rissbildung. Eine Alternative sind Temperafarben. Als Bindemittel dient hier Ei, also ganz normales Hühnerei. Eigelb ist eine natürliche Emulsion, das macht die Farbe gut vermalbar. Die Technik ist bereits seit der Antike bekannt. Aber Temperafarben werden schnell fest und die Herstellung ist recht umständlich. Kathrin Kinseher: 16 OT Kinseher Für manche Malerinnen und Maler ist es ganz wunderbar. Es ist ein Einstieg in den Tag, ja, erstmal die Temperafarben selbst zu binden, zubereiten, weil es ist auch am besten in der Regel immer frisch zu machen. Aber andere sagen, also das geht für mich überhaupt nicht, … das kostet zu viel Zeit. Ich will sofort ans Bild. Musik 10: Manifest – siehe vorn – 35 Sek ERZÄHLERIN Das Malen selbst kostet ebenfalls viel Zeit. Öl-Farben werden meist in Schichten, den sogenannten Lasuren aufgetragen. Jede Schicht ist leicht transparent, so dass die Farbe darunter sichtbar bleibt. Die endgültige Farbwirkung eines Ölgemäldes entsteht im Zusammenspiel aller Schichten miteinander. Das Gesicht seiner Madonnen zum Beispiel hat Lukas Cranach nicht einfach mit Rosa gemalt. Unter den Rot-Tönen liegt eine Schicht sogenannter Grüner Erde. Das ergibt einen natürlichen, lebendigen Hautton und man konnte die Gesichter so perfekt modellieren: Augenringe sind ein bisschen grünlicher, auf die höher liegenden Wangenknochen kam nochmal ein extra Schicht rot.  ERZÄHLER  Eine neue Farbe kann man erst auftragen, wenn die untere Schicht ein wenig angetrocknet ist. Tizian aber malte zum Beispiel selten weniger als 40 Schichten übereinander. Da wundert es nicht, dass manche Maler Monate oder gar Jahre für ihre Ölgemälde brauchten. Zumal in vorelektrischer Zeit nur wenige Stunden Tageslicht zum Malen blieben.  ERZÄHLERIN Die langsame Trocknungszeit von Ölfarben hat aber auch Vorteile: Will man zum Beispiel Übergänge schaffen, kann man mit der neuen Farbe in die noch feuchte untere Farbschicht hineinmalen und sie auf der Leinwand miteinander vermischen. Bei einem Sonnenuntergang etwa stehen die einzelnen Farbtöne nicht abgegrenzt nebeneinander: Vom weiß der Sonne über die verschiedensten Nuancen von Gelb bis zu Orange und Blutrot hinein in einen blauen Himmel oder das Meer, gehen sie nahtlos ineinander über. Für solche Farbverläufe sind Ölfarben besonders geeignet. Musik 11: Boating for beginners – 54 Sek ERZÄHLER  Zugleich sind Malerinnen und Maler natürlich Kinder ihrer Zeit. Neue Maltechniken haben ganze Kunststile entscheidend beeinflusst: Die Erfindung der Tubenfarben 1841 ermöglichte es, in der freien Natur zu malen, direkt vor dem Motiv, „en plein air“. Und zwar nicht nur Skizzen, sondern große Formate. Die Malerinnen und Maler konnten so den Eindruck, den eine Landschaft auf sie machte, unmittelbar wiedergeben. Die Impressionisten wie Claude Monet, aber auch van Gogh, Franz Marc oder Gabriele Münter: sie alle stellten ihre Staffeleien gern an Strand, Feld und Wiesen auf. 17 OT Kinseher Das war natürlich wirklich eine riesige Innovation… die Tubenfarben können mit auf Reisen genommen werden. Es sind diese Malkästen, dass man ein überschaubares Sortiment der wichtigsten Farbtöne als Tubenfarbe im hölzernen Malkasten bereithält.  Musik 12: erupting light –  53 Sek ERZÄHLERIN Leicht zu handhaben sind auch Aquarellfarben. Aquarellfarben werden mit sehr viel Wasser aufgetragen, als Untergrund dient besonders saugfähiges Büttenpapier. Korrekturen sind in der Aquarell-Technik unmöglich, man kann weder ausradieren, noch abschaben und auch nicht übermalen, jeder Pinselstrich muss sitzen. Damit das Papier nicht trocknet, muss man außerdem noch recht schnell malen. Doch die Umstände lohnen: die Nass-in-Nass-Technik sorgt für wunderbare Farbverläufe, die Farben fließen ganz wörtlich ineinander und verschmelzen. Maler wie William Turner, Albrecht Dürer oder Paul Klee schätzten das Aquarell sehr, sie alle aquarellierten viel auf Reisen. 18 OT Kinseher Ein wunderbarer Begleiter, ja, also man kann damit die Skizze kolorieren, aber einfach auch nur in dieser flüssigen, Farbmaterial-Sprache arbeiten, … diese fluide Kraft des Wassers spielt da eine ganz, ganz große Rolle. Und das ist natürlich auch extrem reizvoll, diese Fließfähigkeit zu nutzen. ERZÄHLER  Für alle Maltechniken gilt: Man kann sie auch miteinander kombinieren. Seinen Hasen malte Dürer zunächst in braunen Aquarellfarben, die feinen Härchen und Lichter setzte er mit Gouachefarben. Allerdings muss man sich bei der Kombination von Farbsorten an bestimmte Regeln halten. Die wichtigste lautet: von mager zu fett. Das heißt, dass die unteren Schichten eines Gemäldes weniger Öl als die oberen enthalten dürfen, sonst bildet sich ein hässliches Kraquelee.  19 OT Kinseher Es geht in so einem Maltechnik-System oder Bildaufbau-System eigentlich immer um Haftung und Adhäsion und eine gute Verbindung der Schichten untereinander. … so dass man nicht fürchten muss, dass schnell Schichtentrennungen, Krakelees und Absplitterungen stattfinden.  ERZÄHLERIN Zum Glück gibt es auch Farben, über die man sich kaum Gedanken machen muss: Acryl zum Beispiel. Acrylfarben haften auf den meisten Oberflächen, sie trocknen schnell und man kann sie gut übermalen. Genau genommen handelt es sich bei Acryl um eine Plastik-Dispersion, die Farbwirkung ist sehr gleichmäßig. Anders gesagt: lasierend aufgetragene Ölfarben wirken deutlich lebendiger und natürlicher. Aber das wollen manche Künstler gar nicht. Die Pop-Art beispielsweise schätze genau diese „künstliche“ Ästhetik einer Malerei, die an gedruckte Comics erinnert. 20 OT Kinseher Also Acrylfarbe bewegt sich mehr sozusagen an dieser Oberfläche und das wirkt plakativer. Zum Beispiel die Arbeiten von Roy Lichtenstein, der mit Klebebändern arbeitet um eine klare Kante zu schaffen… Da eignet sich einfach eine schnell trocknende Farbe extrem gut dafür … und dadurch konnte gewissermaßen eine neue Bildsprache entwickelt werden. …Diese ganze Pop-Art-Malerei ist auch zum Teil Acryl-Malerei und der ist so was Plakatives zu eigen.  Musik 13: Infinite – 57 Sek ERZÄHLER  Als letzte Handlung werden Gemälde gern mit einem Firnis überzogen, einem klaren Lack. Er schützt das Gemälde und kann zugleich die Farbwirkung noch einmal unterstreichen. Das Wort Firnis kommt aus dem Französischen, „vernis“ ist der Lack. Im Lauf der Zeit entstand der Brauch, dieses „Firnissen“ im Kreis von Freunden und Auftraggebern vorzunehmen. Diese öffentliche „Vernissage“ kennen wir heute als Ausstellungs-Eröffnung. Und spätestens zur Vernissage ist es egal, was für ein Malgrund, Pigment oder Bindemittel verwendet wurden. Dann wird aus all dem nüchternen Material faszinierende Malerei.

