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Russlands Botschafter: „Nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft denken“
An die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges erinnert der Botschafter Russlands in Deutschland, Sergej J. Netschajew, im Interview. Davon haben nicht nur beide Länder, sondern auch ganz Europa profitiert, sagt er. Mit Blick auf die heutige Situation betont er: „Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein.“ Der Botschafter äußert sich zu den Ursachen und den Folgen – und über den Kontakt zu einfachen Bürgern Deutschlands. Mit ihm sprachen Éva Péli und Tilo Gräser. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Herr Botschafter, wie ist es als Botschafter in einem Land, dessen führende Vertreter ebenso wie jene von EU und NATO Ihr Heimatland ruinieren wollen, sich im Krieg mit diesem sehen und es besiegen wollen, auf ukrainischem Boden und wahrscheinlich nicht nur dort? Ihr Außenminister Sergej Lawrow hat kürzlich über Informationen gesprochen, nach denen es EU-Diplomaten untersagt ist, Kontakt mit russischen Diplomaten bei Veranstaltungen, bei Kongressen, Treffen und anderem zu haben. Sergej J. Netschajew: Wir arbeiten unter den Bedingungen, die der Aufnahmestaat für uns schafft. Ich stimme schon zu, dass diese aktuell nicht gerade die günstigsten sind. Es findet kein politischer Dialog statt, alle wichtigen Kooperationsformate liegen auf Betreiben der deutschen Seite auf Eis. Das ist zu bedauern, denn wir haben in den Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in den 90er, in den Nullerjahren ein uniques, ein einzigartiges Netzwerk mit Deutschland aufgebaut. Absolut unique, kann ich offen sagen. Ich glaube, mit sehr wenigen anderen westlichen Ländern hatten wir so tiefgreifende, profunde Kontakte zum beiderseitigen Nutzen in allen möglichen Feldern. Praktisch überall gab es diese strategische Partnerschaft, wie wir das alles in den entsprechenden Vereinbarungen festgezurrt und verankert haben. Das funktionierte und war pragmatisch zum beiderseitigen Nutzen. Davon profitierten nicht nur Russland und Deutschland, sondern das ganze Europa. Dennoch versuchen wir, unser Land würdevoll zu vertreten. Unsere Aufgaben bleiben unverändert. Es gilt, die Interessen der in Deutschland lebenden russischen Staatsbürger zu schützen und angemessen auf die Gegebenheiten hierzulande zu reagieren. Wir versuchen, die russische Position gegenüber denjenigen deutlich zu machen, die bereit sind, diese zu hören und aufzunehmen. Von ihnen gibt es in Deutschland übrigens recht viele. Warum hat sich dieses einzigartige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland seit Jahren bereits so verschlechtert? Viele im Westen geben Russland dafür die Schuld und erklären, Moskau habe die Gesprächsangebote nicht angenommen. Das war schon in den Jahren vor der jetzigen zugespitzten Situation zu hören und zu lesen. Warum und wann hat die Eiszeit angefangen? Netschajew: Nach dem Ende des Kalten Krieges waren viele im Westen der Auffassung, Russland habe verloren. Es hieß, von nun an brauche man keine Rücksicht mehr auf Russlands Interessen zu nehmen. Der Westen glaubte, unserem Land diktieren zu können, wo es langgehen sollte. Wir hingegen haben in dieser neuen Situation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs enorme Möglichkeiten gesehen, auf unsere gestrigen geopolitischen und ideologischen Gegner zuzugehen. Mein Land zeigte sich absolut offen und bereit, die Beziehungen nach außen in jedweder Hinsicht auszubauen. Aber dieses Zugehen war nicht gegenseitig. Irgendwann wurde klar, dass man doch nicht bereit war, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Gleichwohl konnten meiner Meinung nach gerade mit Deutschland pragmatische Beziehungen aufgebaut werden. Die Amtszeiten von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel standen ganz im Zeichen einer fortschreitenden Zusammenarbeit in den Bereichen Handel und Wirtschaft, Energie und Investitionen, Wissenschaft und Kultur, interparlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Dialog sowie Jugendaustausch. All das lag im Interesse beider Länder und ganz Europas. Leider hat sich Deutschland zu einem gewissen Zeitpunkt entschieden, seine nationalen Interessen der politischen Großwetterlage zu opfern. Wir haben den Deutschen überhaupt nichts angetan. Mehr noch: Aus meiner Sicht war das Werden der politischen und der wirtschaftlichen, europäischen Großmacht Deutschland eng und sehr tief mit den Beziehungen zu Russland verbunden. Wirtschaftlich war Deutschland bis 2013 unser Handelspartner Nummer 1 mit 80 Milliarden Euro Warenumsatz. Politisch war es eine Brücke zwischen Ost und West und funktionierte als guter Makler. Das brachte Deutschland politische Größe und politisches Ansehen, und auch die führende Rolle in der Europäischen Union. Alle Türen in Russland waren offen für Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den 70er Jahren und bis zur letzten Zeit basierte auf den guten und gewissenhaften Lieferungen unserer Energieträger – zum guten Freundschaftspreis. Das war stabil in guten Mengen. Wir haben nichts gestoppt. Wir haben von uns aus nichts auf Eis gelegt. Wir haben kein einziges der rund 6.300 deutschen Unternehmen, die in Russland bis 2022 aktiv waren, vertrieben. Wo kam aber der Wandel her? Manche sagen, das fing 2008 an, als Bundeskanzlerin Angela Merkel begann, von Werten in der Politik zu reden. Netschajew: Auch damals hatten wir gut miteinander eine gemeinsame Sprache gefunden. Wir haben auch früher verschiedene Vorschläge für die europäische Sicherheitsarchitektur gemacht. Wir waren sehr skeptisch, was die Osterweiterung der NATO betrifft. Es gab die Versprechen, dass die NATO keinen Zentimeter nach Osten geht. Das ist heute kein Geheimnis mehr. Das steht schwarz auf weiß in verschiedenen Gesprächsvermerken aus der Zeit und in einigen Artikeln von führenden Politikern der damaligen westlichen Welt. Aber dann haben wir gesehen, dass die NATO immer näher an unsere Grenzen kommt. Es geht nicht um die einfache Mitgliedschaft, sondern um die Stationierung der entsprechenden militärischen Infrastruktur. Das war schon nicht akzeptabel für uns. Da mussten wir uns Gedanken machen, wie wir reagieren sollen. Das hat Präsident Wladimir Putin damals 2007 in München in entsprechender Weise erläutert. Wir haben gesagt, das kommt nicht überein mit der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, die wir gemeinsam bauen wollten. Das alles wurde vom Westen verworfen. Da waren wir natürlich sehr skeptisch. Man kann uns nicht so behandeln, als ob wir die Looser des Kalten Krieges waren und dass man uns alles diktieren kann, wie wir uns benehmen müssen. Wie wir behandelt wurden, war für unser Verständnis ungerecht und widersprach unseren Vorstellungen über das Zusammenwachsen in Europa, über die Partnerschaft und über die strategischen Aussichten für die Zukunft. Ich glaube, diese Annäherung zwischen Russland und Europa brachte nicht allen ein Vergnügen. Bei alldem spielen ja auch die USA eine Rolle … Netschajew: Anscheinend betrachteten die USA diese wachsende Kompatibilität zwischen Russland und Westeuropa als eine Gefahr für die amerikanischen Interessen. Das war ein riesiges Konkurrenzzentrum, wirtschaftlich, technologisch, bei den Energieträgern und angesichts gemeinsamer Projekte auch in der Wirtschaft und Wissenschaft. Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 gilt als Einschnitt. Deutsche Politik und Medien lassen bis heute die Vorgeschichte weg. Wie hätte das, was zu einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland auf ukrainischem Boden wurde, verhindert werden können? Der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa schrieb kürzlich vom wahrscheinlich „vermeidbarsten Krieg in der Geschichte“. Netschajew: Jeder geopolitische Zug ergibt sich wie in einer Schachpartie aus der jeweils vorangehenden Position. Die Entwicklungen der Vergangenheit zu vergessen beziehungsweise zu versuchen, diese zu verdrängen, ist zumindest kontraproduktiv. Von Anfang an formte der Westen aus der Ukraine eine Art Gegengewicht zum zunehmenden Einfluss Russlands. Mit Hilfe der „Farbrevolutionen“ wurden antirussische Marionetten-Politiker an die Macht geführt, deren Aufgabe es war, die engen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie den Kultur- und zwischenmenschlichen Austausch zwischen Russland und der Ukraine zu untergraben. Es wurden nationalistisch orientierte Eliten in der Ukraine hochgepäppelt. Es wurde mit Nachdruck auf eine Annäherung der Ukraine an die NATO und auf den Beitritt der Ukraine zu diesem aggressiven Militärbündnis hingearbeitet. Ultimativ wurde Kiew vor ein Entweder-Oder gestellt: Eine Hinwendung zum Westen schloss jeden Austausch mit Russland aus. Nach dem von den Amerikanern finanzierten Maidan und dem blutigen Staatsstreich vom Februar 2014 hat die Ukraine endgültig den Weg einer militanten Russophobie betreten. Seitdem werden alle, die die Beziehungen zu Russland zu erhalten wünschten – auf der Krim, im Donbass und überall – hart unterdrückt. Die Bilanz dieser unfähigen Politik ist hinlänglich bekannt. Die Tragik besteht auch darin, dass die in der Ukraine erstarkenden neonazistischen Tendenzen, das sogenannte Banderatum, von den westlichen Regierungen nicht verurteilt wurden und sich als ideologische Normalität des Regimes in Kiew etablieren konnten. Der ukrainische Politikwissenschaftler Konstantin Bondarenko, Leiter der Stiftung Ukrainskaya Politika, hat in einem Interview mit dem ungarischen Portal Moszkvater gesagt [https://www.nachdenkseiten.de/?p=112337]: Im Jahr 2014 „begann die tatsächliche und effektive Kolonisierung der Ukraine. Die westlichen Institutionen haben im Wesentlichen die Kontrolle über die Ukraine übernommen.“ Wie würden Sie das einschätzen? Netschajew: Ich würde im Großen und Ganzen diesen Gedanken unterstützen. Die Ukraine ist heute leider nicht mehr selbstständig und ist an das Geld und an die Waffenlieferungen aus dem Westen total gebunden. Auch an die verschiedenen Ratschläge, wie sie bis zum letzten Ukrainer kämpfen sollen. Es gibt in keiner Hinsicht eine Selbstständigkeit der Ukraine. In Deutschland erklären Politiker auch der SPD, Frieden gebe es nur noch gegen Russland. Die einstige Ostpolitik, für die Willy Brandt, Egon Bahr und andere standen, wird als „Fehler“ behandelt und beiseite geschoben. Ex-Kanzler Helmut Schmidt schrieb noch 2008 in seinem Buch „Außer Dienst – Eine Bilanz“: „Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen.“ Kann ein Botschafter einer offensichtlich feindlich eingestellten Außenministerin die „kalte Schulter“ zeigen? Netschajew: Auch in Deutschland hat sich in vieler Hinsicht ein Elitenwechsel vollzogen. Die heutigen Politiker erinnern sich immer seltener an die Zeit, da Millionen Sowjetsoldaten um den Preis des eigenen Lebens Deutschland und Europa vom Nationalsozialismus befreiten, das russische und das deutsche Volk sich nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung reichten und aus unversöhnlichen Feinden Partner und gar Freunde werden konnten. Die historische Verantwortung Berlins gilt heute der Schoah, aber nicht den Millionen von Sowjetbürgern, die in einem grauenhaften Vernichtungskrieg dem Völkermord zum Opfer fielen. Die Ostpolitik ist als fehlerhaft verworfen worden. Es ist mittlerweile verpönt, an den entscheidenden Beitrag der UdSSR zur Deutschen Einheit zu erinnern. Vieles hat man schlichtweg dem Vergessen anheimfallen lassen. Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein. Zumindest gilt das für einen Teil des politischen Establishments. Die öffentlichen Auslassungen, man müsse sich auf einen Krieg gegen Russland vorbereiten, sowie die Aufrufe, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, seine Wirtschaft zu zerfetzen und seine Bevölkerung durch immer neue Sanktionspakete leiden zu lassen – all das klingt barbarisch und ist mir unerklärlich. Russland hat Deutschland keinen Schaden zugefügt, wollte es nie und will es nicht tun. Dass unsere Beziehungen dort sind, wo sie gerade sind, ist einzig und allein die Verantwortung der politischen Führung dieses Landes. Ich bezweifle, dass die «Zeitenwende» Deutschland zum unabhängigen Wohlstand und Erfolg führen kann. Was unsere Kontakte mit dem Auswärtigen Amt anbelangt, so finden sie recht regelmäßig statt, auch wenn der Austausch auf Arbeitsebene auf ein Minimum reduziert ist. Leider sind die Anlässe zu den Gesprächen mit den Kollegen nicht immer die angenehmsten. Nichtsdestoweniger besteht unsere wichtigste Aufgabe aus meiner Sicht darin, den Dialogfaden nicht endgültig abreißen zu lassen und nach Möglichkeit zur Lösung der auftretenden Probleme beizutragen. Zumal es in Deutschland eine recht zahlreiche russische Diaspora gibt. Ich bin sicher, dass Emotionen nicht vor Professionalität gehen dürfen. Sie haben sich im Februar gegenüber einer deutschen Zeitung für Verhandlungen ausgesprochen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wie können die möglich sein angesichts des westlichen Wunsches, Russland ruinieren und besiegen zu wollen? Netschajew: Jeder Konflikt endet früher oder später mit Verhandlungen. Wie Präsident Wladimir Putin mehrmals betonte, haben wir uns niemals Gesprächen verweigert. Mehr noch, der Entwurf eines Friedensabkommens mit der Ukraine, das den Interessen beider Seiten entsprach, wurde bereits im Frühjahr 2022 ausgehandelt und lag zur Unterschrift bereit. Eine friedliche Lösung war aber nicht Teil der westlichen Planung. Hört man sich deutsche Politiker an, die zur Aufrüstung der Ukraine nach dem Motto „so lange wie nötig“ aufrufen, ist es auch heute noch so. Darüber hinaus hat Wladimir Selenskij sich selbst per Gesetz verboten, Gespräche mit der russischen Seite zu führen und die Situation damit in eine Sackgasse geführt. „Friedenskonferenzen“ unter Ausschluss Russlands und ohne Berücksichtigung unserer Interessen sind nichts anders als sinnloses politisches Spektakel. Wir schätzen zum Beispiel sehr die Initiativen von unseren chinesischen Freunden, ebenfalls Initiativen von afrikanischen Freunden, auch aus Brasilien. Wichtig ist, dass unsere Sicherheitsinteressen in diesen Entwürfen ebenfalls berücksichtigt werden. Das ist das Wichtigste, sozusagen ein Junktim. Ohne die Berücksichtigung unserer Interessen ergibt es keinen Sinn, zu reden. Friedensinitiativen aus dem Westen habe ich bis jetzt noch nicht gesehen. Auch nicht aus Berlin, der „Stadt des Friedens“? Netschajew: Nein, auch nicht aus Berlin. Es tut mir wirklich sehr leid, was ich jetzt aus Berlin höre, von noch mehr Waffenlieferungen, weiteren Sanktionen, dem Raub unserer Vermögenswerte im Westen. Das war, ehrlich gesagt, ein schwerer Fehler unserer deutschen Kollegen, die letalen Waffen in die Ukraine zu liefern, mit denen Russen getötet werden. Das frischt einige historische Reminiszenzen auf, die wir nie vergessen. Das produziert eine klare Stimmung in Russland. Den Weg der russisch-deutschen historischen Aussöhnung fördert das ganz bestimmt nicht. Wir haben diesen Weg nach dem Zweiten Weltkrieg geebnet, von beiden Seiten, Russen und Deutsche. Jetzt, im Zuge dieser „Zeitenwende“, höre ich in Berlin: „Wir müssen uns auf den Krieg vorbereiten, der unbedingt in ein paar Jahren nach Deutschland kommt“. Die Bundeswehr ist an unserer Grenze, die endlosen Militärmanöver an unseren Grenzen, das ist natürlich für das gute Verhältnis kaum förderlich. Deutschland und Russland verschwinden nicht aus Europa, auch in Jahrzehnten nicht. Da müssen wir natürlich an unsere gemeinsame Geschichte denken, und nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft. Sie waren ja schon zu DDR-Zeiten hier in Berlin, als junger Diplomat. Das war die Zeit des Kalten Krieges. Da gab es eine ernste Konfrontation, auch Angst vor einem Atomkrieg. Ist das für Sie vergleichbar? War es schlimmer? Ist es heute schlimmer? Netschajew: Ich würde sagen, heute ist es schlimmer. Jetzt sind die Akzente, würde ich sagen, ein bisschen anders. Russland wird von den westlichen Staaten total diskriminiert und unter Druck gesetzt. Mehr noch, es wird versucht, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, unsere Wirtschaft zu ruinieren. So etwas gab es damals nicht. Es gab damals, in der Zeit des Kalten Krieges, vernünftige Stimmen, die Sie vorhin zitiert haben, wie Egon Bahr. Die höre ich heute leider von den hohen Politikern nicht mehr. Wie erfahren Sie von Persönlichkeiten wie Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat, Ex-UN-Diplomat Michael von der Schulenburg, Oskar Lafontaine und anderen, die sich für Frieden aussprechen? Was halten Sie davon? Netschajew: Wir verfolgen die innerdeutsche Debatte zur ukrainischen Problematik sehr aufmerksam. Wir wissen, dass sich immer mehr Politiker und Experten auch mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen an der militärischen Kontaktlinie realistisch zeigen und der Bundesregierung vorschlagen, über eine politische Lösung nachzudenken. Gleichzeitig stellen wir fest, dass Berlin noch nicht bereit ist, auf seine Dogmen zu verzichten. Die deutsche Führung setzt weiterhin auf immer neue Lieferungen von Waffen und