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Großmächte im Weltordnungskrieg
Ist die Kreml-Führung mit der Invasion in die Ukraine in eine „strategische Falle“ getappt? Einen langjährigen, verlustreichen Abnutzungskrieg hat man wahrscheinlich nicht vorausgesehen. „Ruiniert“ werden konnte Russland nicht, vielmehr fallen uns in Europa die „halbierte Globalisierung“ und die Militarisierung auf die Füße. Georg Auernheimer meint in seinem neuen Buch „Die Strategische Falle. Die Ukraine im Weltordnungskrieg“, dass Russlands Angriff im US-Interesse war. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. So vieles gibt es schon zum Krieg in der Ukraine, dass man abwinken kann: Alles schon gesagt. Ohnehin stehen die Meinungen bei den meisten Leuten fest. Entweder beugt man sich der herrschenden Erzählung: Russland habe aus imperialem Interesse die machtlose Ukraine angegriffen. Das Wort „völkerrechtswidrig“ muss unbedingt hinzugefügt werden. Oder man zieht die Vorgeschichte – und die Folgen – in Betracht, die zahlreiche Autorinnen und Autoren – ob Gabriele Krone-Schmalz oder Daniela Dahn, Kai Ambos oder Arne Seifert, Michael Lüders oder Lothar Schröter und andere – schon recherchiert und erklärt haben. Prof. Georg Auernheimer ist kein Historiker und kein Politologe. Er lehrte Erziehungswissenschaft in Marburg und Köln. Sein Schwerpunkt „Interkulturelle Pädagogik“ macht ihn indes sensibel für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Zudem hat er das Talent, sehr prägnant und eingängig zu formulieren. Schon im Titel seines Buches steckt etwas, das aufmerken lässt: „Die strategische Falle“. Sollen wir das so verstehen, dass Russland durch seinen geopolitischen Rivalen aus der Reserve gelockt werden sollte, um diesen Krieg zu führen? Die Lektüre packt, regt zum Weiterdenken an. Man zieht Schlüsse, stellt sich Fragen – und findet im Autor dieses Bandes einen überaus kundigen Gesprächspartner. Dass es in den USA das Know-how gibt für geostrategisches Denken, wird niemand bestreiten. Die beanspruchte Vormachtstellung in der Welt wird sogar öffentlich bekundet, erscheint geradezu als gutes Recht – als ob der Führungsanspruch gottgegeben sei. „Gott schütze Amerika“, sagen Präsidenten gern am Ende ihrer Reden. Gorbatschows Friedensgeste wurde als Niederlage gedeutet Jahrzehntelang standen sich die Sowjetunion und die USA als Großmächte gegenüber. Gorbatschow wollte die Konfrontation beenden. Auch weil der Rüstungswettlauf im Kalten Krieg das Land überforderte, streckte er die Hand aus zum einstigen Feind. Die Auflösung der Sowjetunion, die Aufgabe der DDR und die Auflösung des Warschauer Paktes wollte er als Friedensgeste verstanden wissen, doch war es naiv zu glauben, damit den Weltfrieden zu retten. Das Gegenteil geschah. Dass der einstige geopolitische Rivale abdankte, wurde in den USA als Chance gesehen, die Stellung als einzige Großmacht zu sichern. Da zitiert Auernheimer aus der außenpolitischen Richtlinie „Defence Policy Guidance“ von Staatssekretär Paul Wolfowitz (S. 31). So wie es überhaupt ein entscheidender Vorzug des Buches ist, wie viele Fakten hier durch Dokumente belegt sind und wie sich dadurch Zusammenhänge herstellen. Detailliert wird auf das Verhältnis NATO-Russland eingegangen, und man erfährt auch, dass die NATO im Rahmen der „Partnership for Peace“ schon seit 1997 mit der Ukraine Truppenmanöver im Schwarzen und im Asowschen Meer durchgeführt hat. Wenige Tage nach der NATO-Osterweiterung 1999 erfolgte der Angriff auf Jugoslawien, der nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch dem bisherigen Auftrag der NATO widersprach. Denn nicht mehr um Territorialverteidigung ging es hier: „Man ermächtigte sich selbst zur Krisenintervention in allen Weltregionen.“ (S. 37) Im „Weltordnungskrieg“, von dem hier die Rede ist, hatte Russland lange schon mit Demütigungen zu leben, die kaum in unserem Blickfeld waren. 2014 hatte US-Präsident Obama den einstigen Rivalen noch als „Regionalmacht“ verspottet. Und 2015 dann der Militäreinsatz in Syrien zur Unterstützung von Präsident Assad. Plötzlich, wie es vielen schien, hat Russland sich nicht mehr mit der Missachtung abgefunden und bestand auf eigenen Interessen in der Weltpolitik. Ist es nicht eigentlich das, was der Putin-Regierung hierzulande mit großer Emotionalität vorgeworfen wird: ein Reagieren, wie Deutschland es sich nicht leisten könnte? Ein Großmachtgebaren, während die BRD eine „Kleinmacht“ ist, nicht mal wirklich selbstbestimmt, sondern an der transatlantischen Leine. Sind wir gar neidisch darauf, wie Russland jetzt immer rigoroser nationale Interessen verfolgt, während hierzulande sogar deren Vorhandensein geleugnet wird? Nicht nur geleugnet, sondern verdrängt, ausgeblendet, weil das wiederum den nationalen Interessen der USA widersprechen würde. Die Osterweiterung der NATO hat den Krieg provoziert Der „Weltordnungskrieg“ währt schon lange. Beitrittsverhandlungen zur NATO 2002 mit Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Slowenien und auch den drei baltischen Staaten. Muss man da nicht einen Zusammenhang zur Etablierung des NATO-Russland-Rates im gleichen Jahr sehen? Ein Deckmäntelchen für Aktionen, die Russland widerstreben mussten? 2003 der Angriff auf Irak und die auch von Soros‘ „Open Society Foundation“ unterstützte „Rosenrevolution“ in Georgien, die „Orangene Revolution“ in der Ukraine ein Jahr später – und Anfang April 2008 wurden die Ukraine und Georgien auf dem NATO-Gipfel in Bukarest in den „Membership Action Plan“ aufgenommen, was der Zusage einer baldigen Mitgliedschaft gleichkam. Der Russischen Föderation hätte die Umklammerung von Süden und Westen gedroht. William Burns, damals Botschafter in der Ukraine, warnte Außenministerin Condoleezza Rice ausdrücklich, dass damit eine „rote Linie“ überschritten sei und der Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine bereitet würde[1]. Bekanntlich haben Angela Merkel und Nicolas Sarkozy durch ihren Einspruch diese Eskalation erst einmal verhindert. Aber in Russland sah man die Bedrohung wohl, zumal ebenfalls 2008 vom damaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakischwili, ermuntert durch die USA, der Angriff auf Südossetien befohlen worden war. Daraufhin rückten russische Truppen bis kurz vor Tbilissi vor. Ein Jahr vorher hatte Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Enttäuschung und Entrüstung Russlands zum Ausdruck gebracht und war auf Unverständnis gestoßen. Nun musste er sehen, wie seine Befürchtungen Realität wurden. Natürlich hatte man dort auch „The Grand Chessboard“ von Zbigniew Brzezinski gelesen. „Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein.