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Abgelatscht und durchgestiefelt – diese Boots haben definitiv etliche Meilen auf dem Buckel: ein Paar schwarze Halbstiefel, die gesamte Fußpartie von den Zehen bis zur Ferse mit silbernem Gaffa-Tape umwickelt. Beim Anblick ihrer Schuhe, „dieser guten Kerle“, schreibt die Schriftstellerin und Lyrikerin Ann Cotten: „Vielleicht waren es meine ersten Schlüpfstiefel, ich war lange ein Schnürsenkelfascho, Klettverschluss ging wegen Ironie, aber seitliche Zippverschlüsse gingen mir nicht ein, ein No-Go. Aber das unglaublich zarte, weiche Leder dieser Stiefel, in denen ich mir wie ein verkommener Prinz vorkam, war, als schlotterten mir Alienwangen an den Knöcheln. Umso härter wurden sie rangenommen. Schon längst kein schöner Anblick mehr, aber immer noch die guten alten Handschuhe für den Fuß, wurden sie auf Reisen ad hoc geflickt, als sie auseinanderzufallen drohten, und vergnüglich so belassen.“ DER KOCHTOPF VON CLEMENS SETZ Jetzt liegen die Stiefel, die gut als Requisite für einen nächsten Blade-Runner-Film herhalten könnten, in einem Schuhkarton im Wohnzimmer von Richard Schumm. Der Literaturwissenschaftler hat ehemals am Deutschen Literaturarchiv in Marbach geforscht. Ebenso wie sein Kollege Martin Frank. Beide hatten immer schon viel Spaß an den Habseligkeiten berühmter Autorinnen und Autoren, die dort in so manchen grauen Archivboxen schlummern. Und dann stolperten sie plötzlich über einen Kochtopf auf dem damaligen Twitter-Account von Schriftsteller Clemens Setz [https://www.swr.de/swrkultur/literatur/clemens-j-setz-das-all-im-eignen-fell-eine-kurze-geschichte-der-twitterpoesie-100.html], „der unterschiedlichste Dinge aus seinem Alltag fotografierte, die als Schreibanlässe gleich wirkten," erzählt Schumm. „Zum Beispiel sein Kochtopf, der auf dem Herd steht, und der auf ihn auf einmal wirkt wie ein Bär. Das notiert er im Jahr 2017. Er schreibt: mein Topf ist ein Bär – was schon wieder so klingt als hätte er das als Anfang genommen für eine Erzählung, die er schreiben könnte im Geiste Kafkas. Das haben wir gesehen und dachten: das ist eigentlich ein großer Kosmos, der gar nicht richtig bedient wird. Der findet nicht statt in der literarischen Öffentlichkeit.“ MEHR ZU CLEMENS SETZ: „EDITION PARATEXTE“ – EIN MAGAZIN FÜR LITERATURDINGE Ein Skandal! Um diese Lücke zu schließen, haben sich die beiden Literaturwissenschaftler auf ein mutiges Verlagsabenteuer eingelassen und die „Edition Paratexte“ gegründet: „Paratexte ist ein literaturwissenschaftlicher Begriff, den Gérard Genette in den 80ern geprägt hat. Eigentlich hat er damit gemeint: was um einen publizierten Text so herumsteht wie die Autorenbiographie auf der Umschlagseite, die Fotografie des Autors, der Autorin. Wir weiten den Begriff aus auf alle möglichen Dinge, die Autorinnen und Autoren rund um ihr Schreiben noch so benutzen. Der Kontext des Schreibens ist uns wichtig. Wir sind daran interessiert, die Werkstatt der Autorinnen und Autoren zu zeigen und einen Einblick zu kriegen in welchem materiellen Kontext entsteht ein Text.