Militärtechnik an Kiew. Wie erleben Sie Deutschland heute, auch mit Blick auf die Gesellschaft? Welche Kontakte gibt es noch zur sogenannten Zivilgesellschaft, zu den normalen Bürgern? Sie haben kürzlich bei einem Konzert im Russischen Haus auf die wichtige Rolle der Kultur für den Frieden und die Völkerverständigung hingewiesen. Wie ist das heute möglich? Netschajew: Wie ich bereits gesagt habe, bemühen wir uns, wo immer möglich, positive Ansätze zu erhalten. Das gilt beispielsweise für die Bereiche Kunst und Kultur, zwischenmenschlicher Austausch sowie Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit. Wir kommen auch mit einfachen deutschen Bürgern ins Gespräch, von denen viele mit dem heutigen Zustand der russisch-deutschen Beziehungen gelinde gesagt nicht zufrieden sind. Wir versuchen, sie mit der russischen Position und der russischen Sichtweise auf die aktuellen Probleme der Gegenwart zu erreichen. Auch mit Ihrer Hilfe. Mit den einfachen Bürgern sprechen wir absolut offen. Vor wenigen Tagen waren wir in Seelow zur Kranzniederlegung. Auf den Seelower Höhen begann die Berliner Operation der sowjetischen Armee, die die letzten Tage des Großen Vaterländischen Krieges einleitete. Ich war wirklich sehr erstaunt und sehr begeistert, dass viele einfache Deutsche gekommen waren, um die sowjetischen Soldaten zu ehren. Das war wirklich für mich eine große und angenehme Überraschung. Da gab es auch polnische Staatsbürger, die gekommen waren. Mit den einfachen Bürgern Deutschlands und auch Polens haben wir wirklich immer noch gute Kontakte. Das wissen wir auch zu schätzen. Ich habe die Kriegsgräberfürsorge erwähnt. Da sehen wir ständig, wie entgegenkommend die einfachen Deutschen sind. Es tut mir wirklich leid, dass diese guten Stimmen nicht mehr so gehört werden. Schade, denn wir haben mit Deutschland wirklich sehr viel Gemeinsames. Was die Kultur anbetrifft, ich kenne kein anderes Land in Westeuropa, mit dem wir eine so inhaltsreiche kulturelle Geschichte teilen, in der die beiden Kulturen einander bereichert haben. Ich bin sicher, dass Kultur das ist, was uns natürlich näherbringt. Das ist eine sehr, sehr wichtige Brücke. In Kürze begehen Sie, Ihr Land und seine Bürger wieder den Tag des Sieges über den Faschismus, am 9. Mai. Wie ist das derzeit angemessen möglich? Und was haben Sie als Botschafter und die Botschaft dafür geplant? Und wie steht es um die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden zum Schutz und zur Pflege der sowjetischen Ehrenmäler und Gedenkstätten in Deutschland, die Sie in den letzten Jahren immer wieder lobten? Netschajew: Wir sind den deutschen Kommunen und Gemeinden für den fürsorglichen Umgang mit den sowjetischen Kriegsgräberstätten in Deutschland sehr dankbar. Auch für schnelle Beseitigung von Beschädigungen infolge von Vandalismus, den es leider Gottes auch gibt, danken wir sehr. In diesem Jahr haben wir tatsächlich wieder vor, Kränze und Blumen an zentralen Kriegsgräberstätten und in ehemaligen Nazi-Konzentrationslagern niederzulegen und der Soldaten und Opfer des Nazi-Regimes zu gedenken. Dass der Verwaltung der Gedenkstätten und den Kommunalbehörden eindringlich empfohlen wurde, es nicht zu Begegnungen mit den russischen Vertretern kommen zu lassen, ist bedauernswert. Wir hoffen, dass sich diese Haltung früher oder später ändert. Titelbild: © Tilo Gräser
03. Mai 2024 - 19 min
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Das neueste Gedankenverbrechen: „Sabotage der Meinungsbildung“
Immer neue Begriffe sollen den „erlaubten“ Debattenraum weiter einschränken. Mit extra unscharfen Vokabeln wird zusätzlich die Grenze zwischen „legaler“ und „legitimer“ Meinung vernebelt. Das neueste Beispiel liefert die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg, die fordert, dass die „Sabotage der Meinungsbildung“ eine Straftat werden soll. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg hat im Interview mit der Berliner Zeitung [https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/berlin-justizsenatorin-felor-badenberg-sabotage-der-demokratie-soll-straftat-werden-li.2209729] kürzlich gesagt (Hervorhebung von mir): > „Wir müssen darüber sprechen, ob unsere Gesetze Deutschland noch ausreichend vor diesen Gefahren schützen und die Berliner Strafverfolgungsbehörden die rechtlichen Instrumente dafür haben. Das Strafrecht schützt vor Sabotagemaßnahmen aus der Zeit des Kalten Krieges. Heute ist aber nicht mehr nur das Abgreifen von Informationen, sondern auch das Einbringen von Desinformationen und Propaganda gefährlich. Die Sabotage des Meinungsbildungsprozesses muss unter Strafe gestellt werden. Andere Länder, wie beispielsweise Frankreich, haben dies erkannt, und auch die Europäische Kommission hat einen Regelungsvorschlag erarbeitet. Ich sehe hier die Bundesregierung in der Verantwortung, eine entsprechende Regelung vorzulegen. Es geht um nicht weniger als um unsere Demokratie. In einem Staat, in dem die Macht vom Volke in freien Wahlen ausgeübt wird, ist der freie Willensbildungsprozess der erste Angriffspunkt für autokratische Regime.“ Man müsste natürlich die konkrete Formulierung eines solchen Gesetzes vor einem Urteil darüber prüfen. Einerseits hat der Staat das Recht und die Pflicht, massive Einmischungen von außen möglichst zu unterbinden – dabei müssten aber alle Einmischungen von allen Seiten thematisiert werden. Momentan wird alarmistisch vor einer mutmaßlichen Einmischung etwa von China gewarnt. Diese chinesischen Versuche fände ich nicht überraschend. Aber die viel massivere Einmischung erfolgt sehr wahrscheinlich von privater und staatlicher US-Seite. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass das Gesetz selektiv gegen die Gegner der jeweiligen Regierungen genutzt werden könnte und eben nicht allgemein zum Schutz des „Meinungsbildungsprozesses“. Eine wichtige Frage wird auch hier sein: Wer definiert, was nützliche Informationen sind und was als „Sabotage“ verboten werden darf? Bedenklich wäre es auch, wenn deutsche Journalisten juristisch wegen Beihilfe belangt werden könnten, weil sie Informationen verbreiten, die irgendwo politisch als „Sabotage des Meinungsbildungsprozesses“ definiert und verboten wurden. Wenn das Gesetz und seine Ausführung nicht sehr strengen und in der Praxis kaum zu gewährleistenden Kriterien der Neutralität unterworfen würde, dann würde es genau das sabotieren, was es zu schützen vorgibt. Die Wortschöpfung „Sabotage der Meinungsbildung“ reiht sich jedenfalls ein in eine Reihe von neuen und dubiosen Begriffen wie „Verächter der Demokratie“, „Gefährdungspotenzial“ oder „verfassungsfeindliche Delegitimierung des Staates“. Diese Vokabeln sind teils extra unscharf gehalten und könnten bei Missbrauch dazu dienen, unbequeme Meinungen entweder durch die Verwischung eindeutiger Grenzen als „zwar legal, aber nicht legitim“ anzugreifen, oder ihre Verbreitung – wie im hier besprochenen Fall – ganz zu verbieten. Titelbild: metamorworks / Shutterstock[https://vg02.met.vgwort.de/na/5cf0d2423b9d4df6b3e8111fc64ba2c0] Mehr zum Thema: „Demokratiefördergesetz“ – Was versteht Bundesregierung konkret unter „Verhöhnung des Staates“? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=111295] Paus wirbt für eine fragwürdige „Demokratieförderung“ – und Faeser für einen schwammigen „Gefährderbegriff“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=111094] Beamte können jetzt noch besser „diszipliniert“ werden – Und der Debattenraum wird noch kleiner [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113676]
Gestern - 4 min
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Instrumentalisierung von „Antisemitismus“ und die Zunahme von repressiv-autoritären Tendenzen in Deutschland