“[2] Europa sollte nicht mit Russland verbunden sein Die Urangst des US-Establishments „vor der geballten Wirtschaftskraft eines mit Russland kooperativ verbunden Europas“ (S. 44) lag offen zutage, wohingegen Europa an einem eurasischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok durchaus Interesse haben konnte. Größer erschien in den USA allerdings die Bedrohung durch die Wirtschaftsmacht Chinas. Diesbezüglich nennt Georg Auernheimer zwei Optionen: Entweder „die Russische Föderation zu schwächen und ihre Kooperationsbeziehungen zur EU zu kappen, wobei der Ukraine ein hoher Stellenwert zukam,“ oder „China zu isolieren“, indem man die Beziehungen zu Russland „neu ausbalanciert“ (ebenda). Aber Russland hatte begonnen, sich vom Petrodollar-System zu trennen und die in Dollar notierten US-Anleihen abzustoßen. Zudem gab es in den USA Gelüste nach den Gasfeldern im Donbass und südlich der Krim, den Lithium-Vorkommen in der Ostukraine und den ertragreichen landwirtschaftlichen Nutzflächen, von denen allein Cargill, DuPont und Monsanto 17 Millionen Hektar im Osten und Süden aufgekauft haben. Anteilseigner ist BlackRock, der weltgrößte Vermögensverwalter, der auch in zahlreiche Rüstungskonzerne investiert hat. Da ist es spannend, beim Lesen geistige Verbindungen zu ziehen. Dabei wird auch das Wissen über die Geschichte der Ukraine, das Dilemma der ukrainischen Nationalbewegung, Stepan Bandera, das Sprachgesetz, den Angriff auf die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche wieder aufgefrischt. Was hinter den aktuellen Ereignissen fast verschwand: Schon 2009 begann die US-Regierung unter Barack Obama und mit Joseph Biden als Vizepräsident, die Ukraine aufzurüsten, dortiges Militär auszubilden und in NATO-Strukturen zu integrieren. Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Administration, Kiew mit „Verteidigungswaffen“ auszustatten. Mehrere Übungen mit NATO-Truppen „zur Verbesserung der Interoperabilität“ folgten (S. 66). Warum das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen mit der EU, von dem sich viele Ukrainer 2014 mehr Wohlstand erhofften, für Russland unannehmbar war, wird hier erklärt und ebenso, was die Schock-Privatisierung nach dem Zerfall der Sowjetunion für die Ukraine bedeutete. Der Verlauf des sogenannten Euro-Maidan wird dargestellt, die Sezession der Krim und der Krieg gegen die abtrünnigen „Volksrepubliken“. Es war ja hierzulande wenig bekannt, dass die Bevölkerung des Donbass seit 2014 im Rahmen einer „Antiterroroperation“ immer wieder unter Beschuss genommen wurde. Zeitweise gekappt waren Wasser- und Stromversorgung. Die beiden Abkommen von Minsk hätten zu einer Deeskalation beitragen können, doch die Regierenden in Kiew wollten der russischsprachigen Bevölkerung im Osten keinen Schritt entgegenkommen. Dass die europäischen Vermittlungsversuche nur dazu gedient hätten, der Ukraine „Zeit zu geben …, um stärker zu werden, wie man heute sieht“, gestand Angela Merkel im Dezember 2022 ein. Was für ein Vertrauensbruch! Ich sehe noch vor mir, wie Putin in Sotschi die deutsche Kanzlerin mit einem riesigen Rosenstrauß erwartete. Schon Präsident Trump, der nun verspricht, den Krieg zu beenden, hatte die Ukraine massiv aufgerüstet. Seit Kriegsbeginn wurden 44 Milliarden US-Dollar bereitgestellt. Wirtschaftssanktionen trafen die Russische Föderation schon 2014 für die „Annexion der Krim“. Russland unter Zugzwang Am 21. Februar 2022 hat Russland die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkannt, die lange schon darum gebeten hatten. Zu deren Unterstützung begann einen Tag später die „Militäroperation“. Was nicht im Buch steht: Der innere Krieg um die abtrünnigen Gebiete kam Russland insofern zupass, als er eine NATO-Mitgliedschaft hinauszögerte. Die Osterweiterung des Militärbündnisses war der wunde Punkt für Russland, was man im Westen hämisch zur Kenntnis nahm. Der „Vertragsentwurf für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur“, den die Kreml-Führung den USA und der NATO am 17. Dezember 2021 zukommen ließ, wurde zurückgewiesen. Allerdings waren die Forderungen so weitreichend, dass ich damals schon die Gefahr eines Krieges sah. Ein Ultimatum? Aus Verzweiflung, meint Georg Auernheimer. „Mit der Stationierung strategischer Waffen in der Nähe ihrer Grenzen würde die NATO russische Ziele einschließlich Moskau mit Atomwaffen erreichen können, ohne dass der Kreml Zeit zur Reaktion hätte. Am 16. Februar 2022 begann ein Dauerbombardement des Donbass. Am 19. Februar stellte Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz den im Budapester Memorandum vereinbarten Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen in Frage.“ (S. 93). Geleakte Informationen über einen geplanten Einmarsch der ukrainischen Armee auf die Krim kamen hinzu. Schon am 24. März 2021 hatte Selenskyj ein Dekret erlassen, in dem die „De-Okkupation und Wiedereingliederung der Krim und der Stadt Sewastopol“ zum staatlichen Auftrag gemacht wurden. Truppen wurden in die südliche Ukraine verlagert. Schon vier Tage nach der russischen Invasion hat es erste Friedensverhandlungen in Gomel gegeben. Sie scheiterten. Am 9. März lag nach Verhandlungen in Istanbul sogar ein russisch-ukrainischer 15-Punkte-Friedensplan vor. Der hätte freilich eine Änderung der ukrainischen Verfassung verlangt, die den Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO als Ziel formuliert. (S. 99) Das Leid der Zivilbevölkerung Nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen zielten die russischen Truppen ab April 2022 zunehmend auf Treibstofflager, Raffinerien und die Eisenbahninfrastruktur. Der Stellungskrieg gestaltete sich zu einer riesigen Materialschlacht. Die ukrainische Führung schickte „die ukrainischen Soldaten erbarmungslos ins gegnerische Feuer, um den westlichen Partnern Erfolge vorweisen zu können“. (S. 117) Auch die Armeeführung Russlands bekam Probleme mit der zunehmenden Erschöpfung der kämpfenden Truppe. Was der Krieg für die ukrainische Zivilbevölkerung bedeutet – die Männer sind ja ständig von Mobilisierung bedroht –, erfährt man in aller Deutlichkeit. „Ersparnisse sind aufgebraucht, jeder Fünfte ist arbeitslos, Familien sind zerrissen, Wohnungen sind zerstört …“ Fast 40 Prozent der noch in der Ukraine lebenden Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Hinzu kommt die Zerstörung der Infrastruktur. Weite Teile des Landes sind vermint, Ackerboden ist durch den Einsatz von abgereichertem Uran verseucht … „Die Wiederaufbaukosten für die Ukraine wurden 2023 von Weltbank auf 411 Milliarden Dollar veranschlagt.“ (S. 133) Das klingt viel, doch wäre es nur etwas mehr als die Hälfte der Militärausgaben in den USA. Zu den 800,7 Milliarden Dollar 2022 kann man ja sogar noch die 340 Milliarden aus den NATO-Ländern hinzurechnen. Russland brachte es „nur“ auf 86,4 Milliarden. In den Krieg, um Russland zu „ruinieren“, wie es Außenministerin Baerbock ausdrückte, hatten die NATO-Staaten Milliarden investiert: die USA bis Ende Juli 2023 42,1, Deutschland 17,1, Großbritannien 6,6 Milliarden US-Dollar. (S. 136) Massive Erhöhung der Rüstungsausgaben. Bundeskanzler Scholz verkündete ein „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Dollar. (S. 138) Für den deutschen Militärhaushalt sind 2024 51,8 Milliarden Euro vorgesehen. Was für ein Geschenk für die Rüstungsindustrie, zumal auch alle anderen EU-Staaten aufrüsten wollen. Die Begleitmusik dazu liefert eine Militarisierung der Gesellschaft, bei der man gerade in Deutschland auf überkommene Klischees zurückgreifen kann. Beängstigend ist es, wie da Bedrohungsszenarien aufgebaut werden. „Wir müssen kriegstüchtig werden“, erklärte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Ende Oktober 2023 im ZDF. Derweil wendet sich die Russische Föderation China zu und baut an einem neuen Machtblock mit Asien und dem globalen Süden. „Mit dem schrittweisen Übergang zu den eigenen Landeswährungen im Geschäftsverkehr wird ein klarer Schnitt gegenüber dem Euro- und Dollarraum gezogen.