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Schuldgefühle - Wenn Selbstvorwürfe zur Qual werden

Schuldgefühle drücken nieder. Sie können Selbstwertgefühl und Verhalten stark beeinflussen. Nach dem Motto: Buße tun hilft vielleicht. Doch oft lohnt der Blick auf zu Grunde liegende Ängste und Konflikte mehr. Autorin: Justina Schreiber (BR 2020) Credits Autorin dieser Folge: Justina Schreiber Regie: Irene Schuck Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann Technik: Helge Schwarz Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview:  - Heidi Spanl, Psychoanalytikerin, und Helga Kernstock-Redl, Psychotherapeutin Psychologie: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. Wie wir ticken – Euer Psychologie Podcast [https://www.ardaudiothek.de/sendung/wie-wir-ticken-euer-psychologie-podcast/94700346/] Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/manuskripte/index.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:  SPRECHERIN: Es war ein Fehler. Man hat etwas verkehrt gemacht. Etwas Wichtiges versäumt. Wie furchtbar. Wie konnte man nur!  SPRECHER: Schuldgefühle drücken nieder. Es sind schwere Gefühle. SPRECHERIN: Der Übel größtes ist die Schuld!  SPRECHER: Sagt ein Sprichwort. SPRECHERIN: Man grübelt und zermürbt sich. Vielleicht hängen die Schultern. Der Blick ist gesenkt, die Stimmung im Keller.  SPRECHER: Gute Laune ist etwas anderes. Nicht ohne Grund zählen Schuldgefühle zu den negativ bewerteten Gefühlen, sagt die Wiener Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl. O-TON 01: (Kernstock-Redl)                                                                       „Schuldgefühle sind belastend, quälend werden sie beschrieben. Sie lösen auch Angst aus, einerseits die Angst vor Strafe, wer Schuld hat, wird vielleicht bestraft.“  SPRECHERIN: Alle Schuld rächt sich auf Erden. O-TON 02: (Kernstock-Redl)                                                                              „Aber auch Angst vor dem Gefühl selbst, weil es eben so ein unangenehmes Gefühl ist.“ SPRECHERIN: Jeder Mensch kennt es. Weltweit in allen Kulturen kommen Schuldgefühle vor. Dass sich auch Tiere, vor allem Primaten, schuldig fühlen können, wird vermutet, lässt sich aber nicht so leicht belegen.  SPRECHER: Schuldgefühle werden schnell mit Scham oder Angst verwechselt. Unter Wissenschaftlern gelten sie als schwer zu fassende, komplexe Emotionen. O-TON 03: (Kernstock-Redl)                                                                             „Hirnscans zeigen, dass viele Hirnareale da beteiligt sind, vor allem das Denken, also die Hirnareale, wo es um Gedanken geht, um Soziales geht, die sind auch sehr stark aktiv bei Schuldgefühlen.“ MUSIK 2  "Massage" - Komponist: Daniel Pemberton - Album: The Haunted Airman (Soundtrack) Länge: 0'44 O-TON 04: (Heidi Spanl)                                                                               „Erst einmal finde ich es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Schuldgefühle nichts direkt mit Schuld zu tun haben. Also, man hat sich keine Schuld aufgeladen, nur weil man ein Schuldgefühl hat, die existieren sozusagen unabhängig davon.“ SPRECHER: Ihre Entstehung belegt es, erklärt die Psychoanalytikerin Heidi Spanl. Kinder kommen ohne eigene Schuld, also „unschuldig“ zur Welt. (Auch wenn die Lehre von der Erbsünde etwas anderes behauptet.) SPRECHERIN: Trotzdem verfügen Neugeborene offenkundig über die Fähigkeit, Schuldgefühle zu entwickeln. Der Lernprozess beginnt mit der Geburt.  O-TON 05: (Heidi Spanl)                                                                             „Man kann sich das ganz schwer nur vorstellen. Aber dass Erwachsene den Kindern schon, den Neugeborenen ein Stück Schuldgefühle auch vermitteln für bestimmte Dinge, die sie tun, dass sie besonders laut brüllen, wenn sie Hunger haben und nicht sofort gestillt oder gefüttert werden.“ SPRECHER: Ein „Nein“ folgt dann vielleicht als Reaktion. Oder ein Stirnrunzel, ein Zögern, ein Genervtsein.  SPRECHERIN: Säuglinge nehmen die Forderungen ihrer Umgebung wahr. Abhängig wie sie sind, passen sie sich immer auch den Bedingungen an. Empathisch zu sein, erweist sich als nützlich. Auch in späteren Jahren. O-TON 06: (Heidi Spanl)                                                                              „Also, man möchte eigentlich auch den Eltern, den Pflegepersonen gefallen, damit man nicht ausgestoßen wird, damit man geliebt wird, damit man Anerkennung bekommt.  Das brauchen wir einfach.“ SPRECHER: Ohne Zuwendung, ohne positives Feedback kann der Mensch, das soziale Wesen, nicht überleben. Es gilt, die Spielregeln möglichst schnell und gut zu verinnerlichen, um zu wissen, was „man“ tut und was „man“ nicht tut.  MUSIK 3 "Massage" - Komponist: Daniel Pemberton - Album: The Haunted Airman (Soundtrack) Länge: 0'39 O-TON 07: (Heidi Spanl)                                                                                 „Man muss ja erst mal ein Gewissen entwickeln. Man kommt mit seinen Wünschen, also mit seiner triebhaften Ausstattung, mit den Instinkten auf die Welt, aber man hat noch keine Psyche und auch kein Gewissen: was ist gut, was ist böse?“ SPRECHERIN: Das ist die zentrale Frage.  SPRECHER: Das biologische Programm lässt den Menschen nach egoistischer Wunsch- oder Triebbefriedigung streben. Das Gewissen, das sich dann im Laufe der Erziehung über positive und negative Verstärkungen Schicht für Schicht herausbildet, wirkt wie eine Art Korrektiv.  