“ FLIP FLOPS UND GETAPTE BOOTS – DIE „SCHUE“ VON ANN COTTEN Richard Schumm sortiert den kleinen Stapel Schuhkartons auf seinem Wohnzimmertisch: Ein paar rote Flip Flops, getragen in Westafrika, wie die Autorin vermerkt, ein Paar hellbraune Sommerschuhe aus Neuss und ein Paar fremde Schuhe aus einer Tauschbox in Wien. Auf der Suche nach einem Literaturding für ihre erste Ausgabe der „Edition Paratexte“ haben die beiden Verleger bei Ann Cotten angeklopft, die für ihre Experimentierfreudigkeit bekannt ist. Und so kam zu einer fast schon konspirativen Übergabe: „An einem U-Bahnhof in Neukölln traf ich mich mit einem Mittelsmann. Der übergab mir dann einen Aldi-Tüte. In dieser Aldi-Tüte war eine zweite Aldi-Tüte. Und in dieser Aldi-Tüte befanden sich sieben Paar Schuhe und ein einzelner Schuh.“ PROFILING IN DER SCHUHWERKSTATT Schreiben und gehen sind zwei Disziplinen, die traditionell eine enge Verbindung auszeichnet. Ann Cottens Beziehung zu ihren Tretern scheint unter die Rubrik „rau, aber herzlich“ zu fallen und weckt damit durchaus das Interesse des in Stuttgart fast schon legendären Schuhmachermeisters Jaekel. Nach einer sorgfältigen Untersuchung der Schuh-Collection kommt der Meister zu dem Schluss: „Ja, ich würde die gerne kennenlernen. Ich zeig ihr, wie man Schuhe putzt, wie man Schuhe pflegt, Schuhspanner benutzt. Damit sie ihre schönen Schuhe am Ende länger hat. Weil: sie liebt ihre Schuhe. Nur hat sie sie zusammengerissen. Ich würd mal sagen: Sie hat keine Zeit. Sie schiebts einfach raus. Sie weiß genau, dass es scheiße ist, was sie macht mit ihren Schuhen. Aber sie schiebts einfach raus und denkt, ja, irgendwann läuft mir ein richtiger Schuhmacher über den Weg. Und dann ist es ihr auch egal, ob sie 50 Euro mehr ausgibt für das ganze Reparaturgedöns. Sie will sie einfach wieder haben. Und das sind genau die Leute, die drei Prozent Menschen, die zum Schuhmacher gehen.“ DEN BLICK AUF „DAS NORMALE“ AUFBRECHEN Der Besuch in der Werkstatt, skizziert in Dialogform gepaart mit dem trockenen Humor der beiden Verleger, die, ob der fast schon hellseherischen Fähigkeiten des Schuhmachermeisters, in Gedanken schon an einer neuen Wetten-Dass-Ausgabe basteln, ist nur einer der Highlights in diesem ersten Heft der Edition Paratexte. Der Band entpuppt sich als kleine literarische Wundertüte mit originellen Texten - geistreich, freakig – mit Gedankensplittern, Wortcollagen, Interviews und Gedichten. Es geht um Schuhe als Fetischobjekt, als persönliche Erinnerungsstücke. Der Schriftsteller Eckhart Nickel zum Beispiel steuert ein gesellschaftspolitisches Statement zum Thema Schuhe bei, der Autor und Filmemacher Alexander Kluge ein grafisches Gedicht und einen Essay über den letzten Tag des Philosophen Theodor W. Adorno [https://www.swr.de/swrkultur/literatur/gespraeche-ueber-baeume-gedichte-zur-demokratie-100.html]: „Er fühlte sich schwach, brach Spaziergänge ab. Die NEUEN STIEFEL schienen nicht bequem. Er konnte das für sich als Grund annehmen, den „Dienst“, das heißt den ertüchtigenden Marsch ins Gebirge, für den heutigen Nachmittag hintanzusetzen. Sie bettete ihn in seinem Bett. Den Kriminalroman nahm er an. Als sie eine Stunde später nach ihm sah, war er tot.