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Der Bayerische Bauernbund - Eine Partei für die Dörfler

Bauernproteste, deftige Reden und die These, dass "die da oben" von der Praxis einfach keine Ahnung haben. In den 1890er Jahren hat sich deshalb sogar eine Partei gegründet, der "Bayerische Bauernbund". Von Hans Hinterberger (BR 2024) Credits Autor dieser Folge: Hans Hinterberger Regie: Irene Schuck Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle, Werner Härtl, Christian Schuler Technik: Andreas Lucke Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: PD Dr. Johann Kirchinger, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte Diese hörenswerte Folge von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Bayerische Volkspartei, BVP - Die Extrawurst kommt auf den Grill Ein Freistaat Bayern ohne CSU? Den gab es! Vor dem zweiten Weltkrieg hieß die dominierende Kraft im Land "Bayerische Volkspartei". Sie darf als Vorgänger der CSU gesehen werden, doch es ist ein Erbe mit Licht und Schatten. (BR 2020) JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/bayerische-volkspartei-bvp-die-extrawurst-kommt-auf-den-grill/bayern-2/81307932/] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-bayerischer-bauernbund-bayern-revolution-bauernprotest-100.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:  Erzähler: Das ist jetzt ein Eklat! Da steht dieser Politiker mit dem Dialekt und dem bäuerlichen, unangepassten Auftreten, vor einer jubelnden Menge und sorgt für ein Spektakel.… Erzählerin: Und nein! Es geht hier um keinen Politiker unserer Zeit! Wir befinden uns in Ruhpolding, Oberbayern, im Jahr 1895. Georg Eisenberger, der Bauer von Hutzenau, wird in den kommenden Jahrzehnten einer der prägenden Köpfe einer völlig neuen Partei, des „Bayerischen Bauernbundes“, sein. Soeben hat er an den Grundfesten der Staatsordnung gerüttelt. Zitator Eisenberger: „In dem Saal, in dem die Versammlung stattfand, waren die Bilder des Kaisers und der Kaiserin aufgehängt. Diese Bilder nahm ich weg und hängte dafür zwei Bilder von Andreas Hofer und ein Bild des unglücklichen Bayernkönigs Ludwig II. auf. Gegen mich wurde ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung eingeleitet. Das Verfahren verlief jedoch für mich günstig…“ Erzähler: Protest gegen „die in Berlin“, gegen die Obrigkeit und die Eliten, gern auch gegen die Pfarrer und ihre katholische Zentrumspartei, das gehört beim Bayerischen Bauernbund dazu. Ludwig Thoma hat diese Bewegung mitunter wohlwollend als volkstümlich, sympathisch, urbayerisch beschrieben. Der Historiker Dr. Johann Kirchinger, ein ausgezeichneter Kenner bayerischer Landwirtschaftsgeschichte, ist weniger romantisch.  OT Kirchinger 1 Ja, wie landwirtschaftliche Wutbürger. Sehr gewalttätig! Verbal und physisch! Ich hab so einen Versammlungsbericht aus der Frühzeit, das Bezirksamtspersonal muss die ja überwachen. Also der flieht dann, der Bezirksamtmann, dem wird das zu gefährlich. Und er schreibt: Es wurde mit harten Gegenständen geworfen.“ Erzählerin:  Georg Eisenberger zählt da noch zu den Gemäßigteren. Er wird über die gesamte Geschichte der Partei über 40 Jahre lang mit dabei sein, wird Mandate in Landtag und Reichstag erobern, bis die Machtergreifung Hitlers dem Bayerischen Bauernbund 1933 ein Ende setzt. Erzähler: Aber von vorne.  Musik 2 "Am Wörthsee" - Album: Rare Schellacks - München - Szenen & Vorträge 1902-1939 - Trikont Verlag - Länge:  0'35 Eigentlich hatte das flache Land in Bayern, zumindest im katholischen Bayern, schon eine Partei: Das Zentrum, die „Schwarzen“, sozusagen den entfernten Vorgänger der heutigen CSU. Der politische Katholizismus dominiert, der Klerus, Adlige und hohe Beamte haben das Sagen. Doch im Jahr 1893 bewegt sich etwas.  Musik 3 "Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'38  Zitator Eisenberger “Bauern hatten aufgerufen und Bauern sind aufgebrochen um in Traunstein, in dem damals das Zentrum auf hohem Rosse saß, den Willen zur Einheit kundzutun.” Erzähler: Erinnert sich Georg Eisenberger an eine seiner ersten Versammlungen 1893. Erzählerin: Die revolutionäre Botschaft: Man brauche die alten Eliten nicht mehr! Die Bauern könnten sich selbst am besten vertreten. Ein zuvor ungekanntes Selbstbewusstsein keimt auf. Aber warum ausgerecht 1893? Im Kern geht es um eine Richtungsentscheidung deutscher Politik: OT Kirchinger 2 Weil sich Deutschland immer mehr industrialisiert, weil die staatlichen Interessen mit den landwirtschaftlichen immer weniger oder dann auch nicht mehr identifiziert werden können. Weil es konkurrierende, industrielle Interessen gibt, Interessen der Verbraucher, der Produzenten. Da ist einfach die Frage: Will man hohe Erzeugerpreise, dass es den Landwirten gut geht? Oder will man niedrige, dass es den Arbeitern und der Industrie gut geht?  Erzählerin: Reichskanzler Leo von Caprivi weicht den Zollschutz für landwirtschaftliche Güter auf. Jetzt sollen billige Lebensmittel aus dem Weltmarkt nach Deutschland kommen. Das Zentrum hatte dem sogar zugestimmt. Sein Plan: Möglichst konstruktiv am neuen Reich, das doch “Global Player” werden will, mitarbeiten. Nur so würde der Katholizismus im protestantisch dominierten Deutschen Kaiserreich respektiert werden.  Doch was für die Zentrumselite nach einem vernünftigen Ziel klingt, ist für viele Bauern schlicht Verrat. Musik 4 "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'30 Erzähler: Eine These macht sich breit: Diese Politiker hätten keine Ahnung von der Landwirtschaft. Alles abgehobene Theoretiker! Zitator: “Wir wollen zur Vertretung der Bauernsache keine Adeligen, keine Geistlichen, keine Doktoren und keine Professoren, sondern nur Bauern!” Erzähler: So fasst es der niederbayerische Bauernbündler Franz Wieland zusammen. Die Wissenschaft hat für diesen auf die eigenen Interessen fixierten Politikstil einen Namen: „Kommunalismus“. OT Kirchinger 3 Also wenn man den Bauernbund mit einem Wort beschreiben will, von der inneren Kommunikationsstruktur her, dann ist er „kommunalistisch“. Der Bauernbund funktioniert, wie eine Gemeinde funktioniert. Es sollen über ein politisches Problem nur die bestimmen, die von dem politischen Problem auch betroffen sind. Also Bauern Agrarpolitik. Pfarrer Kirchenpolitik. Aber nicht Pfarrer Agrarpolitik. Und das ist ja ein Punkt, den man bei den Bauern immer wieder hört.“ Erzählerin: Reine Bauernpolitik, ohne Rücksicht auf Industrie, Kirche, Stadtbevölkerung oder Weltpolitik. Und im Übrigen auch ohne Rücksicht auf die Nöte der Dienstboten auf den Höfen. Was da ab 1893 angestoßen wird, ist die vielleicht kompromissloseste Klientelpartei der bayerischen Geschichte.  Wie erfolgreich sie wird? Der Bauernbund wird es weit bringen, irgendwann sogar Teil der Bayerischen Staatsregierung sein. Und schließlich wird er ein klägliches Ende nehmen. Musik 5 "Cauchemar de Marx" - Länge: 0'35 Erzähler: Dass es sich hier um eine unkonventionelle Bewegung handelt, das sagt den Zeitgenossen schon Georg Eisenbergers bloßer Anblick im Landtag: Zitator Eisenberger „Zu meiner Wahl schrieb die Gegnerpresse: „Eisenberger in seiner Gebirgstracht hat sich von Haus zu Haus die Stimmen zusammengebettelt.“ Aber trotzdem kaufte ich mir für den Landtag keinen Zylinder und keine Manschetten, sondern ging in meiner Bergkluft zu den Sitzungen.“ Erzähler: Wo er durch seine deftigen Reden gleich das nächste Spektakel bietet. Zum alleinigen Anführer des Bauernbunds wird er aber nie, schon allein, weil Bauer nicht gleich Bauer ist. Eisenbergers Hof in den Bergen ist klein, kann nur durch die Zuarbeit im Forst überhaupt überleben.  