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Atombomben zünden im eigenen Land? Speicherseen aus der Erde sprengen mit nuklearen Sprengköpfen, ganze Bergketten pulverisieren für eine Autobahn? Oder gleich einen Durchbruch vom Atlantik zum Pazifischen Ozean mit einigen Nuklearexplosionen graben - und dafür Millionen Menschen umsiedeln? Klingt absurd. Und doch gab es in der Zeit des Kalten Krieges in den USA und der Sowjetunion ernstzunehmende Projekte dazu. Von Markus Mähner (BR 2025) Credits Autor: Markus Mähner Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Burchard Dabinnus, Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Peter Veit Technik: Robin Auld Redaktion: Thomas Morawetz Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Linktipps Deutschlandfunk (2024): Die Atombombe – Wie die schlimmste Waffe aller Zeiten Frieden schaffen soll Russlands Präsident Wladimir Putin droht offen mit seinen Atombomben. Seither diskutiert der Westen wieder über nukleare Abschreckung. Können Atomwaffen tatsächlich Kriege verhindern? Die Geschichte liefert Antworten. JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:8dd99716bce0f2ed/] Deutschlandfunk Kultur (2020): Atomwaffen in Deutschland – Leben mit der Bombe Seit über sechs Jahrzehnten lagern US-amerikanische Atombomben in Deutschland. Im Kalten Krieg waren es tausende, heute sind es knapp zwei Dutzend. Sie schützen uns im Rahmen der Nato, sagen die einen. Sie machen uns zum Angriffsziel, sagen die anderen. JETZT ANHÖREN [https://www.deutschlandfunkkultur.de/atomwaffen-in-deutschland-leben-mit-der-bombe-100.html] Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHER Ein Werbefilm der Amerikanischen Atomenergiebehörde, der AEC… AEC 2: "The 100kT Nuclear Explosion excavated more than 6 Million cubic Yards of Earth in a Matter of Seconds. SPRECHER Er beschreibt begeistert, wie in nur wenigen Sekunden gut viereinhalb Millionen Kubikmeter Erde weggesprengt wurden. AEC 2: The result was a crater more than 12000 Feet in Diameter, the length of 4 Football-Fields and 325 Feet Deep - the height of a 32-storey Building. Created in less time than it takes to describe it." SPRECHER Ein Krater blieb, der so tief war wie ein 32-stöckiges Hochhaus! Wie war das zu schaffen? – Die AEC schwärmt in dem Film von den Folgen eines Kernwaffentests im Testgelände Nevada vom 6. Juli 1962, dem sogenannten Project Sedan. Und diese hocheffiziente Sprengung war angeblich ohne gravierende Nebenwirkungen zu haben. Denn: 95 Prozent der freigesetzten Radioaktivität verblieben im Krater, hieß es. Die restlichen 5 Prozent seien gleich daneben niedergegangen, so die AEC. MUSIK SPRECHERIN Die Wirklichkeit jedoch sah ein wenig anders aus: Tatsächlich war der radioaktive Niederschlag ungefähr fünfmal so hoch wie erwartet. Ein Wissenschaftler mit Studenten von der Universität Utah war zufällig genau an diesem Tag mit Geigerzählern unterwegs. Auch wenn sie über 600 Kilometer von der Sprengung entfernt waren, so war die radioaktive Belastung doch so hoch, dass sie unverzüglich in die Universität zurückkehrten. Noch Monate später wurde – wenn auch nur geringer - radioaktiver Fallout bis in die Nähe von Chicago nachgewiesen. Über 2000 Kilometer entfernt! Heute geht man davon aus, dass durch Sedan etwa 7 Prozent der Bevölkerung der USA, also ungefähr 13 Millionen Menschen radioaktiv belastet wurden. SPRECHER Sedan war nur einer von vielen Kernwaffentests, die die USA im Namen der „friedlichen“ Erforschung dieser unglaublichen Kraft durchführten. Das sogenannte „Plowshare“-Programm sollte zeigen, dass man damit Häfen, Kanäle, Straßen oder Speicherseen bauen könnte. AEC 1: This is the peaceful potential of nuclear explosives that the US is developing for all mankind in a program it calls PLOWSHARE." - Musik SPRECHER „Friedliche Nukleare Sprengungen für den Nutzen der ganzen Menschheit“. Nichts weniger versprach der Werbefilm der AEC. Kaufman 21 Well, I was fascinated by it because I happened to come across it while working on a different