“ MEHR NEUE BÜCHER UND LITERATURTHEMEN: PFIFFIGE IDEE MIT VIEL ENTWICKLUNGSPOTENTIAL Mit „Ann Cottens Schuhe“ hat die Edition Paratexte einen gelungenen Auftritt hingelegt und in der pfiffigen Idee steckt noch jede Menge spielerisches Entwicklungspotential. Verleger Richard Schumm inszeniert die Schuhe der Schriftstellerin für ein Porträtfoto, während der Parkettboden seiner Wohnung ächzt und knarrt, als wisse er um durchaus heftigen Wehen bei der Geburt der neuen Stuttgarter Edition. Denn in den Dingen, die die Autorinnen und Autoren aufgefordert sind, beizusteuern, liegt durchaus ein gewisser Sprengstoff. „Wir machen ja keine Vorgaben, was die Dinge angeht, nach denen wir fragen. Wir sind auch darauf gefasst, irgendwann einmal alte Autoreifen zu bekommen. Die Schuhe haben uns natürlich überrascht. Der Gedanke, der uns kam, war: sind wir zu einer Art elaborierte Altkleidertonne oder ist das etwas, was man erst einmal durchdenken muss. Uns kam dann in den Sinn, dass der Schuh bei Heidegger zum Beispiel genau das Objekt ist, das an der Stelle steht zwischen Alltagsgegenstand und Kunstgegenstand. Vielleicht sind wir auch die Altkleidertonne. Das bleibt ein bisschen in der Schwebe. Aber in diesem Fall zeigt sich doch, wie das Material aus dem Schreibkontext noch einmal ganz neu einen Einblick gewährt in das Schreiben und in die Welt der Literatur.“

Carla Mittmann liegt im Bett, als das passiert, was ihr Leben für immer verändern wird. Ein Klirren, ein Poltern und dann liegt ein Stein auf dem Holzboden ihrer Zweizimmerwohnung. Jemand hat ihn durchs Fenster geworfen. Und als Carla die Tür öffnet, steht da ein Karton, randvoll mit Dollarnoten. > Auf dem Kartondeckel klebte ein Foto. Ein schlechter Computerausdruck, eine streifige Aufnahme von Pluto, dem umstrittenen Zwergplaneten. Ich erkannte ihn auf Anhieb, weil sein herzförmiger Krater deutlich zu erkennen war. > > > Quelle: Katja Kullmann – Stars EIN STEIN, EIN KARTON, ZEHN RIESEN Zehntausend US-Dollar zählt Carla in dem seltsamen Karton. Sie hat keine Ahnung, wer ihr Stein und Geld geschickt hat, aber eine Vermutung: Hängt die ganze Aktion irgendwie mit „Cosmic-Charly“ zusammen? Das ist die kleine Horoskop-Website, die sie seit einigen Jahren nebenberuflich betreibt. War vielleicht einer ihrer Kunden mit dem Horoskop, das Carla verkauft hat, nicht zufrieden und hat ihr den Stein in die Wohnung geworfen? Aber warum dann der Karton mit den Dollars? Carla wird nicht schlau aus der Sache, zumal „Cosmic-Charly“ für sie eher ein Hobby war, ihr Geld verdient sie im Kundenservice einer Möbelfirma, Spezialbereich Behördenausstattung, Abteilung Reklamation und Nachbestellung - ein unaufregendes Angestelltendasein. > Eine Übergangslösung hatte es einmal sein sollen, ein temporäres Notfallarrangement, und – nun ja: neun Jahre später hing ich immer noch dort, Frau Mittmann aus dem dritten Stock im Glasanbau, zweite Tür links vom Lift, Durchwahl 347. > > > Quelle: Katja Kullmann – Stars VOM MUMPITZ ZUR BERUFUNG Und dabei hatte Carla mal große Pläne gehabt. Als Philosophiestudentin träumte sie von der akademischen Laufbahn, machte dann einen blöden Fehler und flog von der Uni, und nun ist sie „mittelalt“, kinderlos und nicht unglücklich, aber auch nicht glücklich. Doch der Stein und besonders der Karton mit den Dollars holen Carla aus ihrer Lethargie. Sie beschließt, ernsthaft ins Astrobusiness einzusteigen, nicht mehr als „Cosmic-Charly“, sondern als Carla Mittmann. Und das, obwohl sie gar nicht der spirituelle Typ ist. Astrologie hält sie eigentlich für Mumpitz, findet die Sterndeuterei nur aus soziologischen Gründen interessant. > Ich hing daran, weil ich gerade nicht daran glaubte. Wohl glaubte