Zitator Eisenberger: „Die Bauern in Ruhpolding wie in anderen Gebirgsorten können ihre Existenz nur durch ernste Arbeitssamkeit und großen Fleiß erhalten“ Erzähler: Als Knabe hätte der wissbegierige Eisenberger, den seine Gegner später als kirchenfeindlichen Antichristen beschimpfen, gern Pfarrer werden wollen – aber das Geld war zu knapp. Franz Wieland wiederum, prominenter Kopf der Gründungszeit, ist niederbayerischer Getreidebauer, sozusagen ein Großunternehmer, und denkt in ganz anderen Dimensionen. Erzählerin: Solche Unterschiede werden immer wieder zu Abspaltungen, Streit und Alleingängen führen. Der Bauernbund, das ist oft mehr Anarchie als eine straff geführte Partei. Einigender Kit bleibt die Abneigung gegen die politischen Eliten, die bisher die Landwirtschaftspolitik prägen. Und dabei gibt man sich äußerst respektlos: OT Kirchinger 4 „Der Landwirtschaftliche Verein in München hält eine Generalversammlung. Da ist immerhin der Innenminister Vorsitzender, Prinz Ludwig, der spätere König Ludwig III., ist Schirmherr. Und da nimmt einfach dieser Wieland einen Zug voll Bauern, die fahren nach München und sprengen die Versammlung. Vom Innenminister und vom Prinz Ludwig. Die reden grad über Kalkdüngung, dann kommen die Bündler und sagen: Wir reden jetzt mal über den Getreidepreis. Und wenn wir fertig sind, dann könnt ihr wieder über Kalkdüngung reden!“ Erzähler: Und doch werden sie diesen Anspruch der Politik von Bauern für Bauern ganz ohne Eliten nie erfüllen. Mit Georg Ratzinger, Theologe und Großonkel des späteren Papstes Benedikt, führt zunächst ein Akademiker die Fraktion im Landtag. Auch einige Lehrer und Journalisten werden ihren Platz finden. Bisweilen sind es unbequeme, auffällig antisemitische Geister, die in anderen Parteien keinen Erfolg hatten.  Erzählerin: Noch einem Anspruch werden die Bündler nie gerecht: Dem Plan, dass sie die alleinige Vertretung der Bauernschaft werden könnten. Musik 6 "Cauchemar de Marx" - Länge: 0'20 Zitator Eisenberger „Wenn die Bauern und der Mittelstand einig werden, wird es eine Macht, dann ist es mit der Schwarzen Macht vorbei!“ Erzählerin: So Georg Eisenbergers Kampfansage. Doch der politische Platzhirsch, das Zentrum, hatte dieser Konkurrenzgründung nicht tatenlos zugesehen. „Die Schwarzen“ rufen einen „Christlichen Bauernverein“ ins Leben. An dessen Spitze haben einfache Bauern zwar nach wie vor nichts zu melden, dafür aber gibt es dort den überaus talentierten Ökonomen Dr. Georg Heim, genannt „Der Bauerndoktor“. OT Kirchinger 5 Georg Heim dann mit seinen Bauernvereinen, die eine völlig andere Art der Interessenvertretung sind wie der Bauernbund – eben keine Partei. Und die die Bauern wieder zurückholen wollen zum politischen Katholizismus, über die Vermittlung konkreter Vorteile für die Bauern in Form von betriebswirtschaftlicher Beratung, juristischer Beratung und von Lagerhäusern, also gemeinsamer Vermarktung. Und das ist ziemlich erfolgreich.“ Erzähler: Der Bauernbund wird deshalb bei Wahlen nie an das Zentrum herankommen. Nur Protest funktioniert eben auch nicht, so die Einsicht vieler Wähler. OT Kirchinger 6 Naja, die Bauernbündler haben das nicht eingesehen, dass das nicht funktioniert. (lacht) Der Heim hat das eingesehen, dass das nicht funktioniert…“ Erzählerin: Der von den Pfarrern unterstützte Christliche Bauernverein und der Bayerische Bauernbund stehen sich über Jahrzehnte in herzlicher Abneigung gegenüber.  Musik 7 "Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'32  Erzählerin: Beide buhlen um die Gunst auf dem Land. Die Bündler setzen auf das immer etwas lautere Auftreten. Gegen die Beamten, gegen die Großmachtpolitik Berlins, aber auch gegen die Pfarrer. Ihre Versammlungen sind Spektakel. Der politische Aschermittwoch in Niederbayern ist nicht umsonst keine Erfindung der CSU, sondern des Bayerischen Bauernbundes. Erzähler: Doch was tun diese Aufmüpfigen, wenn es zu einer Revolution kommt, wie 1918? Wo stehen sie, wenn es um die Frage von Monarchie, Demokratie oder auch Sozialistischer Räterepublik geht? Die kurze Antwort: Es ist ihnen völlig egal! Erzählerin: Am 29. Oktober 1918 sendet die Generalversammlung des Bauernbunds zwar noch ein Ergebenheitstelegramm an König Ludwig III. - Tage später aber wird sich der Bauernbund dem Revolutionär Kurt Eisner anschließen.… OT Kirchinger 7 (1130) „Also eine monarchistische Einstellung haben die nicht, das war zu fern, die hatten ja alle mit dem Überleben zu tun.“ Erzählerin: Dass der Bauernbund in der Regierung Eisner dafür sorgt, dass die Bauerninteressen nicht untergehen, schien wichtiger als jede Frage der Staatsform. Erzähler: Insbesondere der niederbayerische Flügel unter dem Gutbesitzer Karl Gandorfer spielt hier eine Rolle. Ohne ihn hätte es die Revolution womöglich gar nicht gegeben. Kurt Eisner hatte Gandorfer nämlich am 6. November, kurz vor der Revolution, auf dessen Hof in Pfaffenberg besucht und eine elementar wichtige Zusicherung erhalten: München würde im Falle der Revolution weiter mit ausreichend Lebensmitteln versorgt.  Musik 8: "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'16 Zitator: „Mehr als vier Jahre hat man das Volk getäuscht, das Blut von Hunderttausenden sinnlos vergossen. Bauern, Bauernbündler! Eure Stunde ist gekommen! Erkennet die Zeichen der Zeit!“ Erzählerin: So Gandorfer. Der Bauernbund also plötzlich auf Seiten des Sozialismus und der Räterepublik?  Erzähler: Nun ja, nicht ganz. Wie so oft hat die Partei keine einheitliche Linie. Am selben Tag, an dem Eisner in Pfaffenberg war, lehnt Georg Eisenberger eine Revolution noch entschieden ab. Seine erste Begegnung mit dem Ministerpräsidenten Eisner beschreibt Eisenberger voller Abneigung: Musik 9 "Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'20 Zitator Eisenberger „Als wir in den Sitzungssaal kamen, sahen wir zunächst den Juden Kurt Eisner mit seinem staubigen Vollbart auf dem Präsidentenstuhl sitzen. Das große Portrait von König Max II. dahinter war in einem roten Tuch verhüllt. Das war auch besser, sonst hätte er sich als Gemalener gespieen.“ Erzählerin: Doch auch Karl Gandorfers Neigung zum Sozialismus entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig. Zwar fordert er die … Zitator: „Vermehrung der kleinbäuerlichen Betriebe durch Aufteilung großer Güter über 1000 Tagwerk.“ Erzählerin: also die Zerschlagung des Großgrundbesitzes. Wie der Zufall es aber wollte, hatte Gandorfers eigenes Gut etwas UNTER 1000 Tagwerk. Er selbst wäre von dieser Maßnahme nicht betroffen gewesen und sogar in die Kaste der größten privaten Grundbesitzer Bayerns aufgestiegen. Eigennutz vor Ideologie!   Erzähler: So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Bündler nach der linken Revolution ohne weiteres in die stark rechts orientierte „Ordnungszelle Bayern“ einfügen. Jetzt sogar als Regierungspartei, als Koalitionspartner des mittlerweile in „Bayerische Volkspartei“ umbenannten Zentrums. Erzählerin: Johannes Wutzlhofer, ein Genossenschaftsdirektor aus Straubing, wird 1920 Bayerischer Landwirtschaftsminister. Und Anton Fehr, ein Professor des milchwirtschaftlichen Instituts in Weihenstephan, wird 1922 sogar zum Reichslandwirtschaftsminister ernannt. Erzähler: Erneut gibt es also Widersprüchlichkeiten. Offenkundig sind die beiden keine Bauern, anders als der Gründungsgedanke des Bundes es verlangen würde. Außerdem hindert die Regierungsbeteiligung den Bauernbund keinen Moment lang, draußen auf dem Land weiter als populistische Opposition aufzutreten. So meldet die Regierung von Niederbayern 1925: Zitator „Die radikalen Bauernbundsführer nutzen die Lage zur skrupellosen Verhetzung der Bauern und leider mit bestem Erfolg.“ Erzähler: Und 1927: Zitator „Die Tätigkeit der radikalen Bauernbundesführer und ihrer Presse besteht in einer systematischen Hetze schlimmster Art. Immer wieder wird den Bauern eingehämmert, dass die Staatsregierung für die notleidenen Bauern kein Verständnis habe.“ OT Kirchinger 8 „Der radikale Flügel um Gandorfer macht in der Wirtschaftskrise immer wieder Streikaufrufe. Jetzt hungern wir die Städter aus! Auf der einen Seite ist der Reichslandwirtschaftsminister ein Bauernbündler, auf der anderen Seite will er gegen den Reichslandwirtschaftsminister streiken.“ Erzähler: Immer etwas lauter und schärfer als der Christliche Bauernverein! Der verstand es zwar auch, energisch bäuerliche Forderungen zu erheben, aber sein Vorsitzender Georg Heim war nun mal auch Begründer der Bayerischen Volkspartei. Und die BVP will nun einmal nicht nur Bauern, sondern auch städtische Wähler gewinnen, will Kontakte zu Industrie und Arbeiterschaft pflegen, will Deutschlandpolitik betreiben. Erzählerin: Für den Bauernbund aber gilt konsequent: Die bäuerlichen Interessen kommen zuerst!  