SPRECHERIN: Sigmund Freud nannte diese innere Instanz „Über-Ich“. Es versucht, das „Ich“, das mehr oder weniger bewusst agierende Ego des Individuums zu dirigieren. Die Psychoanalytikerin Heidi Spanl erklärt: O-TON 08: (Heidi Spanl)                                                                              „Das Über-Ich ist die Instanz, die alle Normen, alle Verbote aufnimmt, natürlich wieder vermittelt durch die Eltern auch, aber auch durch die Gesellschaft, durch die Sozialisation.“  SPRECHERIN: Wer gewissen Normen und Erwartungen entspricht, wird belohnt. Auch durch das eigene gute Gewissen. Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. MUSIK 4 "End Credits" - Album: Shame - K und A: Harry Escott  SPRECHER: Ganz anders das schlechte Gewissen, das sich in Schuldgefühlen äußert. Sie können für schlaflose Nächte sorgen.  SPRECHERIN: Je nachdem wie rigide das Über-Ich ist beziehungsweise wie versagend die Erziehung war: Wer es wagt, eine verinnerlichte Regel zu brechen und einer an sich verbotenen Lust zu frönen, handelt sich „zur Strafe“ mal heftigere, mal schwächere Unlustgefühle ein. Im Brav sein, im Verzicht liegt also ein emotionaler Gewinn. Denn das Gewissen schweigt.  SPRECHER: Das ist der Sinn und Zweck der Fähigkeit, Schuldgefühle zu empfinden: O-TON 09: (Kernstock-Redl)                                                                 „Der Sinn liegt im Vermeiden.“ SPRECHER: Die Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl hat einen Ratgeber zum Thema verfasst. Sie nennt den psychischen Mechanismus einen „Kunstgriff der Natur“: Bringen Schuldgefühle die Menschen doch dazu, allgemein erwünschte, (in Anführungszeichen) „richtige“ Verhaltensweisen anzunehmen.  O-TON 10: (Kernstock-Redl)                                                                  „Wir haben so eine breite Straße von Verhaltensweisen, die für uns in Ordnung sind, und die gehen wir. Da folgen wir unseren inneren Regeln und spüren natürlich keine Schuldgefühle, wenn wir sie nicht brechen. Wenn wir aber diese vorgegebene Bahn verlassen, dann merken wir an diesem unangenehmen Gefühl: upps, ich bin quasi vom Weg abgekommen.“ MUSIK 5 "La marche de Henri IV (Henri IV)" - Musique de l'air de Paris - Album: Airs militaires anciens / Marches refrains batteries de la garde impériale / Fanfares royales et impériales - K: Robert Fayeulle & Robert Goutte Länge: 0'52 SPRECHERIN: Schuldgefühle erleichtern Eltern, Erziehern und staatlichen oder kirchlichen Institutionen die Arbeit. Sie sind Werkzeuge der Moral.  SPRECHER: Weg geht es vom „Bösen“, hin zum Guten. Weg vom Körper, hin zum Geistigen. Weg vom Schmutz, hin zur reinen Weste. Hin zu Lob und Schulterklopfen. Die Tendenz zum Sich-Verbiegen gehört zum Programm. Wobei Schuldgefühle in einer Diktatur ganz andere Formen annehmen können als in einer Demokratie. SPRECHERIN: Helga Kernstock-Redl verweist als Beispiel auf die Kriegsgeneration, die Generation der Groß- und Urgroßeltern: O-TON 11: (Kernstock-Redl)                                                                „Da war die Regel: nur ja niemanden etwas schuldig bleiben! Das heißt, die konnten gar kein Geschenk annehmen, ohne es doppelt und dreifach zurückzuzahlen und hatten immer so dieses Gefühl, eben ein Schuldgefühl zu haben, ist das Schlimmste überhaupt. Viele kennen dann gar keine Dankbarkeit mehr.“ SPRECHER: Was eigentlich schade ist. O-TON 12: (Kernstock-Redl)                                                                   „Wenn ich aber das innere Gesetz hab, ich darf nichts annehmen ohne es doppelt und dreifach zurückzuzahlen, entgeht mir dieses Gefühl der Dankbarkeit, weil es sofort überlagert wird von einem Schuldgefühl.“ SPRECHER: Es hält den Menschen auf Trab. Nur nicht lockerlassen. Geben ist seliger denn Nehmen! MUSIK 6 - "La marche de Henri IV (Henri IV)" - Musique de l'air de Paris - Album: Airs militaires anciens / Marches refrains batteries de la garde impériale / Fanfares royales et impériales - K: Robert Fayeulle & Robert Goutte Länge:  SPRECHERIN: Je nachdem, welchen Prämissen eine Gesellschaft, eine Gruppe, eine Familie folgt: Schuldgefühle dienen der Dressur, dem Zurechtstutzen des Menschen, indem sie seine biologischen Anlagen, seine Faulheit, sein Begehren, kulturell überformen, also gewissermaßen veredeln. In Anführungszeichen „primitive“ Triebe oder egoistische Wünsche werden zu Gunsten sozial verträglicherer Verhaltensweisen unterdrückt.  SPRECHER: Emotionale Energien werden kanalisiert. Die Psychoanalyse nennt den Vorgang „sublimieren“, erklärt Heidi Spanl. O-TON 13: (Heidi Spanl)                                                                        „Durch die Schuldgefühle gelingt es dem menschlichen Individuum, das Triebhafte zu sublimieren, das heißt eben, anders zu nutzen als jetzt nur in einer triebhaften Wunschbefriedigung, und aber auch zu transformieren, also das Triebhafte in uns kann über Schuldgefühle sublimiert und transformiert werden.“ SPRECHER: Du sollst lieber beten statt morden. Arbeiten statt trinken. Lesen statt liederlich sein. So trägt das schlechte Gewissen des Einzelnen zum Gemeinwohl des größeren Ganzen bei. Es hat beileibe nicht das private Glück im Auge.  SPRECHERIN: Nein! Schuldgefühle etablieren die Pflichterfüllung als wichtiges Gebot. Sie liefern den Kitt menschlicher Gemeinschaften: O-TON 14: (Kernstock-Redl)                                                               „Sie halten Gemeinschaften aufrecht, weil sie Konflikte vermeiden helfen, weil sie so einen moralischen Überbau gewährleisten, weil wir einander vorhersagbar werden dadurch, weil ich ungefähr weiß oder hoffen darf, dass sich die anderen in meiner Gemeinschaft an dieselben Regeln halten wie ich.