ich aber, dass der Mumpitz ein Indiz war, ein Beleg für etwas, das sich nur schwer in Worte fassen ließ: ein anschaulicher Gradmesser für den alarmierenden Gemütszustand der Welt. > > > Quelle: Katja Kullmann – Stars Carla deutet den seltsamen Geldsegen als Zeichen – und legt richtig los. Kündigt ihren Langweilerjob, stellt einen Businessplan auf und wird Vollzeitastrologin, nennt sich: Astrophilosophin – Startkapital hat sie ja jetzt. Und der Laden läuft bald hervorragend, denn Carla Mittmann ist gut in dem, was sie macht. Sie verkauft persönliche Beratungsgespräche und weil sie sich die Ängste und Hoffnungen ihrer Kundinnen und Kunden einfühlsam und mit echtem Interesse anhört, wird der Kundenstamm immer größer. EINE PRÄZISE PORTION GESELLSCHAFTSANALYSE Es sind diese Stellen, an denen Katja Kullmanns in erster Linie unterhaltsamer Debütroman besonders stark ist. Katja Kullmanns Heldin hat ein feines Gespür dafür, wonach die Menschen sich sehnen in unserer chaotischen Zeit. In der Erzählung schwingt also auch immer eine gute und präzise Portion Gesellschaftsanalyse mit – Carla hat ein offenes Ohr und astrologische Tipps für alle: Sie steht der reichen Gattin bei ihrer anstehenden Scheidung bei, berät rüstige Rentner bei der Urlaubsplanung und gibt Tipps in Liebesdingen. > „Sie sind dazu geschaffen, auch ohne festen Partner glücklich zu sein, liebe Linda“, sagte ich. „Wenn einer da ist, gut, wenn nicht, auch gut. „Schauen Sie“, ich zog den Ausdruck ihrer Radix aus der Tasche , „Ein prallvolles drittes Haus mit lauter schönen Platzierungen. Sie sind ganz schön beliebt, wette ich." > > Linda blickte auf die Grafik, blinzelte konzentriert und knetete ihre Hände. „Ja, stimmt schon. Bei der Linda ist immer was los, mit der Linda ist es nie langweilig“, sagen sie. > „Und so soll es auch sein“, sagte ich. > > > Quelle: Katja Kullmann – Stars KOSMISCHES COACHING UND DIE FRAGE NACH DEM SINN Carla Mittmann wird zur gefragten Star-Astrologin, tritt in Radio und Fernsehen auf, und ruft für ihre Dienste immer höhere Preise auf, sogar die Regierung berät sie bald in Sternendingen. Und je erfolgreicher ihr Astrobusiness wird, desto mehr glaubt auch Carla an sich, daran, dass die Sterne günstig für sie stehen, dass das Schicksal Großes für sie bereithält. Und sie nutzt ihre neuen Möglichkeiten sogar, um politisch Stellung zu nehmen, findet in ihrer Astrokolumne deutliche Worte zur Weltlage: > In der zweiten Folge widmete ich mich Pluto: nach zwölf Jahren im Steinbock bewegte er sich in den Wassermann. Ein neuer Machttypus breche sich Bahn, schrieb ich, konservative Herrschaftsmodelle würden durch unkonventionelle Muster ersetzt- „siehe Elon Musk“. > > > Quelle: Katja Kullmann – Stars Katja Kullmann erzählt mit leichter Hand, ironischer Distanz und echtem Mitgefühl von einer Frau, die sich neu erfindet und dabei viel über sich und ihre Mitmenschen lernt. Und haben wir uns nicht alle schon mal gefragt, was wohl aus uns geworden wäre, wenn wir bestimmte Abbiegungen im Leben nicht genommen hätten? Sprachlich punktet der Roman mit feinem Timing, präzisen Alltagsbeobachtung und einer Erzählerin, die gleichermaßen nüchtern wie nahbar wirkt. Am Ende offenbart sich zwar keine kosmische Wahrheit, aber vielleicht so etwas wie ein versöhnlicher Blick auf die Umwege, die das Leben manchmal nimmt.