Während der Inflation zu Beginn der 1920er Jahre werden Lebensmittel immer knapper, auch weil die Bauern im Austausch für die wertlose Reichsmark immer weniger abgeben wollen. Den Städten drohen Hunger und Elend. Trotzdem nimmt der bauernbündlerische Landwirtschaftsminister konsequent die Bauern in Schutz, weigert sich im Kabinett bisweilen sogar, das Problem überhaupt anzuerkennen.  Erzähler: Als die Regierung 1930 eine neue Schlachtsteuer anstrebt, lässt der Bauernbund aus Protest sogar seine Regierungsverantwortung fallen und geht in die Opposition. Erzählerin: Obwohl das Bayern in eine schwierige Lage bringt. Ministerpräsident Heinrich Held von der BVP regiert fortan nur mehr mit einem Minderheitskabinett. Er versucht den Freistaat vor einer Machtübernahme durch Hitlers Nationalsozialisten zu schützen. Doch 1933 ist dieser Versuch gescheitert. Das demokratische Bayern endet. Erzähler: Und wie verhalten sich die Bauernbündler?  OT Kirchinger 9  „So wurst ihnen der König war 1918, so wurst war ihnen die Demokratie 1933.  (..) Ohne die weltanschauliche Bindung war der Bund mit die erste Organisation, die untergegangen ist unter dem Druck der Nazis. Viele, viele Bauernbündler und bauernbündlerische Abgeordnete machen dann im dritten Reich auch Karriere.“ Musik 10 "Maschine" - Komponist und Ausführender: Martin Todsharow - Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'43 Erzählerin:  Die Presse des Bauernbundes hatte zwar bis 1933 offiziell gegen die  Zitator „Nazi-Mordgesellen“  Erzählerin:  und den  Zitator „braunen Sumpf“ Erzählerin: angeschrieben, doch spätestens nach der Machtergreifung wird den Mitgliedern nahegelegt, die Bauernsache künftig in der NSDAP zu vertreten. Massenhaft treten Bauernbündler über. Das vormals bündlerische „Landauer Volksblatt“ schreibt im April 1933: Zitator „Die Leitidee Wielands, des alten Bauernführers, hat mit dem Steg Adolf Hitlers – des Schmiedes des neuen Reiches – ihre Verwirklichung gefunden. Und wenn Wieland heute noch lebte, würde er wohl segnend die Hände halten über das nun gelungene Werk.“ Erzähler: Der bewusste Verzicht auf höhere Ideologie und höhere Grundsätze hat die Bauernbündler einst dazu bewogen in die Politik zu gehen, selbstbewusst gegenüber dem monarchischen Obrigkeitsstaat zu sein. Aber er hat nicht dabei geholfen, diese Demokratie auch zu verteidigen.   Erzählerin: Auch der inzwischen über 70jährige Georg Eisenberger wird sich, nach Jahrzehnten im Landtag und Reichstag und nachdem er die Nazis lange politisch bekämpft hatte, als zurückgezogener Austragsbauer noch der NSDAP anschließen. Öffentlich aktiv wird er aber nicht mehr. Erzähler: Und nach dem Krieg? Eine direkte Nachfolgepartei des Bauernbundes gibt es nicht. Wer von den alten Mitgliedern noch aktiv wird, wird der CSU beitreten, nicht aber der kleineren Bayernpartei. Denn die stellt mit der „Unabhängigkeit Bayerns“ ja ein hohes politisches Ziel über bäuerliche Alltagssorgen – und so etwas ist einem Bauernbündler nun mal befremdlich.  Erzählerin: Erst viel später, als der Bauernbund längst vergessen scheint, tritt eine politische Kraft auf die Bühne, die für Dr. Johann Kirchinger zumindest in Ansätzen dem Bauernbund ähnelt: Die Freien Wähler. OT Kirchinger 10 Von dem Kommunalistischen her auf jeden Fall. Von der kommunalistischen Einstellung her, dass die wahre Politik in den Gemeinden stattfindet und Landespolitik eigentlich auch so funktionieren soll, wie in der Gemeinde. Dass die Sachpolitik im Vordergrund stehen soll und nicht die Ideologie, was ja auch eine Ideologie ist, sind das strukturelle Forderungen, kommunikative Forderungen, die dem Bayerischen Bauernbund und den Freien Wählern gemeinsam sind.  Erzählerin: Zufall oder nicht: Bei der Landtagswahl 2023 decken sich die Hochburgen der Freien Wähler – meist sehr ländlich geprägte Wahlkreise - auffällig mit denen des Bauernbundes viele Jahrzehnte zuvor. Und seine Rede zum politischen Aschermittwoch 2024 eröffnet Hubert Aiwanger mit einem Verweis auf den Bauernbund. OT Aiwanger 1 „Der erste politische Aschermittwoch hat 1919 stattgefunden in Vilshofen, organisiert vom Bauernbund damals, um nach dem ersten Weltkrieg sich wieder zu orientieren, wieder zu diskutieren, wohin sich das Land entwickeln soll.“ Kirchenglocken und Trauermarsch/geräusch Erzähler: Georg Eisenberger wird das alles natürlich nicht mehr erleben. Die schillernde Figur des Bauernbundes wird Anfang Mai 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, in Ruhpolding zu Grabe getragen. Das Donnern, das währenddessen zu hören ist, kommt nicht etwa von einer einfachen Salutkanone, sondern von der gleichzeitig auf Ruhpolding vorrückenden US-Army. „Er braucht halt immer ein besonderes Spektakel!“, so haben die Ruhpoldinger später gesagt.

25 apr 2025 - 21 min
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Hubschrauber und Multikopter - Die Geschichte der Drehflügler

Senkrecht abheben, schweben und woanders punktgenau wieder landen: Davon träumte der Mensch schon vor Jahrtausenden. Was im alten China als Spielzeug mit Vogelfedern begann, setzten Tüftler Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals als personentragende Hubschrauber um. Damit startete der Siegeszug der "Drehflügler". Seit kurzem erobern auch elektrisch angetriebene Multikopter den Luftraum. Von David Globig (BR 2024) Credits Autor dieser Folge: David Globig Regie: Martin Trauner Es sprachen: Irina Wanka, Christopher Mann Redaktion: Iska Schreglmann Im Interview: Dieter Bals, Museumsleiter, Hubschraubermuseum Bückeburg; Dr. Robert Kluge, Kurator für die moderne Luftfahrt, Deutsches Museum, München; Prof. Ilkay Yavrucuk, Leiter des Lehrstuhls für Hubschraubertechnologie, Technische Universität München Diese hörenswerten Podcast-Folgen könnten Sie auch interessieren: Otto Lilienthal - Die Eroberung der Luft | radioWissen JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/otto-lilienthal-die-eroberung-der-luft/bayern-2/78760062/] Gustav Weißkopf - Erster motorisierter Pilot der Welt? | radioWissen JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/gustav-weisskopf-erster-motorisierter-pilot-der-welt/bayern-2/90201990/] Amelia Earhart - Die tragische Heldin der Lüfte | radioWissen JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/amelia-earhart-die-tragische-heldin-der-luefte/bayern-2/91732506/] Die Feder, ein Trick der Natur - Alles Natur | radioWissen JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/die-feder-ein-trick-der-natur-alles-natur/bayern-2/94496406/] Endlich grün fliegen! - Geht das überhaupt? | IQ - Wissenschaft und Forschung JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/iq-wissenschaft-und-forschung/endlich-gruen-fliegen-geht-das-ueberhaupt/bayern-2/94797260/] https://www.ardaudiothek.de/episode/iq-wissenschaft-und-forschung/endlich-gruen-fliegen-geht-das-ueberhaupt/bayern-2/94797260/ Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: "Moby-Dick oder Der Wal" von Herman Melville. Adventure Cut | BR | Hörspiel Pool  Abenteuerhörspiel - Kapitän Ahab, seit dem Kampf mit Moby-Dick einbeinig, jagt das furchterregende Ungeheuer über die Weltmeere und wird am Ende von ihm in die Tiefe gerissen. Ismael, der Erzähler, ist der einzige Überlebende. Ob Film oder Musical, Kinderbuch oder Comic: Moby-Dick, der weiße Wal, ist ein Mythos. Adventure Cut der 10-stündigen Hörspielfassung Moby-Dick oder Der Wal. | Mit Rufus Beck, Felix von Manteuffel, Manfred Zapatka, Ulrich Matthes, Bernhard Schütz, Karsten Hübner, Rudolph Taruoura Grün u.a.  JETZT ANHÖREN [https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/moby-dick-oder-der-wal-von-herman-melville-adventure-cut/2090247] https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/moby-dick-oder-der-wal-von-herman-melville-adventure-cut/2090247 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-hubschrauber-helikopter-drohne-rotor-luftfahrt-rettung-militaer-100.html].