“ MUSIK 7 "Litany of Bananas" - K: Harry Escott - Album: River (Original Television Soundtrack) SPRECHER: Doch schon Sigmund Freud warnte vor dem „Unbehagen in der Kultur“.  Die Decke der Zivilisation ist dünn. Darunter brodelt es. Verlangen die Schuldgefühle dem Menschen unterm Strich vielleicht zu viel an Selbstbeherrschung und Triebverzicht ab?   SPRECHERIN: Hinzu kommt: die verinnerlichten Regeln können jeglicher Vernunft und Logik entbehren. Jedes Individuum verfügt ja über sein ganz persönliches Schuldgefühl, also über ein ganz persönliches Sammelsurium innerer Richtlinien, die sich auf unterschiedliche Weise manifestiert haben. O-TON 15: (Kernstock-Redl)                                                  „Diese sind anerzogen, beobachtet, eingeredet, sind eigene Schlussfolgerungen, wir erschaffen unsere Regeln auch ganz selber, also da sind auch eigene Schlussfolgerungen dahinter.“ SPRECHER: Schuldgefühle stellen den Sinn der Regeln, deren Einhaltung sie steuern, nicht in Frage. Vielmehr sorgen sie dafür, dass sich auch problematische oder gar schädliche Überzeugungen verfestigen. Zum Beispiel: O-TON 16: (Heidi Spanl)                                                 „Wenn Kinder nicht erwünscht sind, also keine Wunschkinder sind und immer das Gefühl haben, irgendwie eine Schuld zu tragen, dass sie überhaupt da sind oder wenn ein Geschwisterkind gestorben ist, dass sie dieses Kind ersetzen sollen und merken, sie schaffen das nicht.“ (REISST ETWAS AB) MUSIK 8 "Litany of Bananas" - K: Harry Escott - Album: River (Original Television Soundtrack) SPRECHER: So sehr sie sich auch bemühen: das Schuldgefühl bleibt. Denn die innere Regel, die die Bezugspersonen - wie auch immer - vermittelt haben, lautet:  SPRECHERIN: Du bist nicht richtig, so wie du bist. Ein anderes Kind glaubt vielleicht: du bist nur richtig, wenn du dich still und unauffällig verhältst. SPRECHER: Oder jemand hat die Regel verinnerlicht, dass man alle Versprechen halten muss:  O-TON 17: (Kernstock-Redl)                                             „Das ist schon ein Gesetz, das extrem ist. Da werde ich relativ oft in meinem Leben Schuldgefühle haben. Wenn der Durchschnitt meiner Umgebung denkt: na, ich halte Versprechen, wenn es irgendwie geht, aber wenn nicht, macht es auch nichts. Die werden mir dann sagen: ja, was tust du dir an? Es ist halt manchmal so, man kann Versprechen nicht einhalten, Dinge ändern sich, das heißt, die können dann vielleicht gar nicht nachvollziehen, dass ich ein Schuldgefühl hab.“ SPRECHERIN: „Schuld“ und „Soll“ oder „Sollen“ haben dieselben sprachlichen Wurzeln. Es geht um Defizite, die ausgeglichen werden „sollten“. Wie auch immer. MUSIK 9 "Litany of Bananas" - K: Harry Escott - Album: River (Original Television Soundtrack) SPRECHER: Es ist gehupft wie gesprungen: Ob man sie nun brav vermeidet oder im Nachhinein das Zwicken ertragen muss - vor Schuldgefühlen gibt es kein Entkommen.  SPRECHERIN: Nur gewissenlose Menschen kennen sie nicht. SPRECHER: Bestenfalls werden Schuldgefühle von freundlicheren Emotionen in Schach gehalten oder durch so etwas wie Gelassenheit abgemildert.  SPRECHERIN: Aber es bleibt ein ständiges Ringen um psychische Stabilität. Vor allem bei Menschen, die die Moral hochhalten, kann schnell eine Katerstimmung überhandnehmen.  SPRECHER: Oder das schlechte Gewissen breitet sich immer wieder aus, weil nahestehende Personen dazu neigen, ihr Befremden zu äußern - nach dem Prinzip: Wie konntest du nur? Das geht ja wohl gar nicht. O-TON 19: (Kernstock-Redl bei 23 Min)  „Wir alle kennen so Menschen, die durch die Welt gehen und Vorwürfe ausstrahlen oder anderen ständig Vorwürfe machen, also ein Schuldgefühl suggerieren. Und das kann man sich dann schon auch mal einreden lassen. Und man entwickelt dann ein Schuldgefühl, obwohl man außerhalb der Beziehung, wenn man quasi sich wieder ein bissel wachgerüttelt hat, sich denkt: ich bin ja überhaupt nicht schuldig, warum lasse ich mir ein Schuldgefühl einreden?“ SPRECHER: Vielleicht weil man weiß, dass der Mensch schuldig werden kann, ohne es zu wollen. Wie schnell verstößt man gegen ungeschriebene Gesetze und Konventionen. Also lieber den Kopf einziehen.  MUSIK 10 "End Credits" - Shame - K und A: Harry Escott  SPRECHER: Wenn Schuldgefühle ausufern, wenn sie sich ständig vorwurfsvoll zu Wort melden. Wenn sie überlaut werden, dann geht die Lebensfreude verloren.  SPRECHERIN: Dann zeigt das innere (oder auch ausgesprochene) Meckern, Mahnen und Hadern, dass die psychische Verfassung massiv aus dem Gleichgewicht geraten ist. Etwa, weil eine seelische Erkrankung vorliegt, ein Burnout oder eine Depression vielleicht.  O-TON 21: (Kernstock-Redl)                                                    „Eine Untergruppe von depressiven Menschen leidet vorrangig unter Grübelzwängen und die drehen sich sehr oft um Schuld oder um Versagen, die eigene Schlechtigkeit.“ SPRECHER: Als wäre der eigene Zeigefinger immer erhoben: Der Ton war zu schrill, der sprachliche Ausdruck unangemessen, das Verhalten schlichtweg falsch. Und überhaupt kriegt man wohl nichts mehr auf die Reihe. wenn Schuldgefühle zu quälenden inneren Gesprächen werden, leidet das Selbstwertgefühl extrem. Als würde man nur noch durch die Gegend schleichen.  SPRECHERIN: Oder ist es nicht eher umgekehrt: Dass ein schwaches Selbstwertgefühl drückenden Schuldgefühlen Tür und Tor öffnet?  