Der Palästina-Kongress, der vom 12. bis 14. April 2024 mit hochrangigen Experten in Berlin stattfinden sollte und nach nur 90 Minuten verboten wurde, scheint im Ausland mehr Aufmerksamkeit erhalten zu haben als in Deutschland. In vielen Städten gab es Proteste, so auch vor der deutschen Botschaft in Athen, da der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mit einem Einreise- und Redeverbot belegt worden war. Damit ist er der einzige bekannte Grieche und aktive Politiker eines EU-Landes, dem je die Einreise in die Bundesrepublik verwehrt wurde. Ein einmaliger Vorgang. Selbst die griechischen Junta-Politiker blieben während der Militärdiktatur (1967 bis 1974) unbehelligt. Der Umgang mit Varoufakis ist dabei nur ein Beispiel von vielen für die zunehmende Unterdrückung von kritischen Stimmen in Form von Einreise- und Redeverboten in Deutschland. Ein Meinungsbeitrag von Annette Groth. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Schon im Vorfeld gab es eifrige Hetze gegen den „umstrittenen“ Kongress, er wurde als Treffen von „Israelhassern“, Antisemiten und Islamisten bezeichnet. Auch ein Verbot wurde erwogen, was vermutlich juristisch nicht durchsetzbar war. Dem Unternehmen, das den Saal zur Verfügung stellte, der erst am 12. April bekannt gemacht wurde, flatterten unflätige Drohungen ins Haus. Der Berliner Senat wollte den Kongress mit allen Mitteln verhindern. Der Gipfel war die Kündigung und Sperrung des Kontos der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost, dem Hauptorganisator des Kongresses, durch die Berliner Sparkasse. Die gezahlten Eintrittsgelder und Spenden waren blockiert, sodass die Jüdische Stimme kurzfristig auf private Gelder zurückgreifen musste. Ein großer Protest und Aufschrei über die Kontenkündigung eines jüdischen Vereins durch die Sparkasse blieb aus. Ich stelle mir 1933 vor, als viele jüdische Geschäftsleute und ganz normale jüdische Bürger und Bürgerinnen plötzlich nicht mehr an Gelder auf ihren Konten kamen. Die Kontensperrung halte ich für antisemitisch, genauso wie die polizeiliche Abführung jüdischer Friedensaktivisten, die ein Schild „Juden gegen Genozid“ trugen. Und ist das Verbot der hebräischen Sprache auf dem Protestcamp der Palästina-Solidaritätsbewegung in der Nähe des Bundestags nicht auch antisemitisch? Die Begründung für dieses unsägliche Sprachverbot: „Wir müssen verstehen, was dort gesagt wird, es könnte ja zu Straftaten oder ‚Gewaltaufrufen‘ kommen.“ Allerdings wurde das Hebräisch-Verbot zumindest für den religiösen Gebrauch gekippt. Eine Schabbatfeier hätte sonst nicht stattfinden können. Auch die irische Sprache Gälisch ist von dem Sprachverbot betroffen. Gegen mehrere Iren, die Solidaritätslieder in der gälischen Amtssprache der irischen Republik sangen, wurden Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. Als Letztes ist noch das Verbot der arabischen Sprache zu nennen. Arabisch darf im Camp erst nach 18:00 Uhr gesprochen werden, denn erst dann hat der Polizeidolmetscher Zeit. Man denkt an Satire oder an Kabarett, wenn man das liest, aber es ist Realität in Deutschland im Jahre 2024! [1] Es ist zu hoffen, dass das Verbot des Palästina-Kongresses auch Menschen zum Nachdenken bringt, die bisher mit dem Thema nichts zu tun haben wollen, aber durch die ständig zunehmenden Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und Cancel-Culture-Verfügungen aufgeschreckt werden. Namhafte Wissenschaftler, Kulturschaffende und Schriftsteller haben in den letzten Monaten Auftrittsverbote erhalten, weil sie irgendwo etwas Israel-Kritisches gelikt oder etwas Propalästinensisches unterschrieben haben. Im Ausland haben die Absage des Kongresses, die Einreise- und Redeverbote sowie die Diffamierung jüdischer Friedensaktivisten als „Antisemiten“ große Verwunderung, aber auch große Besorgnis ausgelöst. Jetzt erscheinen zumindest einige kritische Artikel in deutschen Zeitungen, die sich mit der deutschen Politik im „McCarthy-Stil“ auseinandersetzen. Der Publizist Fabian Scheidler warnt in der Berliner Zeitung vor einem „gefährlichen Konfrontationskurs im Verhältnis zur Meinungsfreiheit“ und begründet das mit der deutschen Israel-Politik. > „Wenn man mir vor einigen Jahren vorausgesagt hätte, was sich heute zum Thema Israel und Gaza in Deutschland abspielt, hätte ich das für eine dystopische Fantasie gehalten. Eine deutsche Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen sichert einem Staat bedingungslose militärische und diplomatische Unterstützung zu, der sich gerade vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen des Verdachts auf Völkermord verantworten muss – ein Verdacht, den das Gericht selbst als ‚plausibel‘ einstuft. International renommierte Intellektuelle und Künstler – darunter auch jüdische Stimmen –, die sich für Menschenrechte und Völkerverständigung einsetzen, werden aus Deutschland ausgeladen, ihre Gastprofessuren abgesagt, ihre Preisverleihungen gecancelt, darunter Nancy Fraser, Laurie Anderson und Masha Gessen.“ [2] In einem Interview kommentiert die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete Francesca Albanese die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel und betont: > „Deutschland ist eins der Länder, die Israel vor und nach dem 7. Oktober politisch und materiell am stärksten unterstützt haben. Ich verstehe die historische deutsche Verantwortung und die moralische Verpflichtung nach dem Holocaust. Ich glaube, als europäische Gesellschaften haben wir den Holocaust noch lange nicht vollständig aufgearbeitet. Aber Völkermord beginnt nicht mit Massenmord. Es ist ein Prozess, der mit Entmenschlichung beginnt, die Massenmord normal, akzeptabel und rechtlich vertretbar macht. Hätte Deutschland das, was es dem jüdischen Volk angetan hat, verinnerlicht, würde ‚Nie wieder‘ bedeuten: ‚Nie wieder Völkermord‘. Auf die Frage, ob sie die aktuellen Debatten in Deutschland über die Grenzen der Meinungsfreiheit mit Blick auf Israel-Palästina verfolgt, antwortet Albanese: > „Durchaus, ja. Es scheint in Deutschland eine Art Paranoia zu geben, was kritische Auseinandersetzung betrifft mit dem, was Israel tut. Viele Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt sprechen sich dagegen aus, was in ihrem Namen geschieht. Aber Deutschland bringt selbst Israelis und jüdische Menschen zum Schweigen, die sich öffentlich gegen Israels Politik positionieren. Anstatt Israel mit den gleichen Maßstäben zu messen wie andere Länder, lässt man die Regierung ungestraft weitermachen.“ [3] „Palästina ist der Lackmustest für die bürgerlichen Freiheiten“ ist der Titel eines sehr lesenswerten Interviews in der Jungen Welt mit Nadija Samour, einer Anwältin, die die Jüdische Stimme berät. Im Kontext der zunehmenden Repression gegen Palästina-Demonstrationen und Polizeigewalt erinnert sie an die Coronazeit, als viele Demonstrationen verboten waren und gegen Demonstranten unverhältnismäßige Gewalt ausgeübt wurde. Samour betont, dass mit den Corona-Maßnahmen der Grundstein für die Einschränkungen der Grundrechte gelegt wurde, die jetzt insbesondere bei den Palästina-Demonstrationen angewendet werden. [4] Es muss allerdings daran erinnert werden, dass die Diffamierungen und Hetze gegen Veranstaltungen über Palästina/Israel nicht neu sind. Bereits 2017 hat die Autorin zusammen mit Günter Rath eine Broschüre „Meinungsfreiheit bedroht? Die Gefährdung der Meinungsfreiheit in Deutschland durch die Kampagnen der sogenannten ‚Freunde Israels‘“ veröffentlicht, in der 71 Veranstaltungen in den Jahren 2012 bis 2017 aufgelistet sind, die behindert, verschoben oder abgesagt werden mussten. [5] Die derzeitige deutsche Politik ist höchst besorgniserregend und gefährlich. Warum unterstützt die Ampelkoalition zwei rechte Regierungen – die israelische und die ukrainische – mit allen Mitteln und Waffen, obwohl sie sich der Beihilfe zum Völkermord schuldig macht und in der Ukraine zur Fortführung des nicht gewinnbaren Krieges beiträgt? Und sehen diejenigen, die noch immer auf der Seite der israelischen rechtsextremen Regierung stehen, nicht deren Gefährlichkeit, auch für die jüdische Bevölkerung? Am Rande der Demonstration, die am 13. April in Berlin statt des Kongresses stattfand, gab es auch eine kleine Gruppe mit Israel-Fahnen. Dabei waren einige Frauen, die sich mit einem Schild als „Omas gegen rechts“ auswiesen. Ist ihnen klar, mit wem sie da gemeinsam stehen? Warum merkt die Mehrheit der Deutschen nicht, dass die Rechtsentwicklung nicht nur von der AfD ausgeht, sondern auch von der jetzigen Regierung? Die Ampelkoalition gibt Milliarden für Aufrüstung und Vernichtungswaffen aus, will alles „kriegstüchtig“ machen und kürzt dafür bei den Sozialausgaben. Angeblich ist kein Geld da für Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Universitäten, für die Sanierung der Infrastruktur, für die Kindersicherung, für arme Rentner und Rentnerinnen. Von der Aufrüstung profitieren nur die Rüstungsunternehmen, deren Gewinne noch nie so hoch wie heute waren! Diese zutiefst unsoziale und gefährliche Politik muss unbedingt gestoppt werden. Geht die Regierung so gewalttätig gegen Protestierende vor, weil sie andere einschüchtern und sie vom Protest auf der Straße abhalten will? Ist das das Ziel, wenn protestierenden Studierenden mit der Exmatrikulation gedroht wird und wenn Nicht-Bio-Deutschen mit Entzug der Aufenthaltsgenehmigungen oder sogar mit Passentzug gedroht wird, falls sie sich „unbotmäßig“ verhalten oder Slogans rufen, die als „antisemitisch“ oder „islamistisch“ diffamiert werden? Viele Palästinenser sind höchst verunsichert und trauen sich nicht, in der Öffentlichkeit gegen deutsche Waffen-lieferungen zu protestieren und einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Einreise- und Redeverbot für Dr. Ghassan Abu Sitta Neben Yanis Varoufakis wurde auch ein Einreiseverbot für den weltweit renommierten britisch-palästinensischen Chirurg und Rektor der Universität Glasgow Dr. Ghassan Abu-Sitta ausgesprochen. Er hat seit dem 10. Oktober 2023 43 Tage im Shifa-Krankenhaus in Gaza Stadt und im Ahli-Krankenhaus gearbeitet. Das Ahli-Krankenhaus ist das älteste Krankenhaus im Gazastreifen, das heute vom Ökumenischen Rat der Kirchen zusammen mit der Anglikanischen Kirche in Großbritannien geleitet wird. In einem Interview mit der Journalistin Karin Leukefeld schildert Dr. Abu Sitta seine Erlebnisse: > „Bei meiner Ankunft wurde ich an der Passkontrolle gestoppt. Dann hat man mich in den Keller des Flughafens gebracht, wo ich 3,5 Stunden befragt wurde. Am Ende dieser 3,5 Stunden sagte man mir, ich dürfe deutschen Boden nicht betreten. Dieses Verbot gelte für den gesamten April. Aber nicht nur das. Sollte ich versuchen, mich per Zoom oder FaceTime mit der Konferenz in Verbindung zu setzen, selbst wenn ich außerhalb von Deutschland sei, oder sollte ich ein Video mit meinem Vortrag an die Berliner Konferenz senden, sei das ein Vergehen gegen deutsches Recht. Ich liefe Gefahr, eine Geldstrafe zu erhalten oder bis zu einem Jahr im Gefängnis zu landen. Dann sagte man mir, ich solle einen Rückflug nach England buchen. Mein Pass wurde mir abgenommen und ich erhielt ihn erst zurück, als ich das Flugzeug bestieg.“ Dr. Ghassan sollte auf dem Palästina-Kongress über seine Erfahrungen über das Töten in Gaza berichten. Das haben die deutschen Behörden verhindert, denn sie wollen keine Zeugenaussagen, die belegen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet. Dr. Abu Sitta kommentiert das so: „Sie begraben die Beweise und sie bringen die Zeugen zum Schweigen, verfolgen sie oder schüchtern sie ein.“ Dann verweist er auf Hannah Arendt, die 1958 in ihrem ersten Vortrag, den sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten habe, sagte, man vermenschliche das Geschehen in der Welt und das, was in den Menschen selbst vor sich gehe, indem man darüber spreche. „Und indem wir darüber sprechen, lernen wir, menschlich zu sein.“ > „Wir sehen, wie sich der erste Völkermord im 21. Jahrhundert entfaltet. Dass Deutschland Zeugen dieses Völkermordes zum Schweigen bringt, verheißt für das vor uns liegende Jahrhundert nichts Gutes.“ Für Dr. Abu Sitta ist es klar, dass das Ahli-Krankenhaus absichtlich angegriffen wurde und ein Lackmustest gewesen sei. „Die Israelis wollten sehen, welche Reaktion es geben würde, wenn dieses hochrangige Krankenhaus angegriffen würde. Da die Reaktion der internationalen Gemeinschaft so schwach war, begannen sie innerhalb von einigen Tagen, das Gesundheitssystem im Norden von Gaza zu zerstören.“ Hätten die USA und Deutschland sofort ihre Waffenlieferungen und andere Unterstützung gestoppt, wäre die Zerstörung weiterer Krankenhäuser vermutlich nicht passiert, in denen Hunderte Palästinenser den Tod fanden. [6] Einen höchst eindringlichen und schockierenden Bericht seiner Erfahrungen in den 43 Tagen in Gaza hat Dr. Abu Sitta in einem Artikel auf Mondoweiss, einem jüdischen elektronischen US-Nachrichten-Portal, veröffentlicht. [7] Vertreibung in der Westbank Im Schatten des Gaza-Krieges spitzt sich auch die Situation in der Westbank immer mehr zu. Seit dem 7. Oktober attackieren militante Siedler, flankiert und oft unterstützt von israelischen Soldaten, die palästinensische Bevölkerung. In mindestens 20 Gemeinden gibt es keine Palästinenser mehr. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden Tausende Hektar Land als staatseigenes israelisches Eigentum ausgewiesen, was den Weg für den Bau neuer Siedlungen freimacht, die der rechtsextreme Finanzminister Smotrich bereits ankündigte. Noch nie wurde so viel Land im Westjordanland zum Staatseigentum erklärt, so Haaretz am 11. April. 2024; man könnte auch sagen, das ist der größte Raub von palästinensischem Land seit Jahrzehnten. [8] Tausende Palästinenser wurden verhaftet, fast 500 wurden ermordet – an den Folterungen, die sie in den israelischen Militärgefängnissen erlitten, starben mindestens ein Dutzend Menschen. Angesichts dieser zweiten Nakba [9], deren Zeugen wir aktuell sind, haben am 7. April 2024 600 Bundesbeamte einen Aufruf lanciert, in dem sie die Bundesregierung auffordern, die Waffenlieferungen an Israel umgehend einzustellen! Aus Angst vor beruflichen Nachteilen bleiben sie anonym. Ein leitender Angestellter spricht von einem „Klima der Angst“ innerhalb der Behörden und Ministerien, wie er es „in 15 Jahren noch nie erlebt“ habe. Israel begehe in Gaza „Verbrechen, die in klarem Widerspruch zum Völkerrecht und damit zum Grundgesetz stehen, an das wir als Bundesbeamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes gebunden sind“. Es sei „unsere Pflicht als Beschäftigte des Bundes“, heißt es in der Erklärung, „daran zu erinnern, dass die Bundesregierung strikt die Verfassung und das Völkerrecht zu beachten hat“. Darin wird die Bundesregierung auch aufgefordert, die Zahlungen an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) zu verlängern und sich „aktiv und entschlossen für die Anerkennung eines palästinensischen Staates“ in den international anerkannten Grenzen von 1967 einzusetzen. Zu den Unterzeichnern sollen Beamte aus verschiedenen Ministerien gehören, darunter viele Menschen mit internationalen Biografien und Auslandserfahrung. Vor allem Diplomaten machen sich Sorgen, dass Deutschlands Ruf in der Welt und seine internationalen Beziehungen nachhaltigen Schaden nehmen könnten. [10] Bislang ist dieser bemerkenswerte Aufruf kaum in der Öffentlichkeit debattiert worden. Die Zitate israelischer Politiker und Militärs, an die die Beamten erinnern, lassen einen geplanten Völkermord erahnen: > „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ > Yoav Gallant, israelischer Verteidigungsminister > „Das Einzige, was in den Gazastreifen gelangen sollte, solange die Hamas die von ihr festgehaltenen Geiseln nicht freilässt, ist nicht ein Gramm humanitäre Hilfe, sondern Hunderte von Tonnen Sprengstoff der Luftwaffe.“ > Itmas Ben-Gvir, Minister für öffentliche Sicherheit in Israel > „Menschliche Tiere müssen als solche behandelt werden. Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen.“ > Ghassan Alian, Leiter der Militärkoordination Israel Befeuert von diesen menschenverachtenden Aussagen begehen israelische Soldaten und Soldatinnen tagtäglich Kriegsverbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes, die gefilmt und online von ihnen geteilt werden, auch weil sie keinerlei Sanktionierung zu befürchten haben. James Elder, UNICEF-Sprecher, sagte am 22. März 2024: > „Die Tiefe des Grauens übersteigt unsere Fähigkeit, es zu beschreiben. (…) Es ist eine vollständige Vernichtung.“ Die Unterzeichner weisen ebenso auf die vorsätzliche Missachtung internationalen Völkerrechts hin, die „mit Ansage durch dessen Premierminister Benjamin Netanjahu“ am 14. Januar 2024 erfolgte: „Niemand wird uns aufhalten – nicht Den Haag, nicht die Achse des Bösen und auch sonst niemand.“ Trotz dieser Absichtserklärungen liefert die Bundesregierung weiterhin Kriegswaffen nach Israel, verletzt damit eigene Vergaberichtlinien und verstößt eklatant gegen internationales Völkerrecht. Der 7. Oktober 2023 wird als isoliertes Ereignis gesehen und daraus ein Selbstverteidigungsrecht Israels abgeleitet, ohne die über 75 Jahre andauernde israelische Besatzung, Ausbeutung und Unterdrückung der palästinensischen Zivilbevölkerung anzuerkennen und zu kontextualisieren. > „Unsere Pflicht, der völkerrechtswidrigen Politik der Bundesregierung entschieden zu widersprechen, leitet sich nicht zuletzt auch aus § 60 Bundesbeamtengesetz in Verbindung mit Art. 25 GG sowie der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und der Eilrechtsschutzentscheidung des IGH vom 26. Januar 2024 ab.