“ Da sei es nicht abwegig , „für die Zukunft eine halbierte Globalisierung zu prognostizieren“. (S. 158) Und auch ein Krieg zwischen den USA und China sei nicht länger unwahrscheinlich. Auch die Brandherde im Nahen Osten sind wohl im Zusammenhang mit diesem Weltordnungskrieg zu denken. Eine multipolare Weltordnung dürfte kaum friedlicher sein. Und nicht nebenbei gesagt: Während hierzulande über die Notwendigkeit von Klimaschutz diskutiert wird und Privatautos in die Kritik geraten, stört sich niemand daran, dass der Ausstoß von Treibhausgasen im Krieg Spitzenwerte erreicht. Dem widmet Georg Auernheimer ein ganzes Kapitel. „Unter einer universalen Perspektive kann man zu dem Schluss kommen: Allen Bedrohungen, Provokationen zum Trotz hätte Russland diesen Krieg nie beginnen dürfen.“ Manchmal denke ich das auch. Was aber wäre in einem System konkurrierender Staaten die Alternative? Das eigene Land mit Rücksicht auf das Schicksal der Menschheit fremden geopolitischen Interessen zum Opfer bringen? Gorbatschow ist im Vertrauen auf die andere Seite diesen Weg gegangen und hat alles nur noch schlimmer gemacht. Georg Auernheimer: Die Strategische Falle. Die Ukraine im Weltordnungskrieg. PapyRossa, 191 S., br., 16,90 €. Titelbild: Ivan Marc / Shutterstock ---------------------------------------- [«1] William J. Burns: The Black Channel (2019), S. 232 f. [«2] Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht (1999), S. 76
05. mai 2024 - 19 min
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Stimmen aus der Ukraine: Wie meine Heimat wegen des neuen Mobilisierungsgesetzes zum Ghetto wird
Das wichtigste Ereignis der letzten Zeit, sowohl für Millionen ukrainischer Bürger in der Ukraine als auch für Millionen ukrainischer Flüchtlinge in anderen Ländern, ist die Verabschiedung eines neuen Gesetzes über die Mobilisierung. Jeder kompetente Jurist wird Ihnen, werte NachDenkSeiten-Leser, erklären, dass ihm in der juristischen Ausbildung immer beigebracht wurde, das Gesetz in seiner Tiefe zu betrachten: die Logik des Gesetzgebers zu verstehen und dessen Ziele bei der Schaffung des Gesetzes. Die von den Behörden offiziell erklärten Ziele, „die Registrierung der wehrpflichtigen Ukrainer in Ordnung zu bringen, die Lücken in der Gesetzgebung zur militärischen Registrierung zu schließen und mit den verfügbaren Humanressourcen umzugehen“, erscheinen bei der Zielanalyse jedoch zweitrangig. Das Hauptziel ist die Maximierung der zynischen Formel: Tausche das Leben von Abertausenden Ukrainern gegen Geld und Waffen aus dem Westen. Von Maxim Goldarb. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. > „Das ukrainische Volk verrichtet die Art von Drecksarbeit, die wir hier in den Vereinigten Staaten niemals tun wollen würden.“ > – Mark Esper, ehemaliger US-Verteidigungsminister Es ist kaum ein Zufall, dass fast unmittelbar nach der Unterzeichnung des Mobilisierungsgesetzes durch Wolodymyr Selenskyj die US-Behörden die seit einem Jahr ungeklärte Frage der Militärfinanzierung für die Ukraine in Höhe von 61 Milliarden US-Dollar sehr schnell lösten. Aber kommen wir zum Kern der Sache. Das neue „Mobilisierungsgesetz“, das am 18. Mai dieses Jahres in Kraft tritt, verschärft die Regeln für die Zwangsmobilisierung drastisch. Das Gesetz führt eine strengere Registrierung der wehrpflichtigen Personen ein und verpflichtet fast jeden Mann zwischen 18 und 60 Jahren – egal, wo er sich aufhält und wie er über den laufenden Krieg in der Ukraine denkt –, die Militärbehörden über sich selbst zu informieren und stets einen Militärausweis bei sich zu tragen. Darüber hinaus wurde das Einberufungsalter für die Mobilmachung von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Ab Inkrafttreten des Gesetzes haben ukrainische Männer 60 Tage Zeit, ihre Daten in den territorialen Rekrutierungszentren (TRC) zu aktualisieren. Werden die Daten nicht innerhalb dieser Frist aktualisiert, wird eine Verwaltungshaftung in Form von hohen Geldstrafen verhängt. Überlegen Sie mal: In einem Land mit einem Durchschnittsgehalt von 400 Euro liegt die Höhe der „Mobilisierungsgeldstrafe“ zwischen 400 und 600 Euro! Wird das Bußgeld nicht gezahlt, können die Konten der mobilisierten Personen gesperrt und ihr Vermögen weiter beschlagnahmt werden. Dies sind einige der wichtigsten Neuerungen des Gesetzes. Nach den Plänen der Behörden werden sie es ermöglichen, viele wehrpflichtige Personen, die nicht kämpfen wollen, aus ihrem „Schattendasein“ zu holen, diese Menschen auf die andere Seite des Lebens zu stellen, sie zu Gesetzesbrechern zu machen. Schließlich werden sie vom öffentlichen Dienst, vom Dienst in kommunalen Einrichtungen ausgeschlossen. Darüber hinaus sind solche Ukrainer schon allein wegen ihrer fehlenden militärischen Registrierungsdokumente eine leichte und begehrte Beute für alle Arten von Patrouillen, Polizisten und Informanten. Groben Schätzungen zufolge dürfte es in der Ukraine derzeit etwa eine Million solcher Menschen geben. Vor der Verabschiedung dieses Gesetzes war die Festnahme von Menschen direkt auf der Straße – was recht häufig vorkam – als Maßnahme der Behörden noch illegal. Dies gab den Ukrainern die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Rechtsmitteln zu schützen. Jetzt wird diese Möglichkeit, sich gegen die Willkür der Behörden zu wehren, faktisch abgeschafft. Gleichzeitig sind die Behörden nicht mehr verpflichtet, einer Person eine Vorladung tatsächlich zuzustellen. Jetzt wird die Nichtzustellung legalisiert: Wenn die Post die Vorladung als „nicht zugestellt“ kennzeichnet, bedeutet dies offiziell, dass der Bürger sie erhalten hat! Wie wir bereits geschrieben haben, kann Personen, die die Anforderungen des neuen Gesetzes nicht erfüllen, das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs entzogen werden, sie können von der Polizei zwangsweise festgenommen und zur Strafverfolgungsbehörde gebracht werden, und es können Geldstrafen verhängt werden. Wenn ein Bürger gegen eine gerichtliche Entscheidung über seine Bestrafung Berufung einlegt, wird die Wirkung der angefochtenen Entscheidung jedoch nicht aufgehoben! Dies ist eine offensichtliche juristische Absurdität, die zur Folge hat, dass die Schicksale von Menschen aufgrund von oft rechtswidrigen und zudem nicht vollstreckbaren Gerichtsentscheidungen zerrüttet werden: Im Grunde genommen hat dieses Gesetz das Recht einer Person auf ein faires Verfahren und das Recht auf Berufung außer Kraft gesetzt. Außerdem wird Wehrpflichtigen ohne Militärausweis kein Reisepass für das Ausland ausgestellt. Dies gilt auch für junge Männer ab 18 Jahren, die die Ukraine verlassen haben, bevor sie volljährig wurden. Das heißt, um im Ausland ukrainische Dokumente zu erhalten, müssen sie in die Ukraine gehen, um ein militärisches Registrierungsdokument zu erhalten. Da sie danach aber nicht mehr aus der Ukraine gelassen werden, macht dies keinen Sinn. Außerdem sieht das neue Gesetz vor, dass nicht nur Passdienstleistungen, sondern auch alle konsularischen Dienstleistungen im Ausland für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren nur gegen Vorlage eines Militärausweises erbracht werden können. Für Zehntausende von Ukrainern, die keinen Militärausweis haben, ist es unmöglich geworden, konsularische Dienstleistungen zu erhalten, ohne in die Ukraine zurückzukehren. Schon vor der Verabschiedung des Gesetzes beantragten Tausende von ihnen bei Konsulaten und anderen staatlichen Stellen im Ausland die vorzeitige Verlängerung ihrer Pässe, ohne die eine Legalisierung in denselben EU-Ländern problematisch ist. Dadurch bildeten sich in den Ländern, in denen sich viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufhalten, riesige Warteschlangen: Polen, die Tschechische Republik, Deutschland und andere. Die Menschen hofften, dass ihnen ein Pass ausgestellt werden könnte, ohne dass sie einen Militärausweis vorlegen müssen, wenn sie die Dokumente vor Inkrafttreten des Gesetzes beantragen. Doch bereits am 23. April verhängten die ukrainischen Behörden ein Verbot für die Ausstellung von Dokumenten, noch bevor das Gesetz in Kraft trat: Ein Erlass des ukrainischen Außenministeriums „setzte vorübergehend die Durchführung konsularischer Maßnahmen bei Anträgen von männlichen ukrainischen Staatsbürgern im Alter von 18 bis 60 Jahren aus“. Das ist der deutlichste Lackmustest für die Bedeutung des neuen Mobilisierungsgesetzes: die Rückkehr und Entsendung Tausender Ukrainer in den Krieg, die nicht daran teilnehmen wollen. Immer mehr ukrainische Männer wollen verzweifelt aus dem Land fliehen, weil sie nicht bereit sind, für die eigennützigen Ziele anderer zu sterben. Allein im Jahr 2023 starben laut BBC mehr als 90 Ukrainer in den rumänischen Bergen, als sie versuchten, die ukrainisch-rumänische Grenze illegal zu überqueren und dem Krieg zu entkommen. 