25 apr 2025 - 23 min
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Die E-Gitarre - Der Sound aus dem Brett

1950 schraubte der Radio-Techniker Leo Fender in Kalifornien den Prototyp der "Telecaster" zusammen - die erste Stromgitarre. Damit war das richtige Instrument geboren, dass den Jazz wild und roh werden ließ - die Initialzündung für die Geburt des Rock and Roll - der Soundtrack für eine sich nach Veränderung sehnender Jugend. Von Christian Schaaf (BR 2011) Credits: Autor dieser Folge: Christian Schaaf Regie: Martin Trauner Es sprachen: Herbert Schäfer, Christiane Rossbach, Heinz Peter Technik: Roland Boehm Redaktion: Petra Hermann-Boeck Das Manuskript zur Folge gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-e-gitarre-fender-jazz-rock-and-roll-musik-klangwelt-100.html]. RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema: * Jimi Hendrix - Virtuose der E-Gitarre JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/jimi-hendrix-virtuose-der-e-gitarre/bayern-2/78749178/] * Woodstock - Der rebellische Sound der Utopie JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/suche/Woodstock%20-%20Der%20rebellische%20Sound%20der%20Utopie/] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]

25 apr 2025 - 20 min
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Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne - Die Magie des Neubeginns

Ein neuer Job, eine neue Stadt, eine neue Liebe: Neuanfänge sind aufregend und voller Hoffnung. Voraussetzung für einen kraftvollen Neuanfang sind Mut und Risikobereitschaft sowie ein Abschied. Von Karin Lamsfuß (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß Regie: Martin Trauner Es sprachen: Julia Fischer, Sebastian Fischer Technik: Christine Frey Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Günter Menne, Coach; Gerald Hüther, Hirnforscher Peter Gross, Buddhist und Psychotherapeut Dr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatik; Petra Bock, Autorin und Coach Petra van Laak, Unternehmerin Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST [https://1.ard.de/wie-wir-ticken] ARD alpha Sein Leben ändern: Wie ihr einen NEuanfang wagt und meistert [https://www.ardalpha.de/wissen/psychologie/neuanfang-im-leben-wagen-neue-wege-veraenderung-neubeginn-alter-leben-aendern-100.html] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-emotion-beduerfinis-trotzphase-autonomie-wut-freude-100.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Sprecher:  Aus dem grauen, leblos wirkenden Erdboden arbeiten sich zaghaft die ersten Triebspitzen der Krokusse empor und bilden bald darauf lila Teppiche. Nahrung für die Hummeln, die langsam aus der Winterruhe erwachen. Sie sind bei den ersten Sonnenstrahlen aus ihren Erdlöchern emporgekrabbelt und fliegen nun mit leisem Summen von Blüte zu Blüte. So als würden sie die Geschichten des Winters miteinander teilen. Goldgelbe Pollenstaubwolken fliegen durch die Luft. Das pralle Leben kehrt zurück nach dem langen, kargen Winter.  Sprecherin:  Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Sprecher:  In der Natur, so wie in allem Leben. O-Ton 1 Petra Bock (0‘29“) Und dann bin ich ins Bett gegangen, konnte lange nicht einschlafen, plötzlich hatte ich ne Art Vision, so kann man es wirklich nennen, hatte ich ein Bild, wie ich an einem wunderschönen Frühlingstag in einem Zimmer sitze bei offenem Fenster, draußen ist ein Obstgarten, die Vögel zwitschern, und ich sitze da und schreibe. Und in dem Moment kam so ein richtiges Glücksgefühl auf. Eins, dass ich seit Monaten nicht mehr kannte.  Sprecherin:  Ein Neuanfang im Leben der promovierten Politologin Petra Bock. Bevor er Wirklichkeit wurde, kam er zunächst als vielversprechende Vision in ihr Leben geschneit.  Sprecher:  „Neuanfang“ – das klingt fast magisch. Nach Chancen. Verheißungsvoll, inspirierend, motivierend. Nach frischem Wind, Fülle, Optimismus und Weiterentwicklung. Das ganze Leben ist voller Neustarts: freiwilligen wie unfreiwilligen. Großen wie kleinen. Jeder Tag, jedes Aufwachen, jeder Atemzug ist im Grunde ein winziger Neuanfang. Nicht immer, aber oft muss etwas Altes sterben, bevor etwas Neues beginnen kann.  Musik, dann darüber Sprecherin:  Petra Bock führte ein Leben wie aus einem Hochglanzmagazin. Sie fuhr ein chices Auto, trug teure Klamotten und führte ein klassisches Businessleben in der Banken-Metropole Frankfurt. Dort arbeitete sie – nach ihrer Promotion mit 28 – als Unternehmensberaterin und Wirtschaftsanalystin.  12-14-Stunden-Tage waren die Regel. O-Ton 2 Petra Bock (0‘16“) Das war einfach sehr, sehr anstrengend, und ich war immer öfter erkältet. Bin dann trotzdem ins Büro gegangen, hab mich trotzdem reingeschleppt, hab dann für die Präsentationen noch irgendwie ne Tablette geschluckt, dass ich mit dem Fieber zurechtkomme. Das ist dann so ein Prozess geworden, so dass ich mich fast jede Woche neu erkältet hab.  Musikzäsur O-Ton 3 Günter Menne (0‘11“):  Wenn Menschen zu mir kommen, dann kommen sie aus zwei Beweggründen. Eigentlich immer. Sie wollen irgendwo hin – zu oder sie wollen von – weg. Von etwas weg.  Sprecherin:  Günter Menne ist Coach. Er begleitet Menschen bei Neuanfängen. Oft, so seine Erfahrung, meldet sich dieses Bedürfnis in der Lebensmitte. O-Ton 4 Günter Menne (0‘06“):  Wo die große Frage im Raum steht für viele: Was denn noch? Was ist noch möglich? O-Ton 5 Petra Bock (0‘08“)  Die Frage war: Möchte ich das bis zum Ende meines Lebens machen? Also bis zum Ende meines Berufslebens machen? Und dann kam sofort so ein: „Nee, um Gottes Willen. Das halt ich gar nicht aus!“ O-Ton 6 Günter Menne (0‘53“):  Wenn Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ von jedem Zauber spricht, der uns beschützt bei allen Neuanfängen, dann denke ich aus meiner Erfahrung, die ich auch als Coach gewonnen habe, dass dieser Zauber sich nur dann entfalten kann, wenn wir wirklich gegenwärtig bleiben bei den Veränderungen, die uns oft auch widerfahren.  [[ Und um die Gelegenheit zur Aktualisierung, zur Veränderung in jeder neuen Erfahrung überhaupt zu erkennen, müssen wir gegenwärtig sein.]]  Und zu spüren: Passt die noch zu mir? [[ Und aus diesem Gespür eine Kraft zu entwickeln, die wir oft als Druck oder auch als Sog erleben. Wobei dir Veränderung durch Sog in aller Regel leichter funktioniert als die Veränderung durch Druck.]] Sprecherin:  Petra Bock lag also mal wieder mit ihrer soundsovielten Nasennebenhöhlenentzündung im Bett, als ihre Vision erschien: Das Bild von sich selbst, schreibend, mit dem Blick auf die Obstbaumwiese.  Als hätte jemand ihrem Wunsch erahnt, klingelte plötzlich das Telefon. Ein alter Studienkollege, Programmchef eines Verlags, war auf der Suche nach einer neuen Autorin. Er hatte von ihrem steilen Aufstieg gehört. Ob sie vielleicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben? Nach der ersten Freude machten sich schnell die Ängste breit. O-Ton 7 Petra Bock (0‘16“) Die eine Angst war, dass ich gar nicht gut genug schreiben kann, z.B. Denn ich hatte vorher nichts gerade Substanzielles geschrieben. Wusste ich ja nicht, ob ich das kann! Dann dachte ich mir auch: was machst du, wenn du irgendwie plötzlich siehst: Es ist alles Müll, und der Verleger sagt „können wir überhaupt nicht nehmen!“. Was machst du dann? Also, da hatte ich schon Angst davor, dass ich scheitern könnte. Auf jeden Fall.   Sprecher:  Das ist ganz oft der Punkt, an dem sich das anfangs süße und verheißungsvolle Gefühl des Anfangszaubers wandelt: in nagende Zweifel und diffuse Ängste. Was ist, wenn es nicht klappt? Und wie stehe ich dann da? O-Ton 8 Michael Schonnebeck (0‘28“):  Wir alle haben sogenannte Ich-Ideale. Also wie wir im besten Falle funktionieren, zurechtkommen, kleine innere Visionen, was wir alles könnten und sollten und erreichen wollen, und wenn diese manchmal doch recht geheimen Visionen von einem selbst dann sich nicht erfüllen, dann tut das sehr weh, weil das an der eigenen Identität, am eigenen Selbstbild so sehr kratzt. Oder es sogar zerbricht im schlimmsten oder im dramatischsten Fall.  Sprecherin:  Dr. Michael Schonnebeck ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet eine Tagesklinik. Er sagt: Zweifel und Versagensängste sind menschlich und gehören zu jedem Neubeginn, zu jeder Weiterentwicklung dazu. Mehr noch: Sie sind sogar hilfreich. Sprecher:  Das bestätigt auch eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018: Träume und Zukunftsfantasien sind häufiger zum Scheitern verurteilt, wenn sie rein durch die rosarote Brille betrachtet werden. Dann strengen sich Menschen weniger an.  Erfolgreicher sind hingegen diejenigen, die Hindernisse und Hürden im Vorfeld schon mal durchspielen. Forscher nennen das "mentales Kontrastieren".  