project, and I thought: This cannot be true! But it was! It's it's another example of the idea that science has all the answers, when sometimes science doesn't. VO: Ich bin zufällig darüber gestolpert und dachte mir: Das kann nicht wahr sein! Aber es war Wirklichkeit! Ein weiteres Beispiel für die Vorstellung, die Wissenschaft hätte Antworten auf alle Fragen. Aber so ist es einfach nicht! SPRECHERIN Scott Kaufmann, Historiker an der Francis Marion Universität in South Carolina, hat sich ausführlich mit dem Projekt Plowshare beschäftigt und letztlich ein ganzes Buch darüber geschrieben. Darin setzt er sich unter anderem mit seiner eigenen Verwunderung auseinander. Seiner Verwunderung darüber, wie Menschen in den 1950er und 1960er Jahren der Idee verfallen konnten, Kernwaffen im eigenen Land einzusetzen, lediglich, um Gräben – wenn auch recht große – zu graben. Eine Verwunderung, die er heute wohl mit den meisten Menschen teilt. SPRECHER In den Nachkriegsjahren war das anders. Damals galt die Kernenergie als verheißungsvolle Energiequelle für ein paradiesisches Zeitalter: Kaufman 19 [...] We have to keep in mind that there was and I think still is enormous faith in science. [...] And if we look back at the 1950s, which is when Plowshare began, there was this idea that everybody would have their own private plane, that they would fly around. That we [...] would get to the moon by the end of the century and even have bases on the moon. This faith in science and what it could do for us, what it could achieve. And that's a part of Project Ploughshare: This faith in science. You tie into that Dwight Eisenhower's idea that he gave 1953 called „Atoms For Peace“: VO: Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt einen starken Glauben an die Kraft der Wissenschaft. Besonders in den 1950er Jahren, als das Projekt Plowshare anfing. Man dachte: Jeder würde bald seinen Privatjet haben, man würde Mondbasen bauen. Dieser ungebremste Glaube an die Fähigkeiten der Wissenschaft spiegelt sich auch in Dwight D. Eisenhowers berühmter Rede vor den Vereinten Nationen wider, der „Atoms for Peace“-Rede von 1953: Eisenhower: "It is not enough to take this weapon out of the Hands of the soldiers. It must be put in the Hands of those who have the Know-how to strip its military casing and adapt it to the Acts of Peace. The United States knows that if the fearful trend of atomic military build-up can be reversed, this greatest of destructive forces can be developed into a great boon, for the benefit of all mankind. ZITATOR „Wir müssen diese Waffe nicht nur dem Militär wegnehmen, wir müssen ihre zerstörerische Kraft in die Hände derer legen, die sie so weiterentwickeln können, damit sie ein Segen für die gesamte Menschheit wird,…“ Kaufmann 19b [...] So you have that in mind. And add to that the idea that this would be cheaper. It would be faster. You put it all together and you end up with this idea: yes, we can control the atom! Yes, we can make the atom do our bidding! And by doing that, we can use the atom to lead us down the path of progress, the path of modernity and do it far faster and far cheaper than by using conventional means! VO: Und wenn man zu diesen Gedanken auch noch die Vorstellung hinzufügt, es würde alles viel billiger und schneller machbar sein, dann kommt man schnell zu dem Schluss: Ja, wir können die Kraft des Atoms kontrollieren und ihm befehlen was es für uns zu tun hat! MUSIK SPRECHERIN Der Glaube an die Kontrollierbarkeit einer nuklearen Kettenreaktion spiegelt sich nicht nur in Werbefilmen wie „Unser Freund, das Atom“ von Walt Disney aus dem Jahr 1956 wider: SPRECHER 1957 nehmen die USA das erste Kernkraftwerk in Betrieb. Ein Jahr später stellt Ford Pläne für das Nucleon vor, ein mit Atomkraft betriebenes Auto. Gleichzeitig läuft die Nautilus, das erste US-Atom-U-Boot, vom Stapel. MUSIK SPRECHERIN Dass das Atom nicht immer nur unser Freund ist, zeigt wiederum ein Vorfall im März 1958: Ein US-Kampfjet verliert versehentlich eine Atombombe über einer