Mit einem „Es war einmal“ beginnen die Märchen in diesem Band schon mal nicht. Nein, Angela Carter wirft uns mitten hinein in ihre dunklen, abgründigen Neuerzählungen. > Mein Vater hat mich beim Kartenspielen an Das Biest verloren. Von den Kerzen tropfte heißes, beißendes Wachs auf meine nackten Schultern. Ich beobachtete das Geschehen mit dem grimmigen Zynismus von Frauen, die durch die Umstände gezwungen sind, still mit anzusehen, wie große Dummheiten begangen werden, während mein Vater, in seiner Verzweiflung durch das Höllenwasser befeuert, das sie hier »Grappa« nennen, sich Spielzug um Spielzug der letzten Reste meines Erbes entledigte. > > > Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer „DIE SCHÖNE UND DAS BIEST“ NEU ERZÄHLT „Die Schöne und das Biest“ – dieses Volksmärchen aus Frankreich erzählt die britische Autorin Angela Carter in zwei Versionen neu. In einer Variante verliert der Vater beim Kartenspiel nicht nur sein ganzes Geld an das Biest, sondern auch seine Tochter. Anders als in der französischen Vorlage gibt sich die Schöne bei Angela Carter nur widerwillig ihrem Schicksal hin und widersetzt sich den Forderungen des Biestes, das hier ein Tiger in einer karnevalesken Verkleidung ist. Nur einen Wunsch hat das Biest: Es möchte die Schöne nackt sehen. Ein Wunsch, über den sie nur abfällig lachen kann. „Sie geht halt genau dahin, wo es wehtut," sagt die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal. „Also, es ist tatsächlich so, die Leute damals haben das gelesen und teilweise gedacht, das können wir jetzt nicht im Radio vorlesen. Das hat sie getroffen, dieses „darf man das schreiben, darf man das sagen?“ Und ich dachte, es ist so viel Zeit vergangen, das wird kein Problem mehr sein. Und ich merke trotzdem, ich lese diese Märchen und denke, hui, das hätte ich mich jetzt nicht getraut, zu schreiben." Sanyal hat das Nachwort zur Neuausgabe von Angela Carters Märchenband „Die blutige Kammer“ geschrieben. 1979 ist es in Großbritannien erschienen und machte Carter schlagartig bekannt. GEWALT UND LUST Dahin gehen, wo es wehtut, bedeutet bei ihr nicht einfach die Gewalt offenzulegen, die in Märchen steckt. Sondern auch die unterdrückte Lust der Heldinnen zu erforschen. Bei ihrer Version von „Die Schöne und das Biest“ verwandelt sich die Schöne am Ende in eine Tigerbraut, die sich lustvoll dem Biest hingibt, und zwar auf ihren eigenen Wunsch hin. > Er hievte sich näher und näher an mich heran, bis ich den rauen Samt seines Hauptes an meiner Hand spürte, dann eine Zunge, spröde wie Sandpapier. Und jeder Strich seiner Zunge riss mir Hautschicht um Hautschicht ab, sämtliche Hautschichten eines irdischen Lebens, und übrig blieb eine wie neugeborene Patina glänzender Haare. Meine Ohrringe wurden wieder zu Wasser und rannen mir die Schultern hinab; ich schüttelte die Tropfen aus meinem schönen Fell. > > > Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer DIE SCHÖNE ENTDECKT DAS BIEST IN SICH „Sie wird am Ende auch zu dem Biest. Das ist ja vorgelegt in der Geschichte und das ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich das gelesen habe, dass