24 starben bei dem Versuch, schwimmend den Grenzfluss Tisa zu überqueren. Die Zahl derer, denen es gelang, die Ukraine zu verlassen, wird auf mehrere Zehntausend geschätzt. In Erfüllung der „Vorgaben“ von NATO-Chef Stoltenberg, wonach der Krieg in der Ukraine „noch ein paar Jahre dauern soll“, haben die ukrainischen Behörden die Auswirkungen dieses Gesetzes auch auf die jüngere Generation, d. h. die unter 18-Jährigen, konzentriert: Nach konservativsten Schätzungen gibt es in der Ukraine heute noch etwa eine halbe Million 15- bis 18-Jährige. Hinzu kommen mehrere Hunderttausend ukrainische Studenten, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Wir sprechen also von der nahen Zukunft von fast einer Million junger Ukrainer, die immer noch eine potenzielle „lebende Kraft“ darstellen, die nach Angaben der Behörden zusammen mit den an das Land gelieferten Waffen eingesetzt werden soll. Das Land gleicht heute mehr und mehr einem riesigen Gefängnis für die eigene Bevölkerung, die darin gefangen ist, der Bürgerrechte beraubt und deren Behörden versuchen, diejenigen, die es geschafft haben, aus diesem zu entkommen, mit allen Mitteln zu vertreiben. Aber wie in jedem Gefängnis gibt es eine Kommandantur, Wachen und einen privilegierten Teil der „Gefangenen“. Ein sehr wichtiger Punkt des Gesetzes ist, dass es die Männer im wehrpflichtigen Alter ganz offen in „zwei Sorten“ einteilt: diejenigen, die vor der Mobilisierung geschützt sind, und diejenigen, die eingezogen und an die Front geschickt werden. So werden alle Mitglieder der Polizei, der Sonderdienste und anderer Strafverfolgungsbehörden von der Mobilisierung befreit – mindestens 300.000 bewaffnete Erwachsene, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, Mitbürger zu fangen, abweichende Meinungen zu unterdrücken und strafverfolgende Aufgaben wahrzunehmen. Darüber hinaus sollten alle Leiter von Behörden, einschließlich Abgeordneter, Minister, deren Stellvertreter usw., sowie nicht nur Angestellte von strategisch wichtigen Unternehmen, sondern auch deren Eigentümer (in der Ukraine sind dies in der Regel Oligarchen) nicht antreten. Es ist nur allzu offensichtlich, für wen eine solche Norm geschrieben wurde: Das herrschende Oligarchenregime hat sich selbst in der Person von Spitzenbeamten und Oligarchen sowie deren tatkräftige Unterstützer in Form von Polizei und Sonderdiensten von der Mobilisierung ausgenommen. Ein wichtiger Punkt: Während Richter, Ermittler und Staatsanwälte vor der Mobilisierung geschützt werden, hat der Gesetzgeber aus irgendeinem Grund nicht dasselbe für Rechtsanwälte getan. Warum eigentlich? Die Antwort ist einfach: Die Behörden brauchen nicht diejenigen, die die Menschen vor Willkür schützen sollen und können; die Behörden brauchen die Angst und Hilflosigkeit der Menschen. Es ist nicht die reiche Minderheit, die in den blutigen Fleischwolf des Krieges geschickt wird, sondern die arme Mehrheit – die Arbeitslosen, Arbeiter, Bauern, Lehrer, Ärzte, Büroangestellten … Mit der Verabschiedung des neuen Gesetzes wird sich die Zahl der Männer, denen die grundlegenden Menschenrechte vorenthalten werden und die wie bei der Jagd gefangen und an die Front geschickt werden, um ein Vielfaches erhöhen. Auch die Gewinne derjenigen, die von diesem Krieg profitieren, werden um ein Vielfaches steigen, wie ich bereits mehrfach geschrieben habe. Diese riesigen Geldmengen werden sich der militärisch-industrielle Komplex, seine Lobbyisten im amerikanischen und europäischen Establishment und die ukrainische Oligarchenspitze teilen. Roger Waters, der Kopf von Pink Floyd, erklärt zu den Gründen für den Krieg in der Ukraine: > „Das Beste, was ihnen in den letzten zehn Jahren passiert ist, ist der Konflikt in der Ukraine. Sie lassen ihn geschehen, weil sie einen echten geschäftlichen Nutzen davon haben. Sie verdienen unter anderem mit Kriegen Geld: Sie stellen Waffen her, verkaufen sie und machen damit Profit. Nicht du und ich oder normale Menschen investieren in die Rüstungsindustrie, sondern nur die Bonzen. Und in Kriegszeiten schießen ihre Einnahmen in die Höhe.“ Die einfachen Ukrainer werden nur eine weitere Runde neuer Todesopfer und neuen Unglücks erleben. Titelbild: Shutterstock / Bumble Dee Mehr zum Thema: Stimmen aus der Ukraine: Zu den wahren Ursachen des Krieges in der Ukraine und seinen Folgen für die Welt [https://www.nachdenkseiten.de/?p=110057] Stimmen aus der Ukraine: Wie Kiew jeden Kritiker zum Staatsverräter erklärt [https://www.nachdenkseiten.de/?p=103469] Stimmen aus der Ukraine: Die Mobilisierungsmethoden erinnern an Menschenjagd [https://www.nachdenkseiten.de/?p=100861] Stimmen aus der Ukraine: Die Zukunft der Linken [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113280] Verfolgung von Oppositionellen in der Ukraine: Maxim Goldarb und die Haltung der Bundesregierung [https://www.nachdenkseiten.de/?p=106483] [https://vg01.met.vgwort.de/na/a9ed77ebb4c549e8b8141933e314e534]
04. mai 2024 - 11 min
episode „Tagesspiegel“: Ohne Waffenlieferungen droht der dritte Weltkrieg artwork
„Tagesspiegel“: Ohne Waffenlieferungen droht der dritte Weltkrieg
Keine Waffen in die Ukraine zu liefern, würde heißen, den dritten Weltkrieg herbeizuführen – so lässt sich der Tenor eines aktuellen Beitrags im Tagesspiegel verstehen. Der Kommentar bietet den Lesern einen bemerkenswerten Einblick in die Geisteshaltung eines transatlantischen Milieus, wo das Feindbild Russland in Stahlbeton verewigt wurde. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Ich glaube, es ist verlockend, wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel wäre.“ Dieses Zitat stammt [https://de.wikipedia.org/wiki/Law_of_the_Instrument] von dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow. Es lässt sich gut auf den Artikel des Tagesspiegel-Korrespondenten übertragen. Verfasst hat den Artikel im Tagesspiegel, der unter der Überschrift „Mörderischer Mangel an Ukraine-Unterstützung: Scholz’ Zögern droht zum direkten Krieg mit Russland zu führen“ [https://www.tagesspiegel.de/internationales/mangelnde-unterstutzung-der-ukraine-viel-gewollt-und-am-ende-verloren-11598644.html] läuft, Christoph von Marschall, „diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion“ [https://www.tagesspiegel.de/autoren/christoph-von-marschall]. Hat jemand erstmal ein Feindbild verinnerlicht, dann führt der Weg nur noch in eine Denkrichtung. So wie der Mann mit dem Hammer auf alles haut, als sei es ein Nagel, so „hämmert“ von Marschall unentwegt, Zeile für Zeile, auf das in Stahlbeton verewigte Feindbild Russland ein. Es bedarf keiner Fantasie, um zu hören, wie Marschall beim Verfassen des Textes zu sich in Gedanken sagt: „Russland muss gestoppt werden. Russland muss gestoppt werden. Russland muss gestoppt werden.