Sprecherin:  Für Michael Schonnebeck kann ein Neustart nur dann gelingen, wenn ein möglicher Misserfolg theoretisch praktisch miteingeplant wird. Eine Erfolgsgarantie gibt es sowieso nie. O-Ton 9 Michael Schonnebeck (0‘28“):  Zum mutigen, abenteuerlichen, gewagten Leben gehört die Gefahr dazu, von der Bahn abzukommen, ins Straucheln zu geraten, abzustürzen, sich weh zu tun, und ich glaub, jeder muss entscheiden, wie sein Spielraum ist: eher schmaler oder eher etwas weiter, aber sich das zu erlauben, ist der Preis, die Eintrittskarte quasi für ein etwas aufregenderes, selbsterfüllenderes Leben. Sprecherin:  Coach Günter Menne kennt das Stadium des Zweifelns bei seinen Klientinnen und Klienten nur allzu gut. Oft ist es der Knackpunkt, der darüber entscheidet, ob aus einem Neuanfangs-Plan auch ein tatsächlicher Neuanfang wird. O-Ton 10 Günter Menne (0‘36“):  Neuanfänge fallen manchen oder vielleicht auch vielen Menschen schwer, weil wir oft an Glaubenssätze – aus der Kindheit beispielsweise – gebunden sind. Da hat der Vater vielleicht zu seiner Tochter gesagt „Du hast kein Talent, mach was Vernünftiges!“ und diesem Glaubenssatz ist die Tochter gefolgt und entdeckt vielleicht erst im Alter von 40 Jahren die Sehnsucht neu, und jetzt geht es in einem Coaching darum, die Glaubenssätze zu betrachten und umzuschreiben.  O-Ton 11 Petra Bock (0‘27“) Der erste Gedanke war: Hmmm, was denken die anderen von mir? Ich bin dann so innerlich meine Reihe von Freunden und Bekannten durchgegangen und hab gedacht was sagen die dazu – ich werde jetzt Schriftstellerin! Das war ein guter Ausleseprozess für mich. Weil ich wusste: die oberflächlichen Nervbekanntschaften, die finden’s furchtbar, und die wollen nichts mehr mit mir zu tun haben (...) und andere wiederum, da wusste ich, die sagen: hey, Petra, endlich kommst du wieder zur Vernunft und machst deinen Weg, und es gab sehr viele, die mich unterstützt haben dann. Musikzäsur Sprecher:  Neuanfänge gehören unweigerlich zum Leben dazu. Neuanfang, das bedeutet auch fast immer: Abschied von etwas Altem, Liebgewonnenem. Meistens gibt es zu jedem ersten Mal auch ein letztes Mal.  Sprecherin:  Der letzte Schultag – der erste Tag an der Uni. Der letzte Tag als Junggesellin – der erste Tag als frisch Verheiratete. Der letzte Tag in der alten Firma - der erste in der neuen.  Der letzte Frühlingstag, der erste Sommertag.  Über Musik: Sprecher:  Der Sommer entfaltet sich wie ein strahlender Neuanfang. Alles erwacht zu neuem Leben: Blumen blühen in leuchtenden Farben, Bäume tragen stolz ihr grünes Blätterdach, und Vögel singen um die Wette. Die Luft ist erfüllt von einem Gefühl der Möglichkeit und des Aufbruchs. Von der Sonne gekitzelt aufzuwachen, erzeugt gleich das Gefühl. Heute geht was! Packen wir’s an! Musik weg Sprecher:  So magisch es auch klingen mag: Keineswegs wohnt jedem Anfang ein Zauber inne! Krankheit, Tod, Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes – all das sind Ereignisse, die Menschen zu Neuanfängen zwingen. Und diese Neustarts sind keineswegs verheißungsvoll, hoffnungsvoll und inspirierend. Sie sind oft einfach nur bitter und schmerzhaft.  Ggf. über Musik O-Ton 12 Petra van Laak (0‘16“):  Als junge Frau hab ich davon geträumt, viele Kinder zu haben und eine gute Ehe zu führen und mit meinem Partner alt zu werden und später dann auf die Enkelkinder auf dem Rasen spielend zu gucken und sich über die Kinder auszutauschen – das war mein Ideal. Und das ist natürlich komplett zersprungen in tausend Stücke.  Sprecherin:  Rückblende. Petra van Laak, studierte Kunsthistorikerin; führte ein Leben an der Seite eines erfolgreichen Geschäftsmannes.  Sie kümmerte sich um die gemeinsamen vier Kinder, hielt das große Haus am See in Schuss. Geld spielte keine Rolle. Es war einfach immer genug da. Bis herauskam, dass ihr Ehemann nicht halb so erfolgreich war, wie er vorgab. Er war hochverschuldet, hielt das aber lange geheim. O-Ton 13 van Laak (0‘31“):  Das passiert alles gleichzeitig. Das Haus kommt quasi untern Hammer, also die Zwangsversteigerung steht im Raum. Sachen werden gepfändet, Strom wird abgestellt, Telefon wird abgestellt, kein Zugang mehr zum Konto.  Es gibt kein Bargeld mehr, man kommt an Bargeld nicht mehr heran, d.h. ich hab dann so Sachen gemacht wie alle Schubladen durchforstet, nach alten Währungen, von früher, wenn wir gereist sind, dann hab ich die Währungen zur Bank getragen und hab die erst mal eingelöst und umgewechselt, auch zu schlechten Kursen, um wieder Bares zu haben. Und um wieder einkaufen zu können. Bei Aldi, ein paar Nudeln. Ggf. akustische Zäsur O-Ton 14 van Laak (0‘49“):   Ich kam mir total exotisch vor, als ich noch in der Villa war und die Räumungsklage am Hals hatte und mich das Amt für Wohnraumsicherung – so heißt das – und Obdachlosenstelle oder so ähnlich, forderte mich dann auf per Brief, mich bei denen zu melden, dass mir eine Bleibe zugewiesen werden kann. Und dann bin ich zu diesem Amt gestiefelt – hatte noch ein Auto mit ganz normalem Outfit, Aktenordern unterm Arm und gehe diesen langen Flur lang und links und rechts sitzen ist jetzt total klischeehaft – wirklich Punks, Penner, Junkies das ganze Chaos sitzt da, ich geh da durch, und die grüßen mich alle, weil die dachten: Da kommt die Sachbearbeiterin! Das war für mich der Hammer! Dann grüßte ich freundlich zurück und setzte mich zwischen die auf die Bank.  Sprecherin:  So tauschte die einst reiche Gattin und Mutter von vier Kindern ihr Haus am See in eine dunkle, feuchte Sozialwohnung. O-Ton 15 van Laak (0‘35“):  Mir war schon klar, dass das ein grausamer Abstieg war. Dass das offensichtlich regelrecht würdelos war, wie wir da gewohnt haben, ist mir an den Gesichtsausdrücken klar geworden der Mütter, die ihre Kinder vorher in die Villa gebracht haben, dann eben mit ihren großen Autos in eine andere Gegend fuhren und ihr Töchterchen zum Spielen abholten oder ablieferten und dann durch dieses Treppenhaus mit Katzenpipi im Flur usw. und mit abgerissenen Tapeten an den Wänden, mit Modergeruch aus dem Keller, dann sah ich an deren Gesichtsausdruck: Oh ja, das muss schon ein krasser Gegensatz sein!  Sprecherin:  Ein Neuanfang ohne Zauber. Einfach nur eine knallharte Herausforderung, mit den Veränderungen irgendwie umzugehen. Trotzdem - oder gerade - weil die Fallhöhe so groß war, entwickelte Petra van Laak ungeahnte Kräfte. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich mal über eine geschenkte Kiste voller Lebensmittel so freuen würde. Oder dass sie durchaus in der Lage sein würde, sich und ihre Kinder mit Telefon-Drückerjobs über Wasser zu halten.  Sprecher:  Vielleicht ist das der Anfangs-Zauber, von dem Hesse in seinem Gedicht spricht, der uns beschützt und uns hilft zu leben.  Sprecherin:  Neben aller Härte und Gnadenlosigkeit, die diese Situation mit sich brachte: Petra van Laak entwickelte in dieser Zeit auch ungeheuer viel Kraft, Mut und Optimismus.  O-Ton 16 Peter Gross (0‘07“):  Der Buddhismus sagt: Bereite dich sozusagen darauf vor, dass nichts Bestand hat. Nichts bleibt gleich. Alles wandelt sich. Sprecherin:  Peter Gross ist Psychotherapeut und Buddhist. Er stellt fest, dass sich Menschen mit Neuanfängen oft deshalb sehr schwertun, weil sie sich vom Alten nicht gut trennen können. Sprecherin:  Ein großes Problem bei Neuanfängen, so Peter Gross, läge darin, was im Buddhismus „Anhaftung“ genannt wird: O-Ton 17 Peter Gross (0‘26“):  Eine Lehre des Buddhismus ist: Nicht an Vergänglichem festzuhalten. Was zugegebenermaßen ein ziemlicher Lernprozess ist. Also erst mal die Vergänglichkeit anzuerkennen: dass es so ist und dass es da keine Ausnahmen gibt. Und zweitens: dass dieses Festhalten am Vergänglichen, dass das die Ursache des Leidens ist.  Sprecher:  Eine Studie der Universität New York und der Universität Hamburg kam 2020 zu dem Ergebnis, dass ein guter und zufriedener Abschied mit dem Lebensabschnitt davor entscheidend für einen erfolgreichen Neuanfang ist. Und auch Hermann Hesse spricht davon, dass das Herz bei jedem Lebensruf bereit sein müsse zum Neubeginn – und zwar ohne zu trauern. Ein Gedanke, der besonders bei schmerzhaften Verlusten ein wenig fremd anmuten mag.  Über Musik Sprecher:  Im Herbst wechselten die Farben. Das satte Grün der Blätter verwandelt sich in ein Kaleidoskop aus Rot, Orange und Gelb. Es wird allmählich kühler und dunkler, die Nächte länger. Zeit der Reflexion, die vorher nicht zur heiteren Stimmung der langen hellen Sommernächte passte. Auch der Herbst ist ein Neuanfang, eine Zeit des Wandels und die Vorbereitung auf die kommende Ruhe des Winters. Musik weg Sprecher:  Alles ist stets im Fluss. Klingt nach Kalenderspruch, ist aber ein Gesetz des Lebens. Eins, gegen das sich Menschen manchmal mit aller Macht stemmen. Aus Angst vor Weiterentwicklung verharren sie dort, wo es ihnen schon lange nicht mehr gut geht: in lieblosen Beziehungen, frustrierenden Arbeitsverhältnissen, leeren Freundschaften. Sie horten hunderte von Gegenständen, die sie gar nicht brauchen. Einfach weil sie es nicht schaffen, sich davon zu trennen.  Sprecherin:  Für Hirnforscher Dr. Gerald Hüther liegt ein Grund dafür in der Art, wie unser Gehirn konzipiert ist.  