die Schöne eben nicht ihren Märchenprinzen bekommt, sondern unter ihrer Haut, unter ihrer, wie so zivilisierten Schicht, liegt aber ihr eigenes Biest. Und das muss freigelegt werden," weiß Sanyal. Die Schichten freilegen, das tut Angela Carter in „Die blutige Kammer“. Darin greift sie Motive aus klassischen europäischen Märchen auf und deutet sie neu – manche sogar mehrfach, wie etwa das „Rotkäppchen“. „Es gibt eine Rotkäppchen-Variation, „Die Gemeinschaft der Wölfe“, wo in dem Moment, in dem das Rotkäppchen die Angst überwindet und sich mit ihrer eigenen auch animalischen Natur verbindet, gibt es eine Verbindung zu diesem Wolf und er wird sie nicht mehr auffressen, sondern sie werden Sex miteinander haben, sie werden sehr viel Spaß miteinander haben und sie werden auch ihre Wildheit gemeinsam ausleben können." > Sie wird sein banges Haupt auf ihren Schoß betten, ihm die Läuse aus dem Fell klauben, vielleicht wird sie sich die Läuse auch in den Mund schieben und sie verspeisen, wenn er sie lieb darum bittet, wie in einer wilden Hochzeitszeremonie. > > > Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer MEHR MITHU SANYAL: ERKUNDEN VON SEXUELLEN FANTASIEN IN DER LITERATUR Die Lust an der Sexualität, aber auch die Lust an der Gewalt und Brutalität – diese Schichten legt Angela Carter frei. „Das sind eben nicht so klassische masochistische sexuelle Fantasien, sondern es ist ein sehr mutiges damit Spielen, bis wohin kann ich mit meinen sexuellen Fantasien gehen in der Literatur, bis wohin kann ich sie laut aussprechen." ANGELA CARTER IST IHRER ZEIT VORAUS Angela Carter sprengt damit die gesellschaftlichen und auch die literarischen Konventionen der 70er Jahre: Ästhetisch überladen, voll mit Adjektiven und durchzogen von großen Gefühlen sind ihre zehn Märchen. Diese hat Maren Kames in ihrer Neuübersetzung mitreißend ins Deutsche übertragen. Man kann die schneidende Winterkälte spüren und die Einsamkeit der Mädchen fühlen. Ein schwerer, strenger Duft nach Tieren und welken Blumen zieht sich durch den Band. Und mitten im Absatz wechselt auch mal die Erzählerstimme – aus einem „Ich“ wird ein „sie“ – aus der Verführten wird eine Täterin. Aus einem Ich, das sich rächt und befreit, wird eine Stellvertreterin für alle Frauen, die an den patriarchalen und sexistischen Verhältnissen leiden - ob im Märchen oder in der echten Welt. Angela Carter holt so die Mädchen und Prinzessinnen aus ihrer passiven Rolle und macht etwa aus dem hundert Jahre lang schlafenden Dornröschen eine hungrige, männermordende Vampirin. Das kam 1979 nicht bei allen gut an, auch nicht bei Feministinnen. VERSTECKT UND VERBANNT Mithu Sanyal meint dazu: „Angela Carter macht nicht diesen Trick, Frauen mit Frauen in ein feministisches, lesbisches Paradies gehen zu lassen, sondern es geht immer um heterosexuellen Sex in allen Variationen, aber er bleibt heterosexuell. Nicht im Sinne von das ist die einzige Sexualität, sondern das ist die Sexualität, die sie in diesen vielen, vielen Märchen-Variationen erforschen möchte. Und da haben viele Feministinnen dieses Buch entweder verbannt oder mit so Stickern „Das ist