“ Wer in einer Sinn-Enklave, in der derartige Überzeugungen die alles bestimmende Denkrichtung sind, um Perspektivierung bittet, kann nur auf taube Ohren stoßen. Wie soll man in eine Diskussion mit jemandem eintreten, der Folgendes schreibt: > „Europa ist in einer ähnlichen Lage wie 1938. Damals gab der Westen die Tschechoslowakei preis – in der Hoffnung, den Frieden zu retten.“ Das schreibt von Marschall. Und das ist nicht ironisch gemeint. Das ist nicht als extreme Zuspitzung zu verstehen. Der Text, so präsentiert er sich, will seine Kraft aus dem klaren, analytischen Blick eines Kommentators ziehen. Dass das Zitat impliziert, Putin sei letztlich Hitler ähnlich, dokumentiert den Sinnbruch: Wäre Putin Hitler ähnlich und hätte entsprechende Allmachtsfantasien – der herbeifantasierte Angriff auf NATO-Staaten würde in einem Atomkrieg enden. Mit verheerenden Konsequenzen für alle Beteiligten. Von Marschall merkt nicht, wie er sich selbst widerspricht: „Wer mag noch darauf vertrauen, dass Putin in der Ukraine stoppt (…)?“, fragt der Redakteur und impliziert damit, dass Russland NATO-Staaten angreift. Ein paar Absätze zuvor stellte von Marschall noch fest, dass „Russland dem Westen wirtschaftlich und technisch weit unterlegen ist und der Nato militärisch“. Ein Land, dass also „wirtschaftlich“, „technisch“ und auch noch „militärisch“ unterlegen ist, soll also mit aller Gewalt gestoppt werden, weil es sonst immer weitere Länder angreift und den dritten Weltkrieg nicht scheut? Wie gesagt: Da ist ein Feindbild. Da ist ein Hammer. Da ist Stahlbeton. Und so schwingen in dem Beitrag Sinn- und Logikbrüche vor und zurück. Das auf diesem Boden der politischen „Analyse“ von Marschall gleich drei Mal im Hinblick auf Kriege von „gewinnen“ spricht, ist ein beeindruckendes Zeugnis der Verblendung. Wie oft muss man es noch sagen? Kriege werden nicht „gewonnen“. Wenn hunderttausende Söhne und Töchter mit ihrem Gesicht im Sand verreckt, verletzt, verstümmelt und für den Rest ihres Lebens traumatisiert sind [https://multipolar-magazin.de/meldungen/0008], dann trauen sich nur noch Diplomzyniker, beschönigend von einem „Gewinnen“ zu sprechen. In der Sinnwelt des Artikels ist es nur konsequent, dass von Marschall in Bundeskanzler Olaf Scholz das Problem sieht. Der Redakteur nennt Scholz einen „Zauderer“, weil der Kanzler nicht schnell genug Kriegsmaterial an die Ukraine liefert. Scholz gehe „als der Kanzler in die Geschichte ein, der den direkten Krieg gegen Russland durch weise Zurückhaltung verhindern wollte, ihn aber durch sein Zögern mit herbeigeführt hat“. Mit diesen Worten endet der Beitrag. So schnell kann das gehen. Zugleich rückblickend aus der Zukunft in die Vergangenheit und die Zukunftsgegenwart schauen, wo Weltkrieg Nummer drei bereits am Laufen ist. Auf dem Portal X (früher Twitter) merkt ein Nutzer zu diesem Zitat an [https://twitter.com/AwivaNews/status/1786070371860467730]: > „Mit Verlaub – ausgemachter Unsinn. Völlig unlogisch! Wenn Scholz tatsächlich einen direkten Krieg mit Russland herbeiführen würde, gäbe es keine Geschichte mehr, in die er eingehen könnte.“ Titelbild: Kastoluza / Shutterstock [http://vg02.met.vgwort.de/na/390bd72abfc54371add034b450fb9a78]
03. mai 2024 - 5 min
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Saskia Esken: pseudo-linke Pöbeleien
SPD-Chefin Saskia Esken hat einen direkten Vergleich zwischen AfD und Joseph Goebbels gezogen und gesagt, dass die AfD eine „Nazi-Partei“ sei. Solche Zuspitzungen gehören sich nicht und sie sind politisch kontraproduktiv. Hier soll nicht die AfD verteidigt werden, sondern eine gesittete politische Debatte. Der Verweis auf verbale Ausfälle von AfD-Personal gilt hier nicht als Rechtfertigung: Schließlich sehen sich die Kritiker als „die Guten“ – und damit entstehen andere Verpflichtungen zur Versachlichung der Diskussionen. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. SPD-Chefin Saskia Esken hat in einer österreichischen Nachrichtensendung einen Vergleich zwischen der AfD und NS-Propagandaminister Joseph Goebbels gezogen, wie Medien berichten [https://www.welt.de/politik/deutschland/article251326688/Saskia-Esken-Vergleichen-Sie-jetzt-die-AfD-mit-Goebbels-Ja.html]. „Goebbels hat 1935 eine Rede gehalten über die Dummheit der Demokratie, denn die habe der NSDAP damals alle Mittel an die Hand gegeben, um sie selbst abzuschaffen“, sagte Esken einem Interview mit der österreichischen Nachrichtensendung ZIB 2. „Wir werden nicht bereit sein, der AfD die Mittel an die Hand zu geben, die Demokratie abzuschaffen.“ Laut den Berichten hakte Moderator Armin Wolf nach: „Da vergleichen Sie jetzt die AfD mit Goebbels?“ Esken antwortete ohne Zögern: „Ja. Das ist eine Nazi-Partei.“ Wolf: „Finden Sie das nicht maßlos übertrieben?“ Esken: „Nein.“ Das völkische Denken sei vergleichbar, ebenso die Bestrebung, die Demokratie zu untergraben. In der AfD seien zudem „menschenfeindliche Haltungen gegenüber allen möglichen Gruppen in unserer Gesellschaft“ vorhanden, so Esken. „Das sind ernsthafte Gefahren für unsere Demokratie, die wir abzuwimmeln haben.“ Hier gibt es einen kurzen Ausschnitt aus der Szene: > „Vergleichen Sie jetzt die AfD mit Goebbels?“ > > Saskia Esken: „Ja!“ pic.twitter.com/XO19RWOuV2 [https://t.co/XO19RWOuV2] > > — Argo Nerd (@argonerd) May 2, 2024 [https://twitter.com/argonerd/status/1785966617954021686?ref_src=twsrc%5Etfw] Esken stellt mit diesem Auftritt zahlreiche Bürger direkt in eine Reihe mit Joseph Goebbels. Die Äußerung rutscht ihr auch nicht raus, sie kommt mit voller Überzeugung. Ist dieses Vorgehen ein Akt der Verzweiflung, um der SPD wenigstens irgendeine Aufmerksamkeit zu sichern? Dann wäre die Partei meiner Meinung nach schlecht beraten, denn Auftritte mit solcher moralischer Arroganz schaden der SPD, vor allem wenn gleichzeitig das eigene Erbe der Entspannungspolitik über Bord geworfen wird. Es ist auch ein Phänomen, dass immer wieder (zu Recht!) eine „sachliche Auseinandersetzung“ mit der AfD eingefordert wird, dass dann jedoch diese Sachlichkeit unter Emotionen und völlig übertriebenen Vergleichen begraben wird. Erst „Covidioten“ und jetzt „Goebbels“ Die AfD ist für mich keine politische Alternative, das haben die NachDenkSeiten in zahlreichen Artikeln beschrieben [https://www.nachdenkseiten.de/?p=101632]. Darum wird mit diesem Artikel auch nicht die AfD verteidigt, sondern ein gesitteter Diskurs, der nicht durch sprachliche Tabubrüche zugespitzt werden sollte. Der Verweis auf verbale Ausfälle von AfD-Politikern oder -Anhängern gilt hier nicht als Rechtfertigung: Man sieht sich selber schließlich als „die Guten“, daraus erwachsen dann natürlich andere Verpflichtungen, den Diskurs nicht „von oben“ zu vergiften. Esken ist schon öfter aufgefallen mit Bürgerbeschimpfung. So hatte sie etwa in einem skandalösen Tweet Andersdenkende bezüglich der Corona-Politik als „Covidioten“, also indirekt als Schwachsinnige, bezeichnet, um die Argumente dieser Gruppe zu entwerten. Juristisch hatte das kein Nachspiel [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/saskia-esken-darf-demonstranten-covidioten-nennen-a-c697ef3d-d04b-41f4-a8b4-d2f350fa7138] für