SPRECHERIN: Kann sein, sagt Helga Kernstock-Redl. Wer von übertriebenen Schuldgefühlen beherrscht wird, gleicht schlichtweg einem bankrotten Schuldner. O-TON 22: (Kernstock-Redl)                                                              „Ein innerer Faktor, der Schuld begrenzt, sind Rechte. Wenn ich ein Recht habe, etwas zu bekommen, dann entsteht keine Rückzahlungsverpflichtung. Das heißt, ich bin nichts schuldig. Wenn Menschen für sich gar keine Rechte haben, das heißt, wenn jemandem innere Rechte fehlen, das, was man Selbstwert nennt auch, dann ist er hochgradig anfällig, enorme Schuldgefühle zu entwickeln, weil er eben keine Gegenkraft hat.“ SPRECHERIN: Deshalb neigen extrem abhängige Personen zu vermehrten Schuldgefühlen. Etwa Menschen, die in tyrannischen Beziehungen leben und ihren eigenen Willen unterdrücken.  SPRECHER: Schuldgefühle machen erpressbar. Da ist die Angst vor Liebesverlust, da ist der niederschmetternde Eindruck, nichts wert zu sein. Da ist das Kreisen um die eigenen Fehler und Versäumnisse.  SPRECHERIN:  Weitaus produktiver wäre es jedoch, sich die Frage zu stellen: O-TON 23: (Kernstock-Redl)                                                        „Wann leide ich so sehr, dass ich den Eindruck hab, ich kann mein Leben gar nicht mehr genießen. Und spätestens dann ist es wichtig, sich das Gefühl selber mal anzuschauen und dagegen vorzugehen, es zu überprüfen: ist es real?“ SPRECHER: Also: Hat man wirklich so viel Schuld auf sich geladen, dass die anhaltenden Schuldgefühle gerechtfertigt wären?  SPRECHERIN: Selbst wenn jemand seinen Mann verlassen hat oder Insolvenz anmelden musste…  SPRECHER: Die Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl empfiehlt, nach den inneren Regeln hinter den Schuldgefühlen zu suchen, also erst einmal überhaupt zu erkennen, was die wahre Ursache ist. Als da wäre etwa das Verbot, Nein sagen oder auf das persönliche Wohlbefinden achten zu dürfen.

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Henry David Thoreau - Rebell und Öko-Pionier

Anpassung oder Aufbegehren? Zerstörung der Natur oder verantwortungsvoller Umgang mit ihr? Die Antworten des US-amerikanische Dichters Henry David Thoreau, vor über 150 Jahren geschrieben, sind von beeindruckender Aktualität. (BR 2018) Credits Autor dieser Folge:  Michael Reitz Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß,Thomas Lettow Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: * Prof. Dr. Dieter Schulz, Anglistik an der Universität Heidelberg; * Frank Schäfer, Thoreau-Biograf, Braunschweig;  * US-amerikanischer Vietnam-Soldat Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: Alles Geschichte – Der History-Podcast [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLERIN Washington, D.C, am 23. April 1971. Auf den Stufen des Capitols, dem Sitz des US-Kongresses, haben sich circa 1.000 Soldaten und Offiziere versammelt. Sie demonstrieren für das Ende des Krieges in Vietnam. Ein Krieg, an dem sie selbst teilgenommen haben. Höhepunkt des Protests ist eine Aktion, die wohl einmalig ist in der Geschichte:  MUSIK ENDE O-TON US-AMERIKANISCHER VIETNAM-SOLDAT I got those medals and people had to die for … ERZÄHLERIN „Menschen mussten sterben, damit ich diesen Orden bekommen konnte“, ruft ein junger Mann ins Mikrophon. Daraufhin reißt er sich die Rang- und Divisionsabzeichen von der Uniform und wirft sie zusammen mit seiner Tapferkeitsmedaille in einen Müllcontainer (O-TON ENDE). Hunderte seiner Kameraden tun es ebenfalls. Es ist ein Akt des zivilen Ungehorsams – ein Begriff, der auf den Philosophen, Pionier der ökologischen Bewegung und Schriftsteller Henry David Thoreau zurückgeht. In seiner Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ schrieb er im Jahr 1849: ZITATOR Wenn tausend Menschen dieses Jahr ihre Steuern nicht bezahlten, so wäre das keine gewaltsame und blutige Maßnahme – was aber wäre, wenn sie bezahlten und damit den Staat in die Lage versetzten, Gewalt anzuwenden und unschuldiges Blut zu vergießen?  MUSIK ERZÄHLERIN Henry David Thoreau wird am 12. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Concord im US-Bundesstaat Massachusetts geboren. Damals ein idyllischer Ort in ländlicher Gegend. Im Unterschied zu vielen amerikanischen Familien ist Henrys Elternhaus in Fragen der Religion tolerant. Es gibt keinen vorgeschriebenen Glauben, den er und seine drei Geschwister streng befolgen müssen – ein Umstand, der für sein späteres Leben bestimmend sein wird. Nach der regulären Schulzeit bekommt er ein Stipendium für die renommierte Harvard-Universität. Zwar fällt er beim Aufnahmetest beinahe durch, aber in den folgenden Jahren wird er zu einem wahren Bücherwurm und universal gebildeten Menschen, der Ovid, Homer und Goethe im Original lesen kann. Doch schon früh geht ihm der akademische Betrieb gegen den Strich (MUSIK ENDE). Der Heidelberger Anglistik-Professor Dieter Schulz gilt als Thoreau-Experte. Er beschreibt dessen Einstellung so: O-TON DIETER SCHULZ Bücher bieten keine Rezepte etwa für die Lebensführung oder irgendwelche Wahrheiten, irgendwelche Weisheiten, die unerschütterlich, nur weil sie gedruckt sind, dann zu akzeptieren wären. Von daher also würde ich eher sagen, es ist ein zwiespältiges Verhältnis zu Büchern. Er war ein – wie ein Kritiker das genannt hat – ein Chain Reader, also ein Kettenleser einerseits. Andererseits hat er aber nichts, was er da gelesen hat, für bare Münze genommen, sondern alles einem Realitätstest unterworfen, in dem Sinne, dass er sich fragte: Stimmt das mit meiner eigenen Erfahrung überein? MUSIK ERZÄHLERIN Der junge Mann ist auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Nach einer weltanschaulichen Orientierung, die er durch ein enormes Lektürepensum zu finden hofft (MUSIK: priv. CD „Ride Home“ aus „Moonlight“ [00‘25‘‘]). Im Frühjahr 1837 findet er in der Universitätsbibliothek ein Buch, das soeben erschienen ist und dessen Autor ebenfalls in Concord lebt: „Natur“ von Ralph Waldo Emerson, dem Begründer des sogenannten „Transzendentalismus'“. Hierbei handelt es sich um eine Mischung aus Spiritualität und Philosophie, wie Dieter Schulz erläutert:  MUSIK ENDE O-TON DIETER SCHULZ Was die Transzendentalisten immer wieder ins Feld geführt haben, war, dass die Dinge, so wie sie sind, nicht der Weisheit letzter Schluss sein müssen, sondern dass es gewisse Prinzipien gibt, gewisse Ideale, die über die Wirklichkeit hinausgehen. Die pragmatische Seite kommt dann dadurch herein, dass man sagt, Ideale für sich, schön und gut – aber sie müssen dem Test des Lebensvollzugs unterworfen werden.  