O-Ton 18 Gerald Hüther (0‘43“):  Wir sind ja alle ziemlich bequeme Menschen, und das Hirn ist ein Energiesparorgan. Immer dann, wenn dich das Hirn anstrengen muss, wenn man noch mal denken muss oder gar wenn man was verändern muss, wird’s furchtbar energieaufwendig. Wenn man sich einmal im Leben mit bestimmten Verhaltensmustern eingerichtet hat, dann ist das ne Katastrophe, wenn man plötzlich anders denken soll. Und wenn man anders handeln soll. Das macht keiner gern. Weil das Angst macht. Sie fühlen sich in dem alten Denken, in den alten Räumen, in denen Sie sind, da fühlen Sie sich total wohl, und jetzt sollen Sie raus in die Welt und etwas grundsätzlich Neues probieren: Da wissen Sie gar nicht, wie Sie das alles einordnen sollen! Sprecher:  Der Aufbruch fällt - je nach Persönlichkeit - dem einen leichter und der anderen schwerer. Neugier, Mut und ein gewisser Anfängergeist sind hierfür gute Voraussetzungen.  Sprecherin:  Gerald Hüther sagt: Neuanfänge sind jederzeit möglich - wenn das Herz die Richtung vorgibt. Wenn sich also ein 85jähriger in eine Chinesin verliebt, sei er durchaus noch in der Lage, chinesisch zu lernen! O-Ton 19 Gerald Hüther (0‘11“):  Wenn es einem unter die Haut geht. Also wenn es wirklich wichtig ist. Dann werden im Hirn die so genannten emotionalen Zentren aktiviert, und dann macht man sich auch auf den Weg! Geräusch 1: 18‘30“ Kommt, poltert, bringt Jagdhorn, bläst Sprecherin:  Auch Coach Günter Menne wagte einen Neustart. Der Magic Moment ereignete sich an seinem 57. Geburtstag.  O-Ton 20 Günter Menne (0‘16“):  Ein paar Freunde waren zum Essen eingeladen, und da oben auf dem Schrank im Esszimmer, da lag seit Jahrzehnten ein kleines Jagdhorn. Ein Geschenk meines Vaters an mich im Alter von sieben Jahren, ja, und dann lag’s rum. 50 Jahre lang.  Geräusch 2:  Horn O-Ton 21 Günter Menne (0‘30“):  Und wie zum Jux nahm ich dann dieses kleine Jagdhorn aus Kindertagen in die Hand, traut auf die Terrasse, und tatsächlich kam da ein Ton und auch ein zweiter, und diese zwei, drei Töne, die ich dann in dieser Nacht auf der Terrasse hinausblies, die haben eine solche magische Wirkung auf mich gehabt, dass ich am anderen Tag nach meinem Geburtstag nur diesen einen Wunsch in mir spürte: Ich möchte Horn lernen. Mit 57 Jahren.  Sprecherin:  Es war ein freiwilliger Neustart. Ohne Not, ohne vorherigen Abschied. Also die Luxusvariante eines Neubeginns. Einfach so aus einem Entdeckergeist heraus, der Lust zu experimentieren. O-Ton 22 Günter Menne (0‘19“):  Der Klang war für mich reine Magie. Und damit verbunden der heiße Wunsch, das auch können zu wollen. Man stelle sich vor: Dieses vielleicht schwierigste aller Instrumente zu erlernen und hoffentlich eines Tages ganz schön spielen zu können.  Sprecherin:  Nach Jahren des intensiven Übens und unzähliger Unterrichtsstunden ist der Coach heute so weit, dass er sagt: Ich bin zufrieden!  Sprecher:  Vielleicht liegt darin das Geheimnis, gut mit dem Wandel des Lebens umzugehen: Sich einfach immer mal wieder im Kleinen etwas Neues zu trauen. Dort, wo es um nichts geht. Unwissend, ob es klappt. Das Scheitern einkalkulierend. Das trainiert vielleicht für den großen Wandel.  Musikzäsur Sprecher:  Neuanfänge bieten große Chancen für persönliches Wachstum und die Verwirklichung von Träumen und Zielen. Auch Hermann Hesse spricht in seinem Gedicht vom Weltgeist, der uns Stufe um Stufe heben und weiten will.  In jedem Fall aber erfordern Neuanfänge meist Durchhaltekraft und Resilienz, um Rückschläge zu überwinden. Nicht selten wachsen Menschen über sich heraus, wenn sie aufstehen und ihr Krönchen neu richten müssen.  Sprecherin:  Petra van Laak, die einst reiche Unternehmergattin, wagte irgendwann den Sprung in die Selbständigkeit. Heute ist sie Chefin einer Kommunikationsagentur und wurde zur Unternehmerin des Jahres des Landes Brandenburg ernannt. Ohne den unfreiwilligen Neustart wäre das wahrscheinlich nie so gekommen.  O-Ton 23 Petra van Laak (0‘22“):  Ich hatte so ne innere Freiheit, ne innere Unabhängigkeit, ich war früher in einer viel abhängigeren Situation, die mir vielleicht auch gar nicht in meinem Wesen entsprochen hat, und im Grunde war dieser Zusammenbruch dieser bürgerlichen Existenz auch eine Katharsis. Eine Möglichkeit, Dinge abzustreifen und vielleicht auch gereinigt aus so was hervorzugehen. Sprecherin:  Auch für die frühere Finanzanalystin Petra Bock hat der Neustart die entscheidende Wende gebracht: Mittlerweile hat sie einige Bücher geschrieben und coacht unter anderem Menschen auf dem Weg in ihre Berufung.  O-Ton 24 Petra Bock (0‘21“):  Damit macht mein Leben irgendwo Sinn. Und meine Talente, da hatte ich immer so ein Gefühl: die hab ich nicht umsonst mitbekommen. Ich bin kein gläubiger Mensch im klassischen Sinne, aber so ein Gefühl für spirituelle Verbundenheit zu etwas Größerem habe ich auf jeden Fall. Und so hab ich das empfunden. Ich dachte: ja, das könnte was sein, wofür ich vielleicht auch mit auf die Welt gekommen bin. Das war ein sehr tiefes und dankbares Gefühl. Musik, dann darüber: Sprecher:  Die Winterlandschaft verwandelt sich über Nacht in ein zauberhaftes Wunderland aus glitzerndem Schnee. Bäume tragen frostige Kronen, während der Atem der Natur in der kalten Luft sichtbar wird. Die Natur ruht in einem tiefen Schlaf, bereit, sich für einen neuen Zyklus vorzubereiten. Menschen nutzten die Stille und die Einsamkeit, um über Vergangenes nachzudenken und neue Pläne zu schmieden. Der Winter ist mehr als nur eine kalte Jahreszeit – er symbolisierte Hoffnung, Reinigung und die Möglichkeit für einen frischen Start.

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Von Wutausbrüchen, Freudensprüngen und Bedürfnissaufschub

Wutanfälle bei Kindern sind berühmt-berüchtigt. Die Kleinen entdecken ihren Willen und wollen ihn durchsetzen. Mit der Zeit lernen sie, Emotionen zu regulieren. Aber was passiert eigentlich mit all den Gefühlen? Von Maike Brzoska (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Maike Brzoska Regie: Irene Schuck Es sprach: Susanne Schroeder Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview: Sabina Pauen, Psychologin und Professorin an der Universität Heidelberg Herbert Scheithauer, Psychologe und Professor an der Freien Universität Berlin Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST [https://1.ard.de/wie-wir-ticken] Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de [radiowissen@br.de]. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/] Das vollständige Manuskript gibt es HIER [https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskript-radiowissen-emotion-beduerfinis-trotzphase-autonomie-wut-freude-100.html]. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 01 TON (Maike, Leo) Zähneputzen. Gleich. Nein, jetzt Leo. Komm, wir müssen gleich los. ERZÄHLERIN So klingt es bei uns morgens. Erst frühstücken, Zähne putzen und dann anziehen.  02 TON (Maike, Leo) Zieh mal bitte die Schlafsachen aus. Hörst du mich? Einmal Schlafsachen ausziehen.  ERZÄHLERIN  Aber mein Sohn ist schon wieder in seiner eigenen Welt. Er will mir unbedingt noch seinen Lieblingsbaum draußen zeigen. 03 TON (Maike, Leo) Da, der wo das Häuschen daneben ist. Aha. So komm, zieh mal jetzt an. Hast du ihn gesehen? Ja. Stell dich mal hin und zieh die Sachen aus. ERZÄHLERIN (leicht genervt) Es folgt eine Runde auf dem Bett hüpfen …. 04 TON (Maike, Leo) Komm her. Mama, kann ich spielen? Wir ziehen dich jetzt erst mal an. Beine durch. Wo sind denn jetzt die Socken? Socken? Ich hab dir hier eben die Socken gelegt. Einmal Socken suchen. Hab sie. Das ist ein Fußball.  ERZÄHLERIN Die Socken durchs Zimmer kicken und noch ein Purzelbaum im Bett. Ist alles viel lustiger als Anziehen. Kann ich ja verstehen. Aber trotzdem: die Zeit drängt, wir müssen los zur Kita. Deshalb dranbleiben, es fehlen nur noch Schneeanzug und Schuhe: 05 TON (Maike, Leo) Den Anzug ziehst du dir gleich alleine an. Ne Mama. Warum denn nicht? Weil ich nicht will!  Musik 2 "Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'50 ERZÄHLERIN An dieser Stelle kann es dann auch mal etwas lauter werden, aber nur kurz. Inzwischen kriegen wir es eigentlich immer hin, dass alle einigermaßen pünktlich und vollständig angezogen loskommen.  Vor ein paar Jahren war das noch anders. Da war mein Sohn etwa zwei Jahre alt. Wenn es schlecht lief, kam es an dieser Stelle dann zu einem richtigen Wutanfall: Hochroter Kopf, Schuhe, die durch den Flur flogen, ein schreiendes Kind, das aufgebracht hin und her lief. Wie das klang, erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Die meisten Eltern kennen das vermutlich ohnehin. So ein Wutanfall beginnt in der Regel damit, dass ein Kind etwas will, und zwar unbedingt! 