die SPD-Chefin. Gleichzeitig wurden aber Bürger juristisch verfolgt [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/justiz-geht-gegen-holocaust-relativierung-bei-corona-demos-vor-a-d1436750-c0a5-4eac-9b94-ef82eefe0c60], weil sie die in ihren Augen totalitären Tendenzen der Corona-Politik mit den Anfängen eines neuen Faschismus verglichen hatten. Ich finde beide Vergleiche nicht gut. Gleichzeitig finde ich, dass die Justiz vielleicht zurückhaltender auf den Vorwurf der Nazi-Relativierung reagieren könnte (kommt auf den Einzelfall an). Wiederum gleichzeitig ist aber das Messen mit zweierlei Maß bei den Corona-Kritikern einerseits und bei der SPD-Vorsitzenden andererseits völlig inakzeptabel. Es ist immer wieder zu betonen: „Hasssprache von oben“ richtet meiner Meinung nach viel mehr Schaden an als radikale Bürgerkommentare im Internet oder rüpelhaftes Bürgerverhalten bei Demos. Ich lehne im Sinne einer sachlichen Debatte zwar beides ab, aber Politiker und Journalisten großer Medien haben eine erheblich größere Verpflichtung, zu einem zurückhaltenden Diskurs beizutragen. Titelbild: Screenshot/ZIB2 Mehr zum Thema: AfD-Verbotsdebatte – kontraproduktiv und gefährlich [https://www.nachdenkseiten.de/?p=109603] AfD – Keine Alternative für Deutschland [https://www.nachdenkseiten.de/?p=101632] „Landesverräter“ rufen „Haltet den Dieb!“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=114587] Die Ampel muss weg? Ja! Und dann? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=109972] Satire: Grünen-Verbot: Die Debatte wird lauter – Aber die Hürden liegen hoch [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113940] [https://vg02.met.vgwort.de/na/5cf0d2423b9d4df6b3e8111fc64ba2c0]
03. mai 2024 - 4 min
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Russlands Botschafter: „Nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft denken“
An die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges erinnert der Botschafter Russlands in Deutschland, Sergej J. Netschajew, im Interview. Davon haben nicht nur beide Länder, sondern auch ganz Europa profitiert, sagt er. Mit Blick auf die heutige Situation betont er: „Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein.“ Der Botschafter äußert sich zu den Ursachen und den Folgen – und über den Kontakt zu einfachen Bürgern Deutschlands. Mit ihm sprachen Éva Péli und Tilo Gräser. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Herr Botschafter, wie ist es als Botschafter in einem Land, dessen führende Vertreter ebenso wie jene von EU und NATO Ihr Heimatland ruinieren wollen, sich im Krieg mit diesem sehen und es besiegen wollen, auf ukrainischem Boden und wahrscheinlich nicht nur dort? Ihr Außenminister Sergej Lawrow hat kürzlich über Informationen gesprochen, nach denen es EU-Diplomaten untersagt ist, Kontakt mit russischen Diplomaten bei Veranstaltungen, bei Kongressen, Treffen und anderem zu haben. Sergej J. Netschajew: Wir arbeiten unter den Bedingungen, die der Aufnahmestaat für uns schafft. Ich stimme schon zu, dass diese aktuell nicht gerade die günstigsten sind. Es findet kein politischer Dialog statt, alle wichtigen Kooperationsformate liegen auf Betreiben der deutschen Seite auf Eis. Das ist zu bedauern, denn wir haben in den Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in den 90er, in den Nullerjahren ein uniques, ein einzigartiges Netzwerk mit Deutschland aufgebaut. Absolut unique, kann ich offen sagen. Ich glaube, mit sehr wenigen anderen westlichen Ländern hatten wir so tiefgreifende, profunde Kontakte zum beiderseitigen Nutzen in allen möglichen Feldern. Praktisch überall gab es diese strategische Partnerschaft, wie wir das alles in den entsprechenden Vereinbarungen festgezurrt und verankert haben. Das funktionierte und war pragmatisch zum beiderseitigen Nutzen. Davon profitierten nicht nur Russland und Deutschland, sondern das ganze Europa. Dennoch versuchen wir, unser Land würdevoll zu vertreten. Unsere Aufgaben bleiben unverändert. Es gilt, die Interessen der in Deutschland lebenden russischen Staatsbürger zu schützen und angemessen auf die Gegebenheiten hierzulande zu reagieren. Wir versuchen, die russische Position gegenüber denjenigen deutlich zu machen, die bereit sind, diese zu hören und aufzunehmen. Von ihnen gibt es in Deutschland übrigens recht viele. Warum hat sich dieses einzigartige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland seit Jahren bereits so verschlechtert? Viele im Westen geben Russland dafür die Schuld und erklären, Moskau habe die Gesprächsangebote nicht angenommen. Das war schon in den Jahren vor der jetzigen zugespitzten Situation zu hören und zu lesen. Warum und wann hat die Eiszeit angefangen? Netschajew: Nach dem Ende des Kalten Krieges waren viele im Westen der Auffassung, Russland habe verloren. Es hieß, von nun an brauche man keine Rücksicht mehr auf Russlands Interessen zu nehmen. Der Westen glaubte, unserem Land diktieren zu können, wo es langgehen sollte. Wir hingegen haben in dieser neuen Situation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs enorme Möglichkeiten gesehen, auf unsere gestrigen geopolitischen und ideologischen Gegner zuzugehen. Mein Land zeigte sich absolut offen und bereit, die Beziehungen nach außen in jedweder Hinsicht auszubauen. Aber dieses Zugehen war nicht gegenseitig. Irgendwann wurde klar, dass man doch nicht bereit war, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Gleichwohl konnten meiner Meinung nach gerade mit Deutschland pragmatische Beziehungen aufgebaut werden. Die Amtszeiten von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel standen ganz im Zeichen einer fortschreitenden Zusammenarbeit in den Bereichen Handel und Wirtschaft, Energie und Investitionen, Wissenschaft und Kultur, interparlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Dialog sowie Jugendaustausch. All das lag im Interesse beider Länder und ganz Europas. Leider hat sich Deutschland zu einem gewissen Zeitpunkt entschieden, seine nationalen Interessen der politischen Großwetterlage zu opfern. Wir haben den Deutschen überhaupt nichts angetan. Mehr noch: Aus meiner Sicht war das Werden der politischen und der wirtschaftlichen, europäischen Großmacht Deutschland eng und sehr tief mit den Beziehungen zu Russland verbunden. Wirtschaftlich war Deutschland bis 2013 unser Handelspartner Nummer 1 mit 80 Milliarden Euro Warenumsatz. Politisch war es eine Brücke zwischen Ost und West und funktionierte als guter Makler. Das brachte Deutschland politische Größe und politisches Ansehen, und auch die führende Rolle in der Europäischen Union. Alle Türen in Russland waren offen für Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den 70er Jahren und bis zur letzten Zeit basierte auf den guten und gewissenhaften Lieferungen unserer Energieträger – zum guten Freundschaftspreis. Das war stabil in guten Mengen. Wir haben nichts gestoppt. Wir haben von uns aus nichts auf Eis gelegt. Wir haben kein einziges der rund 6.300 deutschen Unternehmen, die in Russland bis 2022 aktiv waren, vertrieben. Wo kam aber der Wandel her? Manche sagen, das fing 2008 an, als Bundeskanzlerin Angela Merkel begann, von Werten in der Politik zu reden. Netschajew: Auch damals hatten wir gut miteinander eine gemeinsame Sprache gefunden. Wir haben auch früher verschiedene Vorschläge für die europäische Sicherheitsarchitektur gemacht. Wir waren sehr skeptisch, was die Osterweiterung der NATO betrifft. Es