MUSIK ERZÄHLERIN Das Göttliche, so Ralph Waldo Emerson und die Transzendalisten, ist nichts Äußeres, sondern liegt im Menschen selbst. Um es freizulegen, muss der Einzelne die Natur als Quelle der göttlichen Offenbarung erfahren und im Einklang mir ihr leben. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Dasein nur in einem abgeschotteten Wolkenkuckucksheim gelebt werden soll: Die tiefen Erfahrungen, die der Mensch in der Natur machen kann, sollen in die Wirklichkeit getragen werden. Für Henry David Thoreau wird die Lektüre zu einem Erweckungserlebnis (MUSIK ENDE), wie sein Biograph, der Braunschweiger Schriftsteller Frank Schäfer, beschreibt: O-TON FRANK SCHÄFER Der Mensch in der Masse, der erschreckt ihn, weil er sieht – was passiert mit den Menschen? Die verlieren im Grunde ihre Autonomie, die verlieren ihre Einzigartigkeit. Die sind eben Teil der Masse. Und das muss ihn irgendwie sehr beunruhigt haben, dieses Gefühl. Und auch das lässt sich im Grunde ableiten aus dem Transzendentalismus: In jedem steckt sozusagen ein göttlicher Funke. Und den muss jeder für sich im Austausch mit sich selbst finden. Und das geht eben nicht als Teil der Masse. Das geht nur in Vereinzelung, das geht auch nur im Austausch mit der Natur, laut Thoreau. Und es geht auch nur eigentlich allein. ERZÄHLERIN Als Henry David Thoreau Emerson kennenlernt, entwickelt sich sehr bald eine tiefe Freundschaft. Der vierzehn Jahre ältere Philosoph wird nicht nur zu seinem geistigen Ziehvater. Er weckt auch einen Berufswunsch in dem jungen Mann, wie Dieter Schulz erzählt:  O-TON DIETER SCHULZ Nach der Begegnung mit Emerson wird das eigentlich sein Traum: sich als freier Schriftsteller durchzuschlagen. Und alles andere, was er sonst noch gemacht hat – also als Landvermesser arbeiten, dann hat er ja ausgeholfen in der Bleistiftfabrik seines Vaters, er hat den Leuten Bäume gepflanzt, er hat mitgeholfen, Sümpfe trockenzulegen und alles Mögliche –, das waren wirklich mehr Gelegenheitsarbeiten. Das sieht man dann auch später an seinem Tagesablauf. Ein paar Stunden draußen rumlaufen, Notizen machen, dann schreiben, zwischendurch natürlich auch lesen. MUSIK ERZÄHLERIN Doch zunächst muss Henry David Thoreau nach dem Universitätsabschluss seinen Lebensunterhalt verdienen. Er wird Lehrer an einer allgemeinen Schule. Dabei verfolgt er Erziehungsideale, die auf die Transzendentalisten zurückgehen. Und die nicht unbedingt im Einklang mit dem Lehrplan stehen. Als er sich weigert, die Prügelstrafe anzuwenden, fliegt er von der Schule. Daraufhin gründet er mit seinem Bruder eine eigene private Lehranstalt. Was dort im Mittelpunkt steht, erläutert Frank Schäfer: MUSIK ENDE O-TON FRANK SCHÄFER Nicht nur theoretische Kenntnisse vermitteln, alte Sprachen pauken und so was, sondern tatsächlich auch praktische Fähigkeiten vermitteln. Das Ganze anschaulich machen. Also das sind alles Sachen, die da das erste Mal eigentlich auftauchen, und die im Grunde sich aber tatsächlich herleiten aus diesem Glauben: Man geht in die Natur und kann da eben sehen, was Gott im Inneren zusammenhält. MUSIK ERZÄHLERIN Als sein Bruder an Wundstarrkrampf stirbt, schließt Henry die Schule. Er wohnt nach wie vor in seinem Elternhaus, hilft dem Vater in seiner kleinen Fabrik und eignet sich Kenntnisse in der Landvermessung an. Er ist ein praktischer Mensch, ein Intellektueller, der mit Hammer, Spaten und Säge umgehen kann. Dabei ist er kein einfacher Zeitgenosse. Oft brüskiert er seine Mitmenschen damit, dass er sagt, was er denkt. Für Frauen oder gar das Heiraten interessiert er sich wenig, Henry ist ein in sich gekehrter Mensch (MUSIK: priv. CD „Ride Home“ aus „Moonlight“ [01‘00‘‘]). Vor diesem Hintergrund ist auch ein Lebensabschnitt zu sehen, der ihn heute zur Galionsfigur der ökologischen Bewegung, vor allem der Landkommunen und der Hippiekultur in den USA werden lässt. Er will ein paar Jahre allein in einem Wald von seiner eigenen Hände Arbeit leben. In sein Tagebuch notiert er: ZITATOR Es ist jetzt Zeit, dass ich anfange zu leben. Ich möchte so sein wie ihr meine Wälder, und werde nicht eher ruhen, bis ich eure Unschuld erlangt habe. Ich möchte bald fortgehen und am See leben, wo ich nur den Wind im Schilf flüstern höre. Das wird ein Erfolg sein, sofern es mir gelingt, mich selbst zurückzulassen. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN Doch worin besteht Thoreaus Überdruss, seine Zivilisationskritik? In erster Linie darin, dass der Mensch der Moderne ein aufgespaltenes Wesen ist. Es verliert seine Sinnlichkeit, sein Empfinden dafür, dass er nur Teil der Natur und nicht ihr Beherrscher ist. Früh kritisiert Thoreau damit ein Leitbild, wie es heute gang und gäbe ist: das des Machers, des ökonomischen Menschen, der alles inklusive der Natur als Ressource sieht, die es auszubeuten gilt. Damit dies überhaupt möglich ist, muss dieser Menschentyp sich zunächst selbst als Produktionsmittel sehen, das nur noch auf der praktisch-technischen Ebene funktioniert. Henry David Thoreau stellt dem das Bild des vollständigen Menschen entgegen, wie es sein intellektueller Ziehvater Ralph Waldo Emerson formuliert hatte: ZITATOR Dieser Mensch ist weder Bauer noch Professor, noch Ingenieur – er ist all das zugleich. Dieser Mensch ist Priester und Gelehrter, Politiker, Unternehmer und Soldat.  