“ Die Beamten beziehen sich auch auf die „Erklärung der transatlantischen Beamtinnen zu Gaza: Es ist unsere Pflicht, uns zu äußern, wenn die Politik unserer Regierungen falsch ist”, veröffentlicht am 2. Februar 2024, welche allerdings in Deutschland kaum Beachtung fand. [11] Mehr als 800 Regierungsbeamte in den Vereinigten Staaten und Europa kritisieren die „Führer ihrer Länder“ für die bedingungslose militärische und politische Unterstützung Israels. Die Autoren des Briefes, die ebenso wie die deutschen Beamten anonym unterschrieben, „schrieben, dass ihre Versuche, intern Bedenken hinsichtlich der Unterstützung ihrer Regierungen für Israels Angriff auf Gaza zu äußern, „durch politische und ideologische Erwägungen außer Kraft gesetzt wurden“. > „Wir sind verpflichtet, im Namen unserer Länder und uns selbst alles in unserer Macht Stehende zu tun, um nicht an einer der schlimmsten menschlichen Katastrophen dieses Jahrhunderts beteiligt zu werden. Wir sind verpflichtet, die Öffentlichkeit unserer Länder, denen wir dienen, zu warnen und gemeinsam mit transnationalen Kollegen zu handeln. … Israel hat bei seinen Militäreinsätzen in Gaza keine Grenzen gesetzt, was zu Zehntausenden vermeidbaren zivilen Todesfällen geführt hat. Es besteht ein plausibles Risiko, dass die Politik unserer Regierungen zu schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, Kriegsverbrechen und sogar ethnischen Säuberungen oder Völkermord beiträgt.“ Beide dringende Aufrufe haben leider bislang kaum Resonanz hervorgerufen, aber man sollte sie immer wieder zitieren. Fazit: Solange die USA und Deutschland Israel weiterhin unterstützen, wird es keinen Frieden geben. Das wurde nach der Bewilligung des 26-Milliarden-US-Dollar-Pakets von den USA sehr deutlich. Kurz darauf wurde Rafah bombardiert, 18 Kinder und vier Erwachsene kamen dabei ums Leben. [12] Man könnte denken, dass die Botschaft an die Israelis lautete: Macht ruhig weiter, wir unterstützen euch auch weiterhin. Eine moralische und politische Bankrotterklärung! Titelbild: Shutterstock / Jorm Sangsorn Mehr zum Thema: Beweise begraben, Zeugen zum Schweigen bringen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113863] Weltweiter Ansehensverlust der deutschen Diplomatie und die Vogel-Strauß-Taktik des Auswärtigen Amts [https://www.nachdenkseiten.de/?p=114601] „Beihilfe zum Völkermord“ – Nicaragua klagt Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag an [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113600] Die Infantilisierung der deutschen Außenpolitik: Botschafterin in der Ukraine posiert mit „Kuschel-Leo“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=95404] ---------------------------------------- [«1] Junge Welt, 23. April 2024 / Sprachverbot des Tages: Hebräisch, Nick Brauns jungewelt.de/artikel/473956.sprachverbot-des-tages-hebräisch.html [https://www.jungewelt.de/artikel/473956.sprachverbot-des-tages-hebräisch.html] [«2] Fabian Scheidler: „Deutsche Israel-Politik: Die falschen Lehren aus der Vergangenheit – Wie Deutschland auf einen gefährlichen Konfrontationskurs mit der Meinungsfreiheit und internationalem Recht geraten ist, Berliner Zeitung 22. April 2024, berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/deutsche-israel-politik-die-falschen-lehren-aus-der-vergangenheit-li.2206324 [https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/deutsche-israel-politik-die-falschen-lehren-aus-der-vergangenheit-li.2206324] [«3] Interview: Hanno Hauenstein 23. April 2024, Neues Deutschland, UN-Sonderberichterstatterin: „Schwelle zum Völkermord erreicht“, Francesca Albanese über Israels Vorgehen in Gaza, Deutschlands Verantwortung und die Vorwürfe gegen ihre Person, .nd-aktuell.de/artikel/1181657.gaza-krieg-un-sonderberichterstatterin-schwelle-zum-voelkermord-erreicht.html [https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181657.gaza-krieg-un-sonderberichterstatterin-schwelle-zum-voelkermord-erreicht.html] Ende März veröffentlichte Francesca Albanese den Bericht „Anatomie eines Völkermords“, in dem sie Israel vorwirft, einen Genozid an den Palästinensern in Gaza zu begehen. [«4] Junge Welt 20. April 2024, Über die staatliche Repression gegen den Palästina-Kongress in Berlin und die autoritäre Wende in der Bundesrepublik, jungewelt.de/artikel/473789.autoritärer-staatsumbau-palästina-ist-der-lackmustest-für-die-bürgerlichen-freiheiten.html [https://www.jungewelt.de/artikel/473789.autoritärer-staatsumbau-palästina-ist-der-lackmustest-für-die-bürgerlichen-freiheiten.html] [«5] Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden, allerdings ohne die acht Seiten umfassende Tabelle mit den 71 Veranstaltungen. senderfreiespalaestina.de/pdfs/meinungsfreiheit_bedroht_version_ohne_tabelle.pdf [https://senderfreiespalaestina.de/pdfs/meinungsfreiheit_bedroht_version_ohne_tabelle.pdf] [«6] „Beweise begraben, Zeugen zum Schweigen bringen“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113863], Karin Leukefeld, NachDenkSeiten 15. April 2024 [«7] mondoweiss.net/2024/04/dr-ghassan-abu-sittah-tomorrow-is-a-palestinian-day/ [https://mondoweiss.net/2024/04/dr-ghassan-abu-sittah-tomorrow-is-a-palestinian-day/] [«8] haaretz.com/israel-news/2024-04-11/ty-article/.premium/israel-has-declared-record-amount-of-west-bank-land-as-state-owned-in-2024/0000018e-c7a2-dd23-a3cf-e7a713c90000 [https://www.haaretz.com/israel-news/2024-04-11/ty-article/.premium/israel-has-declared-record-amount-of-west-bank-land-as-state-owned-in-2024/0000018e-c7a2-dd23-a3cf-e7a713c90000], auch auf der Webseite von Peace Now: peacenow.org.il/en [https://peacenow.org.il/en] [«9] Nakba ist das arabische Wort für Katastrophe und bezeichnet die gewaltsame Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Jahr 1948 [«10] „Deutsche Waffen für Israel: Beamte kritisieren Nahost-Politik“, taz.de/Deutsche-Waffen-fuer-Israel/!6002931/ [https://taz.de/Deutsche-Waffen-fuer-Israel/!6002931/]), diefreiheitsliebe.de/politik/600-bundesbeamte-fordern-von-bundesregierung-waffenlieferungen-an-israel-umgehend-einzustellen/ [https://diefreiheitsliebe.de/politik/600-bundesbeamte-fordern-von-bundesregierung-waffenlieferungen-an-israel-umgehend-einzustellen/] [«11] consortiumnews.com/de/Etikett/Erkl%C3%A4rung-der-transatlantischen-Beamten-zum-Gazastreifen/ [https://consortiumnews.com/de/Etikett/Erkl%C3%A4rung-der-transatlantischen-Beamten-zum-Gazastreifen/] [«12] scheerpost.com/2024/04/22/massive-israeli-airstrike-against-rafah-in-the-southern-part-of-the-gaza-strip/ [https://scheerpost.com/2024/04/22/massive-israeli-airstrike-against-rafah-in-the-southern-part-of-the-gaza-strip/]
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Vor zehn Jahren brannte das Gewerkschaftshaus von Odessa – Es war eines der Startsignale für einen blutigen Bürgerkrieg
Am 2. Mai 2014 starben 42 Menschen im Gewerkschaftshaus von Odessa. Ein nationalistischer Mob hatte das Gebäude mit Molotow-Cocktails und Schlägertrupps angegriffen. Der Angriff wurde von der Regierung in Kiew wohlwollend kommentiert, wenn nicht sogar organisiert, denn der ukrainische Sicherheitschef Andrej Parubi besuchte am 30. April 2014 Pro-Maidan-Kräfte, die im Gebiet Odessa Straßen kontrollierten. Von einer zielgerichteten Aktion zur Einschüchterung von Regierungskritikern wollte man in den großen deutschen Medien 2014 nichts wissen. Der Brand sei eine „Verkettung unglücklicher Umstände“ gewesen, meinten damals die ukrainischen Medien. Eigene Recherchen gaben die großen deutschen Medien nicht in Auftrag. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Kein einziger der Täter und Hintermänner des Überfalls auf das Gewerkschaftshaus von Odessa wurde bis heute vor Gericht gestellt. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Es half auch nicht, dass Beobachter des Europarates im November 2015 einen 90 Seiten umfassenden Bericht [https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168048610f] vorlegten, in dem sie der Regierung in Kiew bescheinigten, dass sie die Ermittlungen zum Brand vernachlässige. Gefordert wurde eine Föderalisierung der Ukraine Wie kam es überhaupt zum Brand im Gewerkschaftshaus? In Odessa gab es eine starke Stimmung gegen den Staatsstreich in Kiew. Die Stadt war 2014 vorwiegend russland-freundlich. Nachdem die Staatsstreich-Regierung in Kiew beschlossen hatte, der russischen Sprache den Status einer Regionalsprache in Gebieten mit starkem russischen Bevölkerungsanteil abzuerkennen, kam es in Odessa und anderen Städten im Südosten der Ukraine zu Demonstrationen. In Odessa demonstrierten 20.000 Menschen für eine Föderalisierung der Ukraine. Die Föderalisten bauten vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa ein Zeltlager auf. Am 2. Mai 2014 wurde dieses Zeltlager von aus Kiew und Charkow angereisten Ultranationalisten niedergebrannt. Etwa 300 Anti-Maidan-Aktivisten flüchteten vom Zeltlager ins Gewerkschaftshaus und verbarrikadierten sich dort in den Zimmern. Zu denen, die sich in das Gebäude geflüchtet hatten, gehörte auch Anschela Polownowa. In einem Interview (ab Minute 11:33) [https://odysee.com/@UlrichHeyden:2/%25C3%25BCberlebende-des-massakers-im:6] berichtete