gab die Versprechen, dass die NATO keinen Zentimeter nach Osten geht. Das ist heute kein Geheimnis mehr. Das steht schwarz auf weiß in verschiedenen Gesprächsvermerken aus der Zeit und in einigen Artikeln von führenden Politikern der damaligen westlichen Welt. Aber dann haben wir gesehen, dass die NATO immer näher an unsere Grenzen kommt. Es geht nicht um die einfache Mitgliedschaft, sondern um die Stationierung der entsprechenden militärischen Infrastruktur. Das war schon nicht akzeptabel für uns. Da mussten wir uns Gedanken machen, wie wir reagieren sollen. Das hat Präsident Wladimir Putin damals 2007 in München in entsprechender Weise erläutert. Wir haben gesagt, das kommt nicht überein mit der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, die wir gemeinsam bauen wollten. Das alles wurde vom Westen verworfen. Da waren wir natürlich sehr skeptisch. Man kann uns nicht so behandeln, als ob wir die Looser des Kalten Krieges waren und dass man uns alles diktieren kann, wie wir uns benehmen müssen. Wie wir behandelt wurden, war für unser Verständnis ungerecht und widersprach unseren Vorstellungen über das Zusammenwachsen in Europa, über die Partnerschaft und über die strategischen Aussichten für die Zukunft. Ich glaube, diese Annäherung zwischen Russland und Europa brachte nicht allen ein Vergnügen. Bei alldem spielen ja auch die USA eine Rolle … Netschajew: Anscheinend betrachteten die USA diese wachsende Kompatibilität zwischen Russland und Westeuropa als eine Gefahr für die amerikanischen Interessen. Das war ein riesiges Konkurrenzzentrum, wirtschaftlich, technologisch, bei den Energieträgern und angesichts gemeinsamer Projekte auch in der Wirtschaft und Wissenschaft. Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 gilt als Einschnitt. Deutsche Politik und Medien lassen bis heute die Vorgeschichte weg. Wie hätte das, was zu einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland auf ukrainischem Boden wurde, verhindert werden können? Der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa schrieb kürzlich vom wahrscheinlich „vermeidbarsten Krieg in der Geschichte“. Netschajew: Jeder geopolitische Zug ergibt sich wie in einer Schachpartie aus der jeweils vorangehenden Position. Die Entwicklungen der Vergangenheit zu vergessen beziehungsweise zu versuchen, diese zu verdrängen, ist zumindest kontraproduktiv. Von Anfang an formte der Westen aus der Ukraine eine Art Gegengewicht zum zunehmenden Einfluss Russlands. Mit Hilfe der „Farbrevolutionen“ wurden antirussische Marionetten-Politiker an die Macht geführt, deren Aufgabe es war, die engen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie den Kultur- und zwischenmenschlichen Austausch zwischen Russland und der Ukraine zu untergraben. Es wurden nationalistisch orientierte Eliten in der Ukraine hochgepäppelt. Es wurde mit Nachdruck auf eine Annäherung der Ukraine an die NATO und auf den Beitritt der Ukraine zu diesem aggressiven Militärbündnis hingearbeitet. Ultimativ wurde Kiew vor ein Entweder-Oder gestellt: Eine Hinwendung zum Westen schloss jeden Austausch mit Russland aus. Nach dem von den Amerikanern finanzierten Maidan und dem blutigen Staatsstreich vom Februar 2014 hat die Ukraine endgültig den Weg einer militanten Russophobie betreten. Seitdem werden alle, die die Beziehungen zu Russland zu erhalten wünschten – auf der Krim, im Donbass und überall – hart unterdrückt. Die Bilanz dieser unfähigen Politik ist hinlänglich bekannt. Die Tragik besteht auch darin, dass die in der Ukraine erstarkenden neonazistischen Tendenzen, das sogenannte Banderatum, von den westlichen Regierungen nicht verurteilt wurden und sich als ideologische Normalität des Regimes in Kiew etablieren konnten. Der ukrainische Politikwissenschaftler Konstantin Bondarenko, Leiter der Stiftung Ukrainskaya Politika, hat in einem Interview mit dem ungarischen Portal Moszkvater gesagt [https://www.nachdenkseiten.de/?p=112337]: Im Jahr 2014 „begann die tatsächliche und effektive Kolonisierung der Ukraine. Die westlichen Institutionen haben im Wesentlichen die Kontrolle über die Ukraine übernommen.“ Wie würden Sie das einschätzen? Netschajew: Ich würde im Großen und Ganzen diesen Gedanken unterstützen. Die Ukraine ist heute leider nicht mehr selbstständig und ist an das Geld und an die Waffenlieferungen aus dem Westen total gebunden. Auch an die verschiedenen Ratschläge, wie sie bis zum letzten Ukrainer kämpfen sollen. Es gibt in keiner Hinsicht eine Selbstständigkeit der Ukraine. In Deutschland erklären Politiker auch der SPD, Frieden gebe es nur noch gegen Russland. Die einstige Ostpolitik, für die Willy Brandt, Egon Bahr und andere standen, wird als „Fehler“ behandelt und beiseite geschoben. Ex-Kanzler Helmut Schmidt schrieb noch 2008 in seinem Buch „Außer Dienst – Eine Bilanz“: „Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen.“ Kann ein Botschafter einer offensichtlich feindlich eingestellten Außenministerin die „kalte Schulter“ zeigen? Netschajew: Auch in Deutschland hat sich in vieler Hinsicht ein Elitenwechsel vollzogen. Die heutigen Politiker erinnern sich immer seltener an die Zeit, da Millionen Sowjetsoldaten um den Preis des eigenen Lebens Deutschland und Europa vom Nationalsozialismus befreiten, das russische und das deutsche Volk sich nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung reichten und aus unversöhnlichen Feinden Partner und gar Freunde werden konnten. Die historische Verantwortung Berlins gilt heute der Schoah, aber nicht den Millionen von Sowjetbürgern, die in einem grauenhaften Vernichtungskrieg dem Völkermord zum Opfer fielen. Die Ostpolitik ist als fehlerhaft verworfen worden. Es ist mittlerweile verpönt, an den entscheidenden Beitrag der UdSSR zur Deutschen Einheit zu erinnern. Vieles hat man schlichtweg dem Vergessen anheimfallen lassen. Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein. Zumindest gilt das für einen Teil des politischen Establishments. Die öffentlichen Auslassungen, man müsse sich auf einen Krieg gegen Russland vorbereiten, sowie die Aufrufe, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, seine Wirtschaft zu zerfetzen und seine Bevölkerung durch immer neue Sanktionspakete leiden zu lassen – all das klingt barbarisch und ist mir unerklärlich. Russland hat Deutschland keinen Schaden zugefügt, wollte es nie und will es nicht tun. Dass unsere Beziehungen dort sind, wo sie gerade sind, ist einzig und allein die Verantwortung der politischen Führung dieses Landes. Ich bezweifle, dass die «Zeitenwende» Deutschland zum unabhängigen Wohlstand und Erfolg führen kann. Was unsere Kontakte mit dem Auswärtigen Amt anbelangt, so finden sie recht regelmäßig statt, auch wenn der Austausch auf Arbeitsebene auf ein Minimum reduziert ist. Leider sind die Anlässe zu den Gesprächen mit den Kollegen nicht immer die angenehmsten. Nichtsdestoweniger besteht unsere wichtigste Aufgabe aus meiner Sicht darin, den Dialogfaden nicht endgültig abreißen zu lassen und nach Möglichkeit zur Lösung der auftretenden Probleme beizutragen. Zumal es in Deutschland eine recht zahlreiche russische Diaspora gibt. Ich bin sicher, dass Emotionen nicht vor Professionalität gehen dürfen. Sie haben sich im Februar gegenüber einer deutschen Zeitung für Verhandlungen ausgesprochen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wie können die möglich sein angesichts des westlichen Wunsches, Russland ruinieren und besiegen zu wollen? Netschajew: Jeder Konflikt endet