06 O-TON (Pauen) Sei es jetzt eine bestimmte Jacke anzuziehen oder eben den Teddy noch mitzunehmen oder Süßigkeiten aus dem Supermarkt mitzunehmen. Egal was es ist, es wird erstmal insistiert, dann gibt es ein Nein, ein Widerstand auf der anderen Seite, und dann wird das immer lauter und das Kind kann wirklich am Schluss völlig hilflos auf dem Boden liegen, strampeln, schreien, völlig ausgeliefert seinen negativen Emotionen sein. ERZÄHLERIN Sagt die Psychologin Sabina Pauen. Sie ist Professorin an der Universität Heidelberg. Typischerweise treten solche Wutausbrüche im Alter von zwei bis vier Jahren auf.  07 O-TON (Pauen) Auch noch bis fünf, aber nach fünf selten. Musik 3 "Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'40 ERZÄHLERIN Bei uns gab es die Wutanfälle meistens morgens, wenn Müdigkeit und Zeitdruck zusammenkamen. Bis mein Sohn sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, konnte es schon mal zehn bis fünfzehn Minuten dauern. Eine schwierige Situation für uns Eltern. Manchmal hatte ich ein Meeting und wusste, alle Kolleginnen und Kollegen warten gleich auf mich. Oder ich musste zum Zug – und der wartet eben leider nicht auf mich. In solchen Momenten hätte ich mich am liebsten selbst auf den Boden geworfen und losgeschrien. Bringt natürlich nichts.  08 O-TON (Pauen) Was man dann machen muss, ist, zunächst Verständnis signalisieren. Das ist natürlich genau nicht das Gefühl, das man gerade hat. In dem Moment, wenn man schnell aus der Tür muss und das Kind streikt. Aber im Endeffekt sagen: Ja, ich verstehe, du willst das jetzt wirklich nicht. Aber es muss jetzt so laufen. Also auf der einen Seite Verständnis signalisieren, auf der anderen Seite ganz ruhig und ganz konsequent die eigene Position noch mal wiederholen für das Kind, manchmal auch mehrmals. Aber das Wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Und das Schwerste. ERZÄHLERIN Mit der Zeit sind wir als Eltern gelassener geworden. Was mir wirklich sehr geholfen hat: zu wissen, warum es zu solchen Wutausbrüchen kommt. 09 O-TON (Pauen) Das hat was damit zu tun, dass die Kinder gerade eine bestimmte Entwicklungsphase durchlaufen, in der sie auf der einen Seite schon ein Autonomiebedürfnis entwickelt haben, auch die Fähigkeit, viele Dinge selber zu machen und auch zu kommunizieren, was sie möchten. ERZÄHLERIN Die Kinder wissen, was sie wollen und können es den Eltern auch mitteilen. Aber andere Fähigkeiten fehlen ihnen noch.  10 O-TON (Pauen) Zum Beispiel die Fähigkeit, die Perspektive von Anderen mit einzubeziehen. Musik 4 "48 Hours" - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'35 ERZÄHLERIN Also beispielsweise meine Perspektive. Mir kam es tatsächlich so vor, dass mein Sohn ausgerechnet immer dann streikte, wenn ich einen wirklich wichtigen Termin hatte und pünktlich losmusste. Manchmal dachte ich sogar, dass er sich absichtlich querstellte, so von wegen: Mama soll keine Termine haben, sondern nur für mich da sein. Trotzkopf sagten manche Menschen früher – aber mit Trotz, also mit Widerstand gegen die Eltern, hat so ein Wutausbruch nichts zu tun.  11 O-TON (Scheithauer) Als Elternteil, ich bin selber Vater, rutscht man sehr schnell auch in so eine Situation, dass man denkt: Oh, dieses Kind, was will das jetzt wieder? Und man bezieht das so auf sich selbst und denkt, das Kind will sozusagen rebellieren, es will seinen Kopf durchsetzen, es will einem etwas Böses. Das ist überhaupt nicht der Fall. Die Eltern müssen sich klar machen, dass das Kind eben noch nicht anders kann in so einer Situation.  ERZÄHLERIN Sagt der Psychologe Herbert Scheithauer. Er ist Professor an der Freien Universität Berlin. Rückblickend denke ich, dass meine eigene Anspannung oft dazu beigetragen hat, wenn es morgens laut wurde. Deshalb: am besten gelassen bleiben. Und vielleicht schafft man es sogar, sich darüber zu freuen, dass das eigene Kind gerade einen bedeutenden Entwicklungsschritt macht. Das versucht auch Scheithauer zu vermitteln.  12 O-TON (Scheithauer) Wenn Eltern mich fragen, sage ich oft: Herzlichen Glückwunsch, Ihr Kind entwickelt sich ganz vorzüglich. Denn zum einen sind Wutanfälle die Möglichkeit, mit denen kleine Kinder ihre Gefühle ausdrücken und bewältigen. Und zum anderen lernen sie gerade, dass ihr Verhalten andere beeinflusst.  ERZÄHLERIN Im Alter von anderthalb bis drei Jahren passiert bei Kindern unglaublich viel. Wir als Eltern waren damals oft erstaunt. Zum Beispiel als unser Sohn, der als Baby eigentlich immer getragen werden wollte, plötzlich anfing, auf eigenen Beinen die Welt zu erkunden.  13 O-TON (Scheithauer) Sie beginnen unabhängiger zu werden. Das geht damit einher, dass das Kind sich plötzlich im Spiegel selber erkennt, dass es das es plötzlich Worte benutzt wie „mein“ und eben auch das berühmt-berüchtigte Wort „Nein“. Und sie lösen sich damit natürlich auch ein Stück weit von den Eltern. Sie folgen nicht mehr so ganz dem, was die Eltern sagen und wollen, weil sie ihren eigenen Willen durchsetzen wollen. Sie wollen bestimmen, was sie anziehen, was sie essen, was sie tun.  ERZÄHLERIN Ein Stück Autonomie also – das starke Emotionen mit sich bringen kann. Heftige Wut, wenn die Eltern einen ausbremsen. Aber auch riesige Freude, bei unserem Sohn zum Beispiel, als er es das erste Mal geschafft hat, die Tür alleine aufzumachen. Solche Gefühle können Eltern ihren Kindern spiegeln. 14 O-TON Scheithauer Also von Geburt an kann man eigentlich Emotionen dem Kind gegenüber spiegeln: Ach, jetzt bist du traurig. Oder ja, das macht dich froh. Dass man dem Kind erklärt, wie es sich überhaupt fühlt. Das klingt jetzt komisch, es ist aber so, dass Kinder überhaupt noch gar kein Verständnis haben in einem sehr jungen Alter, was Emotionen sind und was mit ihnen da eigentlich los ist.  ERZÄHLERIN Denn erst wenn sie verstehen, was da gerade passiert, welches Gefühl sie haben, können sie lernen, damit umzugehen. Anders ausgedrückt: Sie können lernen, ihre Emotionen zu regulieren.  15 O-TON (Scheithauer) Und es gibt zwei Emotionsregulations-Strategien, wo wir auch aus einer Vielzahl von Studien wissen, dass diese besonders Sinn machen, die aber erst bei etwas älteren Kindern funktionieren, weil es bestimmte kognitive Kapazitäten braucht, das heißt, das Kind muss kognitiv in der Lage sein, das zu tun. Musik 5: "Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 1'23 ERZÄHLERIN Strategie Nummer eins: Das Kind möchte etwas haben, zum Beispiel den Schokoriegel an der Supermarktkasse. Und dann sagt oder denkt das Kind: 16 O-TON (Scheithauer) Ist ja nicht so schlimm, wenn ich das jetzt nicht kriege, dann kriege ich nachher eben ein Gummibärchen. Das heißt, das Kind nimmt so ein bisschen Druck aus dieser Situation, dass es jetzt nicht sofort etwas bekommt, weil es sagt: Ich finde das jetzt gar nicht so wichtig.  ERZÄHLERIN Es relativiert also ein Stück weit seinen eigenen Wunsch. Irgendwann wird es schon wieder was Süßes geben. Es muss nicht sofort sein. Das kann die Wut mildern. Die zweite Strategie, die Kinder ab einem gewissen Alter lernen können, ist: Lösungen finden. Zum Beispiel wenn der Turm, der sehr lange und mit sehr viel Hingabe gebaut wurde, plötzlich umfällt.  17 O-TON (Scheithauer) Wenn also etwas umgefallen ist, dann nicht schreien und einen Wutanfall kriegen, sondern sagen: Ach, ist nicht schlimm, kann man ja wiederaufbauen und dann das Ganze auch wiederaufbauen. Und dann steht der Turm wieder und dann gibt es auch keinen Grund mehr für Frust.  ERZÄHLERIN Relativieren und Lösungen finden – beides sind erfolgreiche kognitive Strategien, um eine Situation neu zu bewerten und mit Frust umzugehen. Es gibt sehr viele solcher Strategien, wobei einige von Psychologinnen und Psychologen heute nicht mehr empfohlen werden. Zum Beispiel „Dampf ablassen“, wie man umgangssprachlich sagt. Dahinter steht die sogenannte Karthasis-Hypothese. 18 O-TON (Scheithauer) Die geht davon aus, dass sich zum Beispiel bei Frustrationen, die ich erlebe, meine Wut rauslassen muss. Es gibt also ganz berühmte Experimente, auch aus der Sozialpsychologie, wo wir Kindern die Möglichkeit geben, sozusagen dann mit Keulen auf eine Puppe einzuschlagen. Oder wir finden das auch häufig in Erziehungsratgebern. Das Kind soll dann ein Kissen nehmen und mit der Faust reinschlagen. In dieser Situation selber ist das tatsächlich so, dass man sich dann so ein bisschen wie befreit fühlt. Das Problem ist aber, dass die Kinder dann lernen, dass das ein tolles Gefühl ist, wenn man die Wut so rauslässt, wenn man zuschlägt, wenn man haut. Und das bleibt als Lerneffekt. Und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch zukünftig in einer solchen Situation genau ein solches Verhalten gezeigt wird, was wir ja eigentlich nicht wollen.  ERZÄHLERIN Als ich das höre, erschrecke ich erst mal. Denn tatsächlich haben wir das mit dem Kissen zum Reinboxen auch mal versucht, man liest es einfach oft. Es half auch ein bisschen. Aber auf längere Sicht ist es eben keine gute Idee. 19 O-TON (Scheithauer) Wir wissen aus Studien, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen, die ihre Wut in solchen Situationen rauslassen, zukünftig häufiger in wutauslösenden Situationen auch ein aggressives Verhalten zeigen. Es macht also mehr Sinn, mit der Wut umzugehen, die Wut zu beherrschen, zu kanalisieren in sozial angemessene Verhaltensweisen. ERZÄHLERIN Wobei es an dieser Stelle wichtig ist zu betonen: Es geht nicht darum, gar keine Wut oder keinen Frust mehr zu haben. Sondern vielmehr darum, Emotionen so zu regulieren, dass sie einen nicht mehr völlig überwältigen.  