kleinen Farm in South Carolina. Zwar war die Bombe nicht mit spaltbarem Material versehen; der Auslöser explodierte dennoch und hinterließ dort, wo sich einmal die Farm befand, ein 10 Meter tiefes und 25 Meter breites Loch – und einen Zweifel an den Glauben der Beherrschbarkeit des Atoms: Denn was wäre passiert, wenn die verlorene „Atombombe“ tatsächlich spaltbares Material an Bord gehabt hätte? SPRECHER Als der ein wenig aus dem Ruder gelaufene Kernwaffentest „Projekt Sedan“ im Juli 1962 stattfindet, ist das Projekt Plowshare schon viele Jahre alt und bereits in der Krise. Einen Monat später, im August, wird das erste Vorhaben des Plowshare-Programms offiziell als beendet erklärt: das Projekt Chariot, dessen Anfänge schon fast zehn Jahre zurückreichen. Scott Kaufman: Kaufman 1 What they wanted to do was to build a port using nuclear explosives. And the idea was that the port would be located near coal and oil reserves, so that way the people could use the port to ship out the coal and oil. VO: Sie wollten einen Hafen mit Hilfe von Kernwaffen bauen. Ganz in der Nähe von Kohle- und Ölvorkommen, die dann verschifft werden sollten. MUSIK SPRECHERIN Damit wollte man zeigen, welche Möglichkeiten solche Bomben für friedliche Projekte hatten. Dennoch war man sich der Gefahr der radioaktiven Strahlung wohl bewusst. Es musste also in einem wenig besiedeltem Gebiet stattfinden. Arthur Larson, stellvertretender Arbeitsminister in der Regierung Eisenhowers, hatte damals die Idee: ZITATOR „Warum nicht einen einigermaßen abgelegenen Ort – wie zum Beispiel Alaska – finden, der einen Hafen braucht, und die ganze Arbeit mit einer einzigen Explosion erledigen?“ SPRECHERIN Frei nach dem Motto des damaligen US-Verteidigungsministers „Far more bang for the buck!“ - „Mehr Wums für Piepen!" SPRECHER Edward Teller, der „Vater der Wasserstoffbombe“ und glühendster Befürworter des Plowshare-Programms ist begeistert! Und sogleich ist auch ein Ort gefunden: Cape Thompson an der Westküste Alaskas. Einziges Problem: Die Nähe zu Russland. Kaufman 5b If you can't guarantee which way the wind is going to be blowing that day - what if the wind not blows from the west, but blows from the east: You're then going to have radioactivity falling over the Soviet Union, which is not that far away, and the Soviets are not going to be happy about that. VO: Was ist, wenn der Wind an dem Tag nicht aus Westen, sondern aus Osten weht? Dann wird Radioaktivität über der Sowjetunion niedergehen. Die ist nicht weit entfernt. Und die Sowjets werden darüber nicht erfreut sein. SPRECHERIN Dass in dem Gebiet auch eine indigene Bevölkerung wohnt, scheint erst einmal niemanden zu stören. Besonders nicht Edward Teller, der Zweifel darüber, ob diese weiter jagen und fischen könnten, ein für allemal aus dem Weg räumt: MUSIK ZITATOR „Wir interessieren uns nicht dafür, den Eskimo als Jäger zu erhalten. Wir wollen ihm die Gelegenheit verschaffen, in einer Kohlenmine zu arbeiten.“ SPRECHERIN Um die Bevölkerung in der 30 Meilen von Cape Thompson entfernten Stadt Point Hope zu beschwichtigen, reist im August 1958 Gary Higgins dorthin, leitender Wissenschaftler des Plowshare-Programms. Er versichert den Bewohnern, die freigesetzte Radioaktivität sei ungefährlich. Es könnten lediglich einige Scheiben in ihren Häusern kaputt gehen. Und ja, die müssten sie ohnehin für so ungefähr ein Jahr verlassen – nur um sicher zu gehen. Falls irgendetwas schieflaufen würde - was eigentlich unvorstellbar sei – dürften sie selber entscheiden, ob sie zurückkehrten oder nicht. SPRECHER Doch Higgins spricht lediglich mit den aus den USA zugezogenen Bürgern, nicht mit den Ureinwohnern, den Inupiat – die von der AEC stark unterschätzt werden: Nicht nur schreiben sie Briefe mit Bitte um Aufklärung an die Atomenergiebehörde, sie unterrichten auch andere Indigene aus ganz Alaska, was die US-Regierung mit ihrem Land vorhat. Daraus entsteht die erste landesweite Zeitung für Indigene. Kaufman 4 You had indigenous people, Eskimos, living in the area who