sie mir, was sie erlebte. Den ultranationalistischen Schlägertrupps, die in das Gebäude über einen Seiteneingang eingedrungen waren, sei es gelungen, das Bürozimmer, in dem sie sich zusammen mit anderen Schutzsuchenden befand, aufzubrechen. Die Eindringlinge hätten geschrien, „alle hinlegen“. Dann hätten die Ultranationalisten begonnen, die am Boden Liegenden mit Ketten und Knüppeln zu schlagen. Polownowa berichtet, weil der Qualm des Brandes im Gebäude das Atmen erschwerte, seien Menschen aus den Fenstern des Gebäudes geklettert und hätten sich dann an Mauervorsprüngen festgehalten. Andere sprangen in Todesangst aus dem Fenster. Doch auch unten angekommen war man sich seines Lebens nicht sicher. Viele derer, die gesprungen waren, wurden von Nationalisten, die unten warteten, mit Knüppeln blutig geschlagen. „Hier könnt ihr sehen, was aus Russland werden wird …“ Was in den Köpfen der Ultranationalisten vorging, wird in dem Film „Remember Odessa“ deutlich, den der Regisseur Wilhelm Domke-Schulz 2022 veröffentlichte. In dem Film gibt es Szenen, die zeigen, wie Maidan-Anhänger durch das Gewerkschaftshaus ziehen und mit höhnischen Kommentaren über die dort liegenden Toten reden und sich deren persönlicher Dokumente bemächtigen (bei Minute 1:00:00 [https://www.youtube.com/watch?v=56bfHtbMC9w]). Von dem Video-Streamer hört man Sätze wie, „da liegt noch eine Negerin … sie sind verbrannt“. Oder „ja, so etwas gibt es. Kartoffelkäfer“. Kartoffelkäfer wurden die russland-freundlichen Oppositionellen wegen ihre schwarz-orangenen St.-Georgs-Erkennungs-Bandes genannt. Dann hört man den Sprecher im Stream-Video sagen, „da könnt ihr euch vorstellen, was aus Russland werden wird, wenn da zufällig das Gleiche … das ist hier bloß Odessa.“ Man spürt, wie groß der Hass der Ultranationalisten auf Russen und Russland schon damals war, acht Jahre bevor die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. Ich besuchte Odessa im Juli 2014, zwei Monate nach dem Brand im Gewerkschaftshaus. Mit Hilfe eines Ortskundigen gelang es mir, in das vom Brand zerstörte und abgesperrte Gebäude zu gelangen. Ich sah eingeschlagene Türen und vom Brand verrußte Wände. In einem Zimmer sah ich eine getrocknete Blutlache und auf einen Spiegel hatte jemand geschrieben, „wir werden Russland töten“ (ab Minute 7:30 [https://odysee.com/@UlrichHeyden:2/5.-jahrestag-des-odessa-massakers-es:e]). Die Feuerwehr kam erst spät Die Feuerwehr kam erst 38 Minuten nach dem Beginn des Brandes, obwohl die Feuerwache nur 500 Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt liegt. Bürger, welche die Feuerwehr anriefen, wurden abgewimmelt, wie ein Audiomitschnitt der Anrufe belegt. Die Polizei, die mit nur wenigen Männern vor dem Gebäude präsent war, schritt nicht ein und die Sicherheitskräfte bekamen auch keine Verstärkung. Man hatte den Eindruck, dass der Gouverneur von Odessa, Wladimir Nemirowski, den Ultranationalisten ganz bewusst freie Hand für ihren Überfall ließ. Die Bilder aus Odessa sollten abschrecken Ungewöhnlich war, dass die Attacke auf das Gewerkschaftshaus von zahlreichen Video-Streamern begleitet wurde. Sie konnten in aller Seelenruhe filmen. Die zahlreichen Film-Teams, die während des Massakers vor Ort waren, lieferten per Stream Berichte in alle Regionen der Ukraine. Dass „ukrainische Patrioten“ – ohne dass die Polizei einschritt – ein Gebäude mit Menschen in Brand stecken konnten, sollte offenbar eine abschreckende Wirkung haben. Der Ablauf der Ereignisse zeigt: Die Staatsstreich-Regierung in Kiew wollte die Welle der Besetzungen von Regierungsgebäuden, die es im Frühjahr 2014 im Südosten der Ukraine gegeben hatte, mit aller Macht stoppen. Nach dem Massaker bedankte sich die bekannte ukrainische Politikerin Julia Timoschenko bei „den ukrainischen Patrioten“, welche „den russischen Terrorismus“ in Odessa gestoppt hätten. Als ich im Juli 2014 Odessa besuchte, begann ich spontan, Interviews mit Angehörigen der im Gewerkschaftshaus verbrannten Menschen zu filmen. Die Aufnahmen waren ein Grundstock für den Film „Lauffeuer“ [https://www.youtube.com/watch?v=LXRIuVNGmds], den ich dann mit dem Video-Kollektiv Leftvision in Berlin gemeinsam produzierte. Die Premiere des Films war im Februar 2015 im Berliner Programmkino Moviemento. „Lauffeuer“ war mehrere Jahre der einzige deutschsprachige Film, der die Ereignisse vom 2. Mai 2014 kritisch aufarbeitete und auch die politischen Motive der Brandstifter und ihrer Hintermänner nannte. Als einen der Hintermänner identifizierten wir in unserem Film Andrej Parubi, 2014 Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, der Odessa noch am 30. April 2014 besucht und mit Pro-Maidan-Schutzstaffeln Gespräche geführt hatte, sowie den Oligarchen Igor Kolomoiski, der gewaltbereite Maidan-Anhänger finanzierte und im Frühjahr 2014 öffentlich ein Kopfgeld von 10.000 Dollar auf „Separatisten“ ausgesetzt hatte. Russen: „Warum berichtet das deutsche Fernsehen nicht?“ Für die russische Gesellschaft war der Brand im Gewerkschaftshaus in den Jahren 2014 und folgende ein zentrales Thema. Viele Russen äußerten mir gegenüber Empörung darüber, dass über den Brand im Gewerkschaftshaus in Deutschland nur am Rande und sehr verschwommen berichtet wurde. Als ich gefragt wurde, ob unser Film „Lauffeuer“ schon im deutschen Fernsehen gelaufen sei, und ich verneinte, gab es ungläubiges Staunen. Heute ist der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa kein zentrales Thema mehr in Russland. Der Chef-Kommentator des russischen Fernsehkanals Rossija, Dmitri Kiseljow, hat zwar vor einigen Tagen noch eine längere Sendung über die Tragödie vom 2. Mai 2014 gebracht, aber im Prinzip ist in Russland alles zum Thema gesagt. Frontgebiet Odessa Wenn es heute in den russischen Medien um Odessa geht, dann nur noch, wenn über russische Angriffe auf militärische Infrastruktur in der ukrainischen Hafenstadt berichtet wird. In den letzten Tagen berichteten russische Medien mehrmals über Raketenangriffe auf militärische Ziele im Gebiet Odessa. Dabei seien durch herabfallende Raketentrümmer auch Zivilisten verletzt worden. Raketentrümmer seien durch die ukrainische Luftabwehr entstanden. Die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti meldete, dass die russische Armee in der Nacht auf den 1. Mai 2024 einen Stab der ukrainischen Armee in der Nähe des Kulikow-Feldes im Stadtzentrum von Odessa bombardiert habe. Am Kulikow-Feld liegt auch das Gewerkschaftshaus von Odessa. Drei russische Geschosse seien eingeschlagen. In russischen Medien wird auch berichtet, es gäbe in Odessa bewaffnete Untergrund-Gruppen. Diese würden der russischen Armee als Informanten helfen. Derartige Meldungen werden wohl auch mit dem Ziel veröffentlicht, die Bevölkerung in der Ukraine zu ermutigen, sich an russischen Militäraktionen zu beteiligen. Titelbild: © Ulrich Heyden Mehr zum Thema: Odessa – 5 Jahre nach dem Brand im Gewerkschaftshaus (nachdenkseiten.de) [https://www.nachdenkseiten.de/?p=51371] [https://vg01.met.vgwort.de/na/de71868e7502403c9bc59cb32d84e09a]
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Heraus zum 1. Mai. Gibt es was zu feiern? Ja, aber nur ein bisschen
Es ist wieder so weit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine acht Mitgliedsgewerkschaften rufen am „Tag der Arbeit“ [https://www.dgb.de/erster-mai-tag-der-arbeit] bundesweit zu Demonstrationen, Kundgebungen und Festen unter der Losung „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit” auf. Der DGB rechnet auf rund 400 Veranstaltungen mit mehr als 300.000 Teilnehmern. Von Rainer Balcerowiak. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Seit 1886 ist der 1. Mai eine Art Fixpunkt für die internationale Arbeiterbewegung. Damals streikten eine halbe Million US-Amerikaner für die Einführung des Achtstundentags. In den folgenden Tagen eskalierte die Auseinandersetzung vor allem in Chicago, es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Acht Streikführer wurden inhaftiert und später hingerichtet. 1889 beschlossen Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf dem Zweiten Internationalen Arbeiterkongress in Paris, zum Gedenken an die Opfer von Chicago am 1. Mai zu einer internationalen Demonstration aufzurufen. Zentrale Forderungen waren auch hier der Achtstundentag, außerdem höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. 