20 O-TON (Scheithauer) Alle Emotionen, das muss man immer wieder sagen, haben ihre Berechtigung. Es geht also nicht darum, Emotionen wegzuregulieren, Dass wir nicht mehr traurig sind, ängstlich oder wütend. Das wäre fatal, weil alle Emotionen haben ihre Funktion, ihre Bedeutung in unseren sozialen Interaktionen.  ERZÄHLERIN Sie sind wichtig, weil sie anderen Menschen signalisieren, wie es einem geht.  21 O-TON (Scheithauer) Das heißt, man kann einem Menschen ansehen, wenn er Angst hat oder wenn er wütend ist oder wenn er glücklich ist. Und sie regulieren dann die Interaktion mit anderen Menschen. Das heißt, wenn ich sehr traurig bin, dann sehen das andere und sprechen mich an, oder ich suche mir selber Hilfe. Dafür dienen Emotionen. ERZÄHLERIN Deshalb ist es zwar wichtig, dass wir Emotionen regulieren, auch ein Stück weit dämpfen und kontrollieren, aber gleichzeitig auch ausdrücken und zeigen können. Langfristig betrachtet, kann es sonst zu Depressionen kommen im schlimmsten Fall. 22 O-TON (Pauen) Wenn ich jetzt Gefühle habe und die werden nicht wahrgenommen von Anderen oder ich kann das Verhalten, das daraus resultieren würde, nicht zeigen, dann lähmt mich das oder macht mich hilflos. Und da ist so der Übergang zu depressiven Verstimmungen oder auch Depressionen irgendwann. Das ist ja gelernte Hilflosigkeit. Also ich kann nichts machen, ich werde nicht wahrgenommen und ich kann nichts bewirken. Das sind Gefühle, die mich sehr traurig und hilflos machen. Musik 6 "Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'45 ERZÄHLERIN Auch während eines Wutanfalls ist es deshalb wichtig, beim Kind zu bleiben und ihm zu signalisieren, es ist schon in Ordnung, dass du jetzt wütend bist.  23 O-TON (Pauen) Das Gefühl ist erstmal da und es wird sich auch nur dann verändern, wenn sich meine Bewertung der Situation verändert… ERZÄHLERIN … was die Kleinen aber eben noch nicht können … 23 O-TON Oder wenn eine andere Person darauf reagiert hat und mein Signal angekommen ist. Erst dann kann es wieder flüssig werden, sagen wir Psychologen manchmal, dass ich irgendwie wieder in andere Richtungen auch denken und fühlen kann. Musik 7 "Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'41 ERZÄHLERIN Je älter Kinder werden, desto besser gelingt es ihnen, Gefühle zu regulieren. Auch weil sie immer besser sprechen können.  24 O-TON (Pauen) Und damit auch in Verhandlungen einzutreten mit den Eltern und auf eine sozial akzeptierte Weise Interessenkonflikte zu regeln.  ERZÄHLERIN Oh ja, das Verhandeln! Unser Sohn macht inzwischen Vorschläge, wie wir das mit den Süßigkeiten handhaben sollen. Also seiner Meinung nach. Nach jedem Essen etwas aus der Süßigkeiten-Dose. Oder für jedes Mal Zimmer aufräumen einen Schokoriegel. Meistens finden wir einen Kompromiss. Hilfreich ist dabei, dass er unsere Sichtweise inzwischen nachvollziehen kann.  25 O-TON (Pauen) Was sich ändert, ist eben, dass man die Fähigkeit entwickelt, die Position des Anderen besser zu verstehen und damit auch vielleicht die eigenen Emotionen oder Wünsche zu relativieren. Und ganz wichtig ist: Das hängt mit der Reifung des präfrontalen Cortex zusammen, die Fähigkeit, auch eigene Gefühle ein Stück weit zu steuern, Situationen unterschiedlich zu bewerten, neu zu bewerten. Das sind alles Kompetenzen, die mit dem Alter immer mehr dazukommen und dann uns helfen, in sozial akzeptierter Weise unsere Interessen zu kommunizieren.  ERZÄHLERIN In sozial akzeptierter Weise – das gilt übrigens auch für positive Emotionen. Man könnte vielleicht denken, dass wir Freude nicht regulieren müssen, weil man davon nicht genug haben kann. Ein Trugschluss.  26 O-TON (Scheithauer) Stellen Sie sich vor, Sie wären stundenlang euphorisch oder überschwänglich positiv gestimmt. Das klingt jetzt erst mal so, als wäre das etwas sehr Erstrebenswertes. Aber ich glaube, wenn man so richtig glücklich ist und euphorisch hochspringt, wenn man das mal 15, 20 Minuten erleben würde, wäre man fix und fertig. ERZÄHLERIN Hinzu kommt: Erwachsene zeigen Freude anders als Kinder. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Sohn und seine beste Freundin sich das erste Mal nach den Ferien in der Kita wiedergesehen haben. Die beiden fielen sich in die Arme und sind dann händchenhaltend und im Hopserlauf in ihren Kitaraum gehüpft. Wir Eltern waren entzückt. Tatsächlich freue ich mich wirklich auch, wenn ich Kolleginnen oder alte Freunde nach längerer Zeit wiedertreffe. Aber Händchenhaltend durch die Stadt? Im Hopserlauf durch die Redaktion? Eher nicht. Das zeigt: Wie wir unsere Gefühle ausdrücken, was akzeptiert ist und was nicht, ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen.  27 O-TON (Pauen) Das hängt sehr von kulturellen und normativen Erwartungen ab. Und bei Erwachsenen drückt sich eben unbändige Freude anders aus als bei einem Kleinkind.  ERZÄHLERIN Wie Gefühle ausgedrückt werden, lernen Kinder vor allem durch Beobachtung.  28 O-TON (Pauen) Alle Kinder lernen durch Beobachtung am Modell. Und für die Kleinkinder sind die etwas älteren Kinder eben das Modell. Und wenn in einer Kultur sich eine bestimmte Form des Ausdrucks verbreitet hat, dann läuft dieses Lernen implizit. Das wird auch gar nicht irgendwie eingedrillt oder so, sondern das entsteht einfach, weil die Umgebung so ist. ERZÄHLERIN Die ist zum Beispiel in Asien anders als in Europa. 29 O-TON (Pauen) Eine Kollegin von mir ist Japanologin. Die hat mir erzählt, dass sie mit ihren Kindern in Japan auf dem Spielplatz immer sehr unangenehm auffällt, weil ihre Kinder eben sehr laut durch die Gegend rufen und eben sehr viel Emotionsausdruck zeigen. Und schon die kleinen Kinder in Japan eigentlich viel gesitteter und ruhiger sich äußern. Also die Erwartungen, was den Ausdruck angeht und die Wildheit des Verhaltens angeht, sind in Japan ganz anders als hier. ERZÄHLERIN Ich finde es ja toll, wenn die Kinder auf dem Spielplatz sich so richtig austoben. Wenn sie wild spielen, rennen und auch mal so richtig rummatschen. Aber ich bin eben auch jemand, der im Westen sozialisiert wurde, also einer individualistischen Kultur. 30 O-TON (Scheithauer) Hier fördern Eltern zum Beispiel die Selbstbestimmtheit des Kindes, die Autonomie, die Unabhängigkeit ihrer Kinder. Und der Selbstausdruck und eine offene Kommunikation von ich-fokussierten Emotionen wird hier besonders betont. Also Ärger, Stolz, Ekel, auch negative Emotionen werden hier viel stärker gefördert und akzeptiert als eben in den kollektivistischen Kulturen.  ERZÄHLERIN Die kollektivistischen Kulturen findet man in vielen Ländern Asiens.  31 O-TON (Scheithauer) Wir sprechen auch von Emotional Display Rules, das heißt, es gibt bestimmte Regeln, die wir einfach kulturell vermittelt kennen, wie man sich in bestimmten Kontexten zu verhalten hat – wenn man glücklich ist, wenn man fröhlich ist, wenn man wütend ist, wenn man ängstlich ist usw. Das heißt, je nach kulturellem Hintergrund kann dann auch die gezeigte Gesichts-Mimik etwas anders ausfallen. ERZÄHLERIN Das kann dazu führen, dass wir in einer fremden Umgebung, in einer anderen Kultur erst mal unangenehm auffallen. Aber gleichzeitig macht es auch deutlich, wie vielfältig wir Menschen sind.  32 O-TON (Pauen) Auf der positiven Seite zeigt das ja eigentlich, mit wie vielen unterschiedlichen Formen des Austausches wir zurechtkommen. Also im Prinzip sind die Kleinen wirklich offen für alles. Es kommt darauf an, was wir ihnen bieten.  Musik 8 "Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'24 ERZÄHLERIN Uns ist es wichtig, unserem Sohn zu zeigen, dass alle seine Gefühle okay sind. Auch Wut. Und mit der Zeit ist es uns gelungen, auch bei heftigen Wutanfällen gelassen zu bleiben. Meistens jedenfalls. Aber es muss auch gar nicht immer perfekt laufen.  33 O-TON (Scheithauer) Weil es gibt ja auch Möglichkeiten der Wiedergutmachung, dass man dem Kind das hinterher erklärt und sagt: Du, Mama ist gerade ganz doll im Stress und es tut mir leid, ich wollte dich jetzt nicht anschreien. Auch das ist etwas, was Kinder dann lernen von den Erwachsenen, dass man auch mal einen Fehler macht und dass man sich aber entschuldigt und mit dieser Situation umgeht. Musik 9  "Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'37 ERZÄHLERIN Sich entschuldigen, sich wieder vertragen und versöhnen – auch das will gelernt sein. Am besten von den eigenen Eltern.  34 O-TON (Scheithauer) Man kann damit seinem Kind auch gleichzeitig wieder etwas Gutes tun, indem es lernt: Auch Erwachsene sind schwach, auch Erwachsene machen Fehler, und die wissen aber auch, wie man sich dann entschuldigt und wie man das wieder geradebiegt. ERZÄHLERIN Und das ist bei all den starken Gefühlen, die im Familienalltag so aufkommen, doch letztlich sehr beruhigend.

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