said: We're very well aware of what happened to Hiroshima. We're very well aware of other accidents that have taken place with nuclear explosives, such as one near Bikini Atoll that ended up killing a Japanese sailor and injuring others because of the fallout. And they said: we have no evidence that you can do this safely. And there is no way that we are going to support this if you can't do this safely. And the opposition of those individuals in Alaska expanded to include scientists, politicians and others throughout the country. It became nationally known what the Atomic Energy Commission wanted to do and generated intense opposition. VO: Die Indigenen aus der Gegend sagten: Wir wissen genau, was in Hiroshima passiert ist. Wir kennen auch andere Unfälle mit nuklearen Sprengstoffen, wie zum Beispiel dem nahe des Bikini-Atolls, bei dem ein japanischer Matrose starb und andere durch den radioaktiven Niederschlag verseucht wurden. Es gibt keine Belege dafür, dass dies hier nicht passiert. Und solang dies der Fall ist, werden wir das auf keinen Fall unterstützen. Und der Widerstand dieser Indigenen in Alaska wurde landesweit bekannt und löste heftigen Widerstand in den ganzen Vereinigten Staaten aus. SPRECHERIN Das Problem war also größer als gedacht. Da half es auch nicht, dass die AEC bereits im Jahr 1959 – Alaska war soeben 49. Bundesstaat der USA geworden - Wissenschaftler in das Gebiet sandte, um Umweltverträglichkeitsuntersuchungen anzustellen. Kaufman 5 The Atomic Energy Commission, the AEC, did hire scientists, local scientists, who conducted what were called bioenvironmental surveys to try to learn more about the geology, the geography, the plants, the animals, the people living in the area. And what they were discovering was if you test something like this, if you conduct this experiment it increasingly became clear you're going to have an enormous amount of fallout that is going to cause radioactive that can have enormous amount of fallout that's going to affect the plants on which the reindeer eat - the reindeer which the locals eat. It's going to get in their systems. It is going to cause immense harm to the local ecology, is going to cause immense harm to the human population. And this would be an absolute disaster. VO: Man wollte mehr über die Geologie, Geographie, Pflanzen, Tiere und Menschen in der Region erfahren. Dabei wurde immer deutlicher: Wenn man solche Tests durchführt, kommt es zu enormen Mengen radioaktiven Niederschlags, der von den Pflanzen aufgenommen wird. Und die werden von den Rentieren gegessen. Und die Rentiere werden von der lokalen Bevölkerung gegessen. Es wird also sowohl der lokalen Ökologie als auch der Bevölkerung enormen Schaden zufügen. Das wäre eine absolute Katastrophe. SPRECHER Denn die nukleare Sprengkraft, um die es hier ging, war um einiges höher als man das bisher kannte. Kaufman 2 It started out around 500 kilotons and they reduced it to about 260 kilotons. So they kept changing the amount, but we're still talking about a huge amount of explosives. Just to give you an idea what I'm talking, what I'm explaining here: The bomb that was used in Hiroshima, Japan, that killed 100,000 people was 17 kilotons, so 17,000 tons of TNT. At Chariot we're talking about at a minimum. 260 to 280 kilotons, so many times more powerful than what was used on Japan. VO: Sie begannen mit einer Sprengkraft von etwa 500 Kilotonnen. Die wurde später auf etwa 260 Kilotonnen reduziert. Es handelt sich aber dennoch um eine riesige Menge Sprengstoff: Die Bombe, die in Hiroshima eingesetzt wurde und 100.000 Menschen tötete, hatte 17 Kilotonnen, also 17.000 Tonnen TNT. Bei Chariot sprechen wir von mindestens 260 bis 280 Kilotonnen, also um ein Vielfaches stärker als die Atombombe von Hiroshima. MUSIK SPRECHERIN Als dann auch noch die Forscher, die man nach Kap Thompson entsandt hatte, zu vehementen Gegnern des Projekts werden und öffentlich dagegen Stimmung machen – allen voran der Geograph Don Foote und die Biologen Leslie Viereck und