ERZÄHLERIN Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, ist es dann soweit. Ralph Waldo Emerson hatte unweit des Wohnortes Thoreaus am Ufer des Walden-Sees ein kleines Stück Wald gekauft, um es vor der Abholzung zu bewahren. Er erlaubt seinem Freund und Schüler, dort eine kleine Hütte zu errichten. Und der beginnt sofort mit der Arbeit. Er legt ein zwei Morgen großes Feld an, auf dem er Rüben, Karotten, Bohnen, Kartoffeln und Mais anbaut und schafft mit einem Pferdekarren seine Habseligkeiten in die Einöde. Bei aller Verklärung, die dieser Umzug in der Geschichte der ökologischen Bewegung erfahren hat, darf man sich das allerdings nicht so vorstellen, als habe Henry David Thoreau in der Wildnis fernab jeder Zivilisation gelebt. Gerade mal ein paar Kilometer ist die Stadt Concord entfernt, das Einsiedler- und Aussteigerleben findet also in einem abgesicherten Modus statt. Für seinen Biographen Frank Schäfer ist das jedoch kein Widerspruch: O-TON FRANK SCHÄFER Deswegen konnte er diese Natur auch in einer Weise feiern, wie das bei einem Urwald gar nicht möglich gewesen wäre. Dieses Menschenfeindliche war da eben schon so etwas an den Rand gedrängt. Und deswegen hat es tatsächlich für ihn was Liebliches, ja was Mythisches. Und das muss ihn einfach schon früh unglaublich beeindruckt haben. ERZÄHLERIN Seine Motivation beschreibt Henry David Thoreau in seinem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“, das 1854 erscheint. Es ist heute ein Klassiker des verantwortungsvollen Umgangs mit der Natur: MUSIK ZITATOR Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. ERZÄHLERIN Nicht nur in der Natur leben, sondern mit ihr – Henry David Thoreau ist es ernst mit seinem Experiment, das zwei Jahre dauern wird (MUSIK ENDE). Er lebt von den Früchten, die er selbst zieht, von Waldbeeren und Pilzen, verkauft das, was er nicht zum Überleben braucht, auf dem Markt. Dabei macht er gleich im ersten Jahr eine interessante Entdeckung: das angelegte Gemüsefeld ist für seine Bedürfnisse viel zu groß. Der zivilisierte Mensch neigt offenbar zu Überproduktion und Naturausbeutung (MUSIK: priv. CD „Main Theme“ aus „The Seventh Fire“ [00‘30‘‘]). Henry David Thoreau verkleinert sein Feld und kommt zu dem Schluss: ZITATOR Dass, wenn jemand einfach leben und nur das verzehren will, was er selber baut, nicht mehr braucht, als er isst, und die Ernte nicht für eine unzureichende Menge kostspieligerer und überflüssigerer Dinge eintauscht, er nur ein paar Quadratmeter Grund zu bepflanzen braucht. MUSIK ENDE ERZÄHLERIN Wenn Thoreau trotzdem einmal Geld braucht, verdingt er sich als Tagelöhner. Dieses Leben als Selbstversorger in relativer Abgeschiedenheit, unabhängig von äußeren Umständen sieht er dabei als Vorbereitung für die Art von Existenz, die ihm immer vorschwebte: die eines Schriftstellers und Denkers, der seine Ideen nicht isoliert am Schreibtisch entwirft, sondern aus der Erfahrung eines tätigen Lebens heraus. Es ist ein individueller Reifungsprozess, den Thoreau sucht und findet. Die Langzeitwirkung dieser Einstellung erläutert Frank Schäfer:  O-TON FRANK SCHÄFER Das ist ja dann auch ein Moment, der bei den Hippies dann später aufgenommen wird, dass man nicht unbedingt die politischen Strukturen verändern muss, sondern die persönlichen Strukturen verändern muss und dass die Folge daraus ist eine politische Veränderung. ERZÄHLERIN Henry David Thoreau selbst schreibt dazu: ZITATOR Wenn jemand vertrauensvoll in die Richtung seiner Träume vorwärtsschreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließe. Er wird mancherlei hinter sich lassen. Neue, allgemeine und freiere Gesetze werden sich um ihn und in ihm bilden. ERZÄHLERIN Während heutige Menschen zur Neuorientierung im Leben ein Sabbatical machen oder für ein paar Wochen in ein Kloster gehen, sah Thoreau die Natur als Lehrmeisterin und Inspirationsquelle. Doch warum brach er sein Experiment nach zwei Jahren wieder ab? Frank Schäfer versucht eine Antwort: O-TON FRANK SCHÄFER Er wusste, was passiert, und er hätte im Grunde sagen können, wie das dritte Jahr wird. Er glaubte, jetzt eigentlich alles erlebt zu haben und wollte eben tatsächlich noch mal was anderes machen, und ist deshalb von da aus wieder weggezogen – im Grunde dann auch erst begonnen, als professioneller Autor zu arbeiten. Also, hat dann Vortragstätigkeiten angenommen und so was. Das ist eigentlich im Grunde erst nach dieser Walden-Erfahrung passiert. ERZÄHLERIN Durch Vermittlung Ralph Waldo Emersons, in dessen Haus er bald lebt, kann Henry David Thoreau immer mehr veröffentlichen. Doch was ihn nun stark bewegt ist die Frage, wo der Nutzen einer persönlichen Entwicklung liegt, wenn die keine Rückwirkungen auf andere Menschen, auf die Gesellschaft und den Staat hat. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die politische Situation in den Vereinigten Staaten angespannt, das Land ist uneins. Von 1846 bis 48 haben die USA einen in der Bevölkerung höchst umstrittenen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Mexiko geführt, der ihr Territorium bis an den Pazifik ausdehnt. Hinzu kommt die Sklaverei, die laut einem Gesetz aus dem Jahr 1820 nur südlich des 36. Breitengrads erlaubt ist. De facto ist das eine Spaltung des Landes in zwei Rechtsbereiche. Thoreau fragt sich nun: Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, in einem Staat Steuern zu zahlen, der grundlos einen Krieg anfängt? Und der darüber hinaus ein System mitfinanziert, das schwarze Menschen wie Nutztiere behandelt? Seine Antwort ist pragmatisch: Er zahlt keine Steuern mehr. Seine Argumentation, so Dieter Schulz: O-TON DIETER SCHULZ Wenn möglichst viele auf ihr Gewissen hören – das ist zunächst eine individuelle Instanz, die nur das Individuum betrifft. Aber da wir alle im Grunde an ein und dasselbe höhere Prinzip angeschlossen sind, daran partizipieren, wird dadurch keine Anarchie entstehen, sondern auch kollektives Handeln im Sinne sozialer Transformation. ERZÄHLERIN Zur Eintreibung der Steuern landet Henry David Thoreau im Gefängnis. Obwohl er nach kurzer Zeit wieder frei kommt, wird diese Erfahrung zur Basis seiner wohl berühmtesten Schrift. Sie erscheint 1849 und trägt den schlichten Titel „Civil disobedience“, zu Deutsch „Ziviler Ungehorsam“. Darin heißt es:  ZITATOR Unter einer Regierung, die irgendjemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen. Der entflohene Sklave und der Indianer mit seinen Anklagen gegen das Unrecht, das man seiner Rasse zufügt: nur hier sollen sie ihn finden, im Gefängnis. Es ist das einzige Haus in einem Sklavenstaat, das ein freier Mann in Ehren bewohnen kann. MUSIK:  ERZÄHLERIN „Civil disobedience“ ist eine Kampfschrift, die im 20. Jahrhundert von Bürgerrechtlern wie Martin Luther King oder Nelson Mandela ihren Anhängern zur Lektüre empfohlen wird, Mahatma Gandhi verteilte sie während des indischen Unabhängigkeitskampfes an seine Mitstreiter. Ihre Kernaussage: Der Einzelne hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht gegen einen Unrechtsstaat Widerstand zu leisten. MUSIK: ZITATOR Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind, und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen. Die ruhig sitzen bleiben, die Hände in den Taschen. Sie zögern, sie bedauern, und manchmal unterschreiben sie auch Bittschriften, aber sie tun nichts ernsthaft und wirkungsvoll.  MUSIK ENDE O-TON DIETER SCHULZ Das ist ja wohl ein Kerngedanke seines einflussreichsten Essays Civil Disobedience. Der Gedanke, dass die entscheidende Instanz für individuelles und, davon abgeleitet, dann auch kollektives Handeln das Gewissen des Einzelnen ist. Und was er dann selber vorexerziert, indem er sich weigert, Steuern zu entrichten an einen Staat, der das Sklaverei-System stützt, ist eben diese Instanz des Gewissens, die sagt, das ist unmoralisch, was da passiert, da mache ich nicht mit. Und daraus speist sich ja dann auch der Gestus des Protests.  ERZÄHLERIN Aber es bleibt nicht bei der Geste. Um flüchtende Sklaven zu unterstützen, entwickeln Bürger der Nordstaaten – unter ihnen ist auch Thoreau – die „Underground Railroad“. Das sind geheime und sichere Fluchtwege aus dem Süden nach Neuengland oder Kanada. Doch im Jahr 1850 einigen sich Nord- und Südstaaten auf das „Gesetz über flüchtige Sklaven“. Es verpflichtet die Nordstaaten zur Herausgabe von Flüchtlingen, wenn dies von Südstaatlern beantragt wird. Daraufhin kommt es in Massachusetts und anderen nördlichen Regionen zu regelrechten Aufständen. Gefängnisse, in denen schwarze Sklaven interniert sind, um in den Süden abgeschoben zu werden, gehen mehr als einmal in Flammen auf. Als bei einer dieser Aktionen ein Marshall der Nordstaaten stirbt, rechtfertigt Henry David Thoreau dies als eine bedauerliche aber meist unumgängliche Begleiterscheinung eines Kampfes gegen das Unrecht. Damit hat er eine Frage aufgeworfen, die bis heute immer wieder neu beantwortet werden muss: Ab wann sind Widerstand und Gewalt gegen die Obrigkeit erlaubt? Frank Schäfer erläutert Thoreaus Position: O-TON FRANK SCHÄFER Der Punkt dabei ist, dass man nicht grundsätzlich sagen kann, Gewalt ist richtig. Man muss jeweils immer diese Abwägung machen. Ist dieses moralische Unrecht, das da gerade passiert ,so schlimm, dass es diese andere Gewalt rechtfertigt?  ERZÄHLERIN Henry David Thoreau gilt heute zu Recht vielen Menschen als Vorbild für Zivilcourage, bürgerschaftliches Engagement, ökologisch unbedenkliches Leben und Wirtschaften. Seine Kompromisslosigkeit im Denken und Handeln war beispielhaft. Ebenso sein Prinzip, sich niemals einer dogmatischen Religion oder politischen Ideologie anzuschließen. Im Idealfall, so Thoreau, käme man ohne Regierung aus. Doch wie dieses Denken missbraucht werden kann, beschreibt der Heidelberger Anglistik-Professor und Thoreau-Forscher Dieter Schulz anhand eines aktuellen Beispiels aus der amerikanischen Politik: O-TON DIETER SCHULZ Die Kehrseite der Medaille ist die – ja – libertäre Bewegung, die ja in Amerika auch sehr stark ausgebreitet ist und sich zum Teil auch auf jemanden wie Thoreau beruft – weg mit jeder Regierung, weg mit jeder Regierung. Und das ist ja so ein Teil des Erfolgsrezepts von Trump gewesen, dass er sagt, also das Establishment ist durch und durch korrupt, und man muss irgendwie den Stall Washington – den muss man ausmisten.  MUSIK ERZÄHLERIN Henry David Thoreau war zeitlebens von schwacher Gesundheit, erblich bedingt litt er an einer Schwäche der Atemwege. Dass er früh sterben könnte, hat er wohl geahnt, was vielleicht einer der Gründe dafür gewesen ist, niemals zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ausgerechnet dieser gesund lebende Naturmensch stirbt am 6. Mai 1862 in seiner Heimatstadt Concord im Alter von gerade einmal 45 Jahren.

03 jul 2025 - 23 min
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