1890 erklärte die SPD den 1. Mai offiziell zum „Kampftag der Arbeiterklasse“, und 1919 wurde er als „Tag der Arbeit“ von der Weimarer Nationalversammlung per Gesetz zum offiziellen Feiertag erklärt. In den vergangenen Jahren war der 1. Mai für den DGB vor allem ein Tag für die identitätsstiftende Selbstvergewisserung der schrumpfenden Mitgliedschaft. Und für viele Teilnehmer war es auch einfach eine große Party: Das Bier floss in Strömen, dazu kam der manchmal etwas strenge Geruch von angekokelten Bratwürsten. Auch für Kinderbespaßung – etwa mit Hüpfburgen – war gesorgt, und auf den Bühnen versuchten Kulturschaffende aller Couleur, gute Laune zu verbreiten. „Kampftag der Arbeiter“ zum Ritual verkommen Wirklich zu feiern gab es allerdings eher wenig. Die vergangenen Jahre waren von empfindlichen Reallohnverlusten, einer erodierenden Tarifbindung und einem wuchernden Niedriglohnsektor geprägt, verbunden mit einem deutlichen Mitgliederrückgang der DGB-Gewerkschaften. 500.000 Mitglieder verloren sie zwischen 2013 und 2023, jetzt sind es noch 5,65 Millionen, davon 2,1 Millionen bei der IG Metall und 1,9 Millionen bei ver.di. Noch drastischer stellt sich dieser Schrumpfungsprozess in einem längeren Zeithorizont dar: 1991 waren es noch fast zwölf Millionen Mitglieder. Es gab Jahr für Jahr die ewig gleichen „kämpferischen Reden“ von DGB-Funktionären und Polit-Prominenz, zumeist mit SPD-Parteibuch. Dieser fast schon symbiotischen Bindung der DGB-Führung an die SPD hat auch der massivste soziale Kahlschlag der bundesdeutschen Geschichte, die von einer sozialdemokratisch geführten Regierung exekutierten Agenda-2010-Reformen, kaum etwas anhaben können. Das ist diesmal nicht anders. Auf den größeren Kundgebungen werden neben der DGB-Prominenz auch die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil, der Generalsekretär Kevin Kühnert, die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und die EU-Spitzenkandidatin Katarina Barley ans Mikrofon treten. Wobei stets mit mehr oder weniger lautstarken Protesten etlicher Teilnehmer zu rechnen ist, denn diese Politiker stehen nicht nur für eine aggressive Rüstungs- und Sanktionspolitik gegen Russland, sondern auch für sozial-, klima- und wirtschaftspolitische Geisterfahrten, die auch vielen Gewerkschaftsmitgliedern schwer im Magen liegen. Erfreuliche Erfolge bei Tarifkämpfen Dennoch gibt es in diesem Jahr für die Gewerkschaften durchaus etwas zu feiern. Vor allem als Reaktion auf die Inflation in den vergangenen zwei Jahren ging man recht offensiv in die Tarifrunden und konnte in einigen Branchen, teilweise begleitet von Streiks, ansehnliche Abschlüsse erzielen. Das betraf zum einen den öffentlichen Dienst und – besonders „publikumswirksam“ – alle Verkehrssektoren, also die Luftfahrt, den Schienenverkehr und den kommunalen Nahverkehr. So bekommen die Beschäftigten der Luftsicherheitsunternehmen zwischen 13,1 und 15,1 Prozent mehr, bei einer Laufzeit von 15 Monaten. Beim Bodenpersonal der Lufthansa beläuft sich die durchschnittliche Erhöhung auf 12,5 Prozent, wobei es eine Mindesterhöhung von 280 Euro pro Monat gibt, wodurch die Entgelte bei unteren und mittleren Gehaltsgruppen überproportional steigen. Auch im kommunalen Nahverkehr gab es teilweise kräftige Lohnerhöhungen mit Mindestbeträgen – und obendrauf dann stets noch als Leckerli die einmalige, steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro. Kräftig zugelangt haben auch zwei Spartengewerkschaften, die nicht dem DGB angehören. Bei der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (UFO) reichte ein ganztägiger Streik, um die Lufthansa in der folgenden Schlichtung zum Einlenken zu bewegen. Neben der steuerfreien Einmalzahlung bekommt das Kabinenpersonal eine dreistufige Lohnerhöhung um insgesamt 16,5 Prozent, bei einer Laufzeit bis Ende 2026. Den Vogel abgeschossen hat diesmal allerdings die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die bei der Deutschen Bahn mit massiven Streiks ihr Hauptziel durchsetzen konnte [https://www.nachdenkseiten.de/?p=106731]: Die stufenweise Absenkung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Stunden mit vollem Lohnausgleich. Dazu auch hier die Einmalzahlung sowie eine einheitliche, zweistufige Lohnerhöhung um 420 Euro pro Monat. Und das gilt eben nicht nur für den bundeseigenen Konzern, sondern auch für fast alle privaten Konkurrenzunternehmen. Und es ist bereits abzusehen, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich, die jetzt von der GDL wieder nachdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt wurde, auch in kommenden Tarifrunden anderer Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen wird. Die in diesen Branchen erfolgreichen Tarifkämpfe hatten allerdings auch recht günstige Rahmenbedingungen. Denn die Gewerkschaften sind dort traditionell gut organisiert, und Arbeitskämpfe im Verkehrsbereich üben erheblichen Druck auf die Arbeitgeber aus. Ferner spielen dort die generell im Sinne abhängig Beschäftigter (noch) relativ entspannte Lage auf dem Arbeitsmarkt und der in einigen Branchen große Arbeitskräftemangel eine Rolle. Wenn keiner mehr Bock hat, im Schichtdienst Lokomotiven oder Busse zu fahren oder den Fluggästen die Koffer abzufertigen, weil es derzeit auch andere Jobs mit besseren Arbeitsbedingungen und besserer Entlohnung gibt, dann wird das ein ziemlich großes Problem. Immer mehr tariffreie Zonen Dieses Druckpotenzial gibt es in anderen Branchen offenbar nicht. So gestaltet sich die Tarifrunde im Einzelhandel seit über einem Jahr als Hängepartie. Die Forderungen der Gewerkschaft und das Angebot der Arbeitgeber liegen meilenweit auseinander. Doch die sitzen die gelegentlichen, nur von wenigen Beschäftigen getragenen Warnstreiks bislang schulterzuckend aus. Und generell sinkt der Geltungsbereich vieler Tarifverträge erheblich. Waren 1995 noch mehr als 80 Prozent der Beschäftigten bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt, so sind es heute nur noch knapp die Hälfte [https://www.wsi.de/de/analysen-zur-tarifbindung-34899.htm]. Nur noch jeder vierte Betrieb ist an einen Tarifvertrag gebunden. Das betrifft nicht nur Kleinbetriebe und Branchen mit sehr schwachem gewerkschaftlichen Organisationsgrad, sondern auch „Leuchttürme“ der Industrie und der Handelslogistik, wie z.B. Tesla und Amazon. Auch der von der „rot-grünen“ Bundesregierung unter Gerhard Schröder massiv beförderte Niedriglohnsektor hat sich verfestigt. Rund ein Viertel aller Beschäftigten verdient weniger als 14 Euro pro Stunde, wobei die große Grauzone von Subunternehmen und Scheinselbstständigen noch gar nicht erfasst ist. Gelöst werden könnte das Problem wenigstens teilweise durch die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auf alle oder wenigstens die meisten Branchen, was in den meisten westeuropäischen Ländern auch längst Standard ist. Doch politische Mehrheiten für so ein Vorhaben sind in Deutschland nicht in Sicht, und die Gewerkschaften sind offensichtlich zu schwach bzw. nicht willens, in dieser Frage entsprechend Druck aufzubauen. Auf die Pauke hauen dagegen jetzt Unternehmerverbände und ihre Parteien. Sie nehmen die – im europäischen Vergleich eher harmlose – Streikwelle im Verkehrssektor zum Anlass, massive Einschränkungen des Streikrechts zu fordern [https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-03/lokfuehrer-gewerkschaft-gdl-bahn-tarifstreit-kritik-fdp-streikrecht]. Aber bei aller Verkommenheit: Das kann sich die SPD nun wirklich nicht leisten. In Tarifauseinandersetzungen sind die Gewerkschaften also nach wie vor ein Faktor, vor allem für ihre traditionellen Kernklientele. Politisch sind sie dagegen weitgehend verzwergt und faktisch nicht mehr kampagnenfähig. Zur SPD-Treue gehört für große Teile des Apparats auch die prinzipielle Unterstützung der Aufrüstung, der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland. Einen entsprechenden Leitantrag beschloss auch der ver.di-Bundeskongress im September 2023 [https://www.hallo-wippingen.de/wp/2023/09/ver-di-sagt-jein-bundeskongress-stimmt-fuer-lieferung-von-waffen-an-ukraine/] mit großer Mehrheit. Gegen diese Positionierungen gibt es allerdings viel innergewerkschaftlichen Widerstand – bis hin zu ganzen Landesverbänden. Aber wie bereits gesagt: Ein bisschen was zu feiern gibt es trotzdem. Man kann also ruhig auf eine Maifeier gehen und dort ein – hoffentlich nicht lauwarmes – Bier auf die Lokführer, Busfahrer, Flugsicherheitsmitarbeiter und andere trinken, die sich ein kräftiges Lohnplus erkämpft haben. Und wenn dann anschließend Esken, Klingbeil, Kühnert, Barley & Co. ans Rednerpult treten, kann man um so kräftiger buhen und pfeifen.[http://vg04.met.vgwort.de/na/b7d1613148b8471da6413f2cb6229a7e] Titelbild: Sigit Stock Vector / Shutterstock
01. Mai 2024 - 11 min

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