William Pruitt – gerät das Projekt Chariot immer mehr ins Stocken. Im August 1962 wird Chariot endgültig offiziell als beendet erklärt. Da hat es bereits nahezu 4 Millionen Dollar aufgefressen. Ein Hafen entstand zwar nicht, aber etwas vielleicht viel Wichtigeres: Kaufman 7 Yes, we learned a lot about the people, about the animals, about the plants, the geography of that region. So certainly in that respect, Chariot provided us with an enormous amount of information. But luckily the blast itself did not take place. VO: Ja, wir haben eine Menge über die Menschen, die Tiere, die Pflanzen und die Geographie dieser Region gelernt. Ein Glück, dass die Sprengung nicht stattgefunden hat. MUSIK SPRECHER Ein Grund, warum man sich Anfang der 1960er Jahre immer weniger für den Hafen am Cape Thomson interessiert, ist wohl auch, dass ein anderes, viel größeres Projekt immer mehr Form annimmt. Ein Projekt, das als zentrales Vorhaben des Plowshare-Programms gilt, und für das wohl auch der Hafen in Alaska nur als Testlauf geplant war: AEC 5: "The most dramatic example so far is in central america… SPRECHER … der Bau eines neuen Mittelamerika-Kanals - als Alternative zum engen Panama-Kanal. SPRECHERIN Der bereits 1904 gebaute Panamakanal war mit dem Wirtschaftsboom der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zu klein geworden. Und so entstand in den 1950er Jahren die Idee, einen neuen Kanal zu bauen. Kaufman 9 There's two things to keep in mind about the Panama Canal: It is not a Sealevel Canal it uses a set of locks to raise and lower ships between the Atlantic and Pacific Oceans and vice versa. And the locks are only about 1100 feet long. And they're about 110 feet wide. That restricts the size of ships that can use the Panama Canal. [...] The other issue is what if somebody, whether it be a government, a terrorist organization, decided to make life as difficult as possible for the United States by launching an attack internally or externally against the locks? If you damage those locks, the canal becomes unusable. And for the United States, which relied very heavily on those locks, not only descend commercial ships through the canal, but also military ships. That was very worrisome. VO: Beim Panamakanal gibt es zwei Dinge zu beachten: Er ist kein Meeresspiegelkanal, sondern nutzt Schleusen zum Heben und Senken von Schiffen zwischen Atlantik und Pazifik und umgekehrt. Die Schleusen sind nur etwa 330 Meter lang und etwa 33 Meter breit. Das schränkt die Größe der Schiffe ein, die den Panamakanal nutzen können. [...] Und: Was wäre, wenn jemand - sei es eine Regierung oder eine Terrororganisation - einen Angriff auf die Schleusen startet? Werden diese Schleusen beschädigt, wird der Kanal unbrauchbar. Und für die Vereinigten Staaten, die stark auf diese Schleusen angewiesen waren, war es sehr beunruhigend, da nicht nur Handelsschiffe, sondern auch Militärschiffe den Kanal passierten. MUSIK SPRECHERIN Deswegen wollte man einen neuen Kanal bauen, der keine Schleusen benutzte. Doch ohne eine „saubere Bombe“, also eine nukleare Sprengung, die praktisch keinen radioaktiven Fallout verursacht, konnte man dieses Projekt nicht umsetzen. Kaufman 3 People who were involved in Project Plowshare, both scientists and non scientists, such as members of Congress, believed that it was possible to control the atom, to control the amount of radioactive fallout. So what they want to do was to create what they called „a clean explosive“, one that would have very little radioactive fallout, cause very little radioactivity and not pose a danger to plants, animals or humans in the area. VO: Alle, die am Projekt Plowshare beteiligt waren, glaubten, dass es möglich sei, das Atom und die Menge des radioaktiven Niederschlags zu kontrollieren. Sie wollten daher einen sogenannten „sauberen Sprengstoff“ entwickeln, der nur wenig radioaktiven Niederschlag und Radioaktivität verursacht und keine Gefahr für Pflanzen, Tiere oder Menschen in der Umgebung darstellt. MUSIK SPRECHERIN Eine Entwicklung