früher oder später mit Verhandlungen. Wie Präsident Wladimir Putin mehrmals betonte, haben wir uns niemals Gesprächen verweigert. Mehr noch, der Entwurf eines Friedensabkommens mit der Ukraine, das den Interessen beider Seiten entsprach, wurde bereits im Frühjahr 2022 ausgehandelt und lag zur Unterschrift bereit. Eine friedliche Lösung war aber nicht Teil der westlichen Planung. Hört man sich deutsche Politiker an, die zur Aufrüstung der Ukraine nach dem Motto „so lange wie nötig“ aufrufen, ist es auch heute noch so. Darüber hinaus hat Wladimir Selenskij sich selbst per Gesetz verboten, Gespräche mit der russischen Seite zu führen und die Situation damit in eine Sackgasse geführt. „Friedenskonferenzen“ unter Ausschluss Russlands und ohne Berücksichtigung unserer Interessen sind nichts anders als sinnloses politisches Spektakel. Wir schätzen zum Beispiel sehr die Initiativen von unseren chinesischen Freunden, ebenfalls Initiativen von afrikanischen Freunden, auch aus Brasilien. Wichtig ist, dass unsere Sicherheitsinteressen in diesen Entwürfen ebenfalls berücksichtigt werden. Das ist das Wichtigste, sozusagen ein Junktim. Ohne die Berücksichtigung unserer Interessen ergibt es keinen Sinn, zu reden. Friedensinitiativen aus dem Westen habe ich bis jetzt noch nicht gesehen. Auch nicht aus Berlin, der „Stadt des Friedens“? Netschajew: Nein, auch nicht aus Berlin. Es tut mir wirklich sehr leid, was ich jetzt aus Berlin höre, von noch mehr Waffenlieferungen, weiteren Sanktionen, dem Raub unserer Vermögenswerte im Westen. Das war, ehrlich gesagt, ein schwerer Fehler unserer deutschen Kollegen, die letalen Waffen in die Ukraine zu liefern, mit denen Russen getötet werden. Das frischt einige historische Reminiszenzen auf, die wir nie vergessen. Das produziert eine klare Stimmung in Russland. Den Weg der russisch-deutschen historischen Aussöhnung fördert das ganz bestimmt nicht. Wir haben diesen Weg nach dem Zweiten Weltkrieg geebnet, von beiden Seiten, Russen und Deutsche. Jetzt, im Zuge dieser „Zeitenwende“, höre ich in Berlin: „Wir müssen uns auf den Krieg vorbereiten, der unbedingt in ein paar Jahren nach Deutschland kommt“. Die Bundeswehr ist an unserer Grenze, die endlosen Militärmanöver an unseren Grenzen, das ist natürlich für das gute Verhältnis kaum förderlich. Deutschland und Russland verschwinden nicht aus Europa, auch in Jahrzehnten nicht. Da müssen wir natürlich an unsere gemeinsame Geschichte denken, und nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft. Sie waren ja schon zu DDR-Zeiten hier in Berlin, als junger Diplomat. Das war die Zeit des Kalten Krieges. Da gab es eine ernste Konfrontation, auch Angst vor einem Atomkrieg. Ist das für Sie vergleichbar? War es schlimmer? Ist es heute schlimmer? Netschajew: Ich würde sagen, heute ist es schlimmer. Jetzt sind die Akzente, würde ich sagen, ein bisschen anders. Russland wird von den westlichen Staaten total diskriminiert und unter Druck gesetzt. Mehr noch, es wird versucht, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, unsere Wirtschaft zu ruinieren. So etwas gab es damals nicht. Es gab damals, in der Zeit des Kalten Krieges, vernünftige Stimmen, die Sie vorhin zitiert haben, wie Egon Bahr. Die höre ich heute leider von den hohen Politikern nicht mehr. Wie erfahren Sie von Persönlichkeiten wie Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat, Ex-UN-Diplomat Michael von der Schulenburg, Oskar Lafontaine und anderen, die sich für Frieden aussprechen? Was halten Sie davon? Netschajew: Wir verfolgen die innerdeutsche Debatte zur ukrainischen Problematik sehr aufmerksam. Wir wissen, dass sich immer mehr Politiker und Experten auch mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen an der militärischen Kontaktlinie realistisch zeigen und der Bundesregierung vorschlagen, über eine politische Lösung nachzudenken. Gleichzeitig stellen wir fest, dass Berlin noch nicht bereit ist, auf seine Dogmen zu verzichten. Die deutsche Führung setzt weiterhin auf immer neue Lieferungen von Waffen und Militärtechnik an Kiew. Wie erleben Sie Deutschland heute, auch mit Blick auf die Gesellschaft? Welche Kontakte gibt es noch zur sogenannten Zivilgesellschaft, zu den normalen Bürgern? Sie haben kürzlich bei einem Konzert im Russischen Haus auf die wichtige Rolle der Kultur für den Frieden und die Völkerverständigung hingewiesen. Wie ist das heute möglich? Netschajew: Wie ich bereits gesagt habe, bemühen wir uns, wo immer möglich, positive Ansätze zu erhalten. Das gilt beispielsweise für die Bereiche Kunst und Kultur, zwischenmenschlicher Austausch sowie Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit. Wir kommen auch mit einfachen deutschen Bürgern ins Gespräch, von denen viele mit dem heutigen Zustand der russisch-deutschen Beziehungen gelinde gesagt nicht zufrieden sind. Wir versuchen, sie mit der russischen Position und der russischen Sichtweise auf die aktuellen Probleme der Gegenwart zu erreichen. Auch mit Ihrer Hilfe. Mit den einfachen Bürgern sprechen wir absolut offen. Vor wenigen Tagen waren wir in Seelow zur Kranzniederlegung. Auf den Seelower Höhen begann die Berliner Operation der sowjetischen Armee, die die letzten Tage des Großen Vaterländischen Krieges einleitete. Ich war wirklich sehr erstaunt und sehr begeistert, dass viele einfache Deutsche gekommen waren, um die sowjetischen Soldaten zu ehren. Das war wirklich für mich eine große und angenehme Überraschung. Da gab es auch polnische Staatsbürger, die gekommen waren. Mit den einfachen Bürgern Deutschlands und auch Polens haben wir wirklich immer noch gute Kontakte. Das wissen wir auch zu schätzen. Ich habe die Kriegsgräberfürsorge erwähnt. Da sehen wir ständig, wie entgegenkommend die einfachen Deutschen sind. Es tut mir wirklich leid, dass diese guten Stimmen nicht mehr so gehört werden. Schade, denn wir haben mit Deutschland wirklich sehr viel Gemeinsames. Was die Kultur anbetrifft, ich kenne kein anderes Land in Westeuropa, mit dem wir eine so inhaltsreiche kulturelle Geschichte teilen, in der die beiden Kulturen einander bereichert haben. Ich bin sicher, dass Kultur das ist, was uns natürlich näherbringt. Das ist eine sehr, sehr wichtige Brücke. In Kürze begehen Sie, Ihr Land und seine Bürger wieder den Tag des Sieges über den Faschismus, am 9. Mai. Wie ist das derzeit angemessen möglich? Und was haben Sie als Botschafter und die Botschaft dafür geplant? Und wie steht es um die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden zum Schutz und zur Pflege der sowjetischen Ehrenmäler und Gedenkstätten in Deutschland, die Sie in den letzten Jahren immer wieder lobten? Netschajew: Wir sind den deutschen Kommunen und Gemeinden für den fürsorglichen Umgang mit den sowjetischen Kriegsgräberstätten in Deutschland sehr dankbar. Auch für schnelle Beseitigung von Beschädigungen infolge von Vandalismus, den es leider Gottes auch gibt, danken wir sehr. In diesem Jahr haben wir tatsächlich wieder vor, Kränze und Blumen an zentralen Kriegsgräberstätten und in ehemaligen Nazi-Konzentrationslagern niederzulegen und der Soldaten und Opfer des Nazi-Regimes zu gedenken. Dass der Verwaltung der Gedenkstätten und den Kommunalbehörden eindringlich empfohlen wurde, es nicht zu Begegnungen mit den russischen Vertretern kommen zu lassen, ist bedauernswert. Wir hoffen, dass sich diese Haltung früher oder später ändert. Titelbild: © Tilo Gräser
03. mai 2024 - 19 min

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