Sexismus“ versehen oder tatsächlich in so braune Umschläge gepackt und nur so dann verkauft, was ich auch interessant finde. Also dieses Buch wurde als sehr potent, aber auch sehr gefährlich wahrgenommen." FEMINISTINNEN SIND SCHOCKIERT Märchen über Frauen, die neugierig und auf gefährliche Weise ihre entfesselte Sexualität erkunden – und welche Rolle Pornografie darin spielen kann, darüber schrieb Angela Carter später auch in einem Essayband. Mithu Sanyal erzählt: „Und darüber haben sich nochmal viel, viel mehr Menschen aufgeregt. Und gerade in den modernen Feminismen ist das ja etwas, was aufgegriffen wird, wo Leute ja sagen, genau da war sie ihrer Zeit wahnsinnig voraus. Sie war auch nicht die einzige, aber gerade in der britischen Literaturszene war sie absolut ein Stern darin." EIN STERN, DER LEIDER VIEL ZU FRÜH ERLOSCH Anfang der 90er starb Angela Carter mit nur 52 Jahren an Lungenkrebs. Ihre Märchen gerieten in Vergessenheit. Ein Glück, dass sie nun wiederentdeckt werden können. Geht es heute um Märchen, so dominieren seit Jahrzehnten vor allem die Disney-Verfilmungen, erst als Zeichentrickfilme, nun in Realverfilmungen. In ihnen werden meist die klassischen Rollenverteilungen zwischen Frau und Mann zementiert, während die böse Stiefmutter in den Abgrund geschubst wird. Die schauerlichen Verhältnisse, die Angela Carter offenlegt, existieren also bis heute weiter.

Kein Bürostuhl, dafür Ungeziefer in der Wohnung. Von diesen Missständen in Schriftsteller-Residenzen schreiben Autorinnen und Autoren im Jádu Magazin [https://www.goethe.de/prj/jad/de/the/hcw/res.html], einer Online-Publikation des Goethe Instituts. TEXTE ÜBER MISSSTÄNDE BEI AUFENTHALTSSTIPENDIEN Herausgegeben haben diese Reihe Katharina Bendixen [https://www.swr.de/swrkultur/literatur/katharina-bendixen-ueber-eine-zeitgemaesse-form-der-liebe-elternschaft-ist-nicht-banal-100.html] und Slata Roschal. Wie Residenzstipendien funktionieren, erklärt Roschal im lesenswert Magazin. KONKRETE VERBESSERUNGSVORSCHLÄGE Schon mit kleinen Verbesserungen könne man die Aufenthaltsstipendien für Schriftsteller und Schriftstellerinnen angenehmer gestalten, erzählt Roschal im Gespräch. Sie und Katharina Bendixen haben einige Vorschläge für Anbieter dieser Stipendien ausgearbeitet. Und auch das Bild, das viele von Autoren und Autorinnen hätten – als freie, ungebundene Genies ohne jegliche soziale Verpflichtungen - müsse verändert werden. Dafür setzt sich Roschal auch auf ihren Social Media Kanälen ein. Sie meint: „Das was wir brauchen ist einfach nur Interesse an den realen Arbeitsbedingungen der Schriftstellerei.“ LITERARISCHE VERARBEITUNG DES THEMAS Gerade ist ihr neuer Gedichtband erschienen „Ich brauche einen Waffenschein ein neues bitteres Parfüm ein Haus in dem mich keiner kennt“. Hier bearbeitet sie die Themen rund um die Arbeitsbedingungen von Autoren und Autorinnen auch literarisch. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin hat zwei Romane veröffentlicht. Der erste - „153 Formen des Nichtseins“ - war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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