die nur mit dem uneingeschränkten Glauben an die grenzenlosen Fähigkeiten der Wissenschaft möglich ist. SPRECHER Ein Glaube, den die Atomenergiebehörde zweifellos hatte: AEC 4: Safety and Technology - the two inseperatable Parts of the Plowshare program" SPRECHER Sicherheit und Technologie – zwei untrennbare Teile des Plowshare Programms. SPRECHERIN Die Wirklichkeit sah anders aus. Scott Kaufman: Kaufman 3b: The problem was: Trying to develop a clean explosive proved very, very difficult and ultimately was one of the reasons why Plowshare failed. VO: Plowshare scheiterte schließlich daran, dass sie es nicht schafften, eine „saubere Bombe“ zu entwickeln. SPRECHER Und somit scheiterte auch der Plan eines zweiten Mittelamerika-Kanals. Denn hierfür wäre eine unvorstellbare Sprengkraft nötig gewesen – selbst für die kürzeste geplante Route. Kaufman 10 [...] But we're talking about now, not kilotons of explosives, but megatons - many, many megatons of explosives! We´re talking about hundreds of megatons to build either one of those waterways. To give you an example: what I'm talking about: to build the Sasarti-Morti one of the explosives would have to be 35 megatons. Now that would make it over 2000 times as powerful as the bomb used on Hiroshima, Japan. [...] Now that's just we're talking about one explosives of hundreds of various sizes that would have to be used. [...] And by the end of 1963 you have something called a limited test ban treaty, which banned any above ground or atmospheric nuclear test that could lead to fallout over another nation's borders. Well, if you're exploding a bomb of 35 megatons, you're going to have fallout over another nations borders. Especially we're talking about countries as small as Costa Rica, Nicaragua and Panama. Unless you can build a truly clean explosive which the Atomic Energy Commission never achieved, you're not going to be able to build a canal as they were. VO: Wir sprechen hier nicht nur von Kilotonnen Sprengstoff, sondern von Megatonnen – vielen, vielen Megatonnen Sprengstoff! Wir sprechen von Hunderten von Megatonnen für den Bau einer dieser Wasserstraßen. Für den Bau müsste eine Bombe 35 Megatonnen stark sein. Das wäre über 2000-mal stärker als die Hiroschima-Bombe. Das wäre aber nur eine Bombe von Hunderten, die eingesetzt werden müssten. Ende 1963 wurde ein Atomteststoppvertrag geschlossen, der alle oberirdischen oder atmosphärischen Atomtests verbot, die zu radioaktivem Niederschlag über den Grenzen anderer Länder führen könnten. Wenn man eine solche Bombe zündet, wird der radioaktive Niederschlag sicherlich über den Grenzen anderer Länder niedergehen. Besonders über so kleine Länder wie Costa Rica, Nicaragua und Panama. Solange man aber keinen wirklich sauberen Sprengstoff herstellen kann - was der AEC auch nie gelungen ist - wird man keinen solchen Kanal jemals bauen können. MUSIK SPRECHERIN Zusätzlich zu dem radioaktiven Niederschlag wären wohl auch durch solche Sprengungen unterirdische Erschütterungen entstanden, die Erdbeben-ähnliche Ausmaße angenommen hätten. Etliche Gebäude wären beschädigt oder sogar komplett zerstört worden. Der Bau eines Kanals entlang der Grenze von Costa Rica und Nicaragua hätte wohl auch die beiden Hauptstädte der Länder, San José und Managua, betroffen. Man ging davon aus, dass man weit über eine Millionen Menschen hätte umsiedeln müssen. Kaufman 12 ...and for how long? I mean, are we talking about moving them for a few months? For a year? Permanently? Nobody seemed to know! SPRECHER Und für wie lange, auch das schien keinem klar zu sein, sagt Scott Kaufman. MUSIK SPRECHERIN Ein weiteres gescheitertes Projekt des Plowshare-Programs war das sogenannte Rulison-Projekt. Hier sollte durch eine Explosion ein unterirdisches Gas- und Ölfeld in Colorado erschlossen werden – im Grunde eine Art Fracking mit Nuklearsprengköpfen. Kaufman 16: Now did it work? Well, yes, Rulison did cause a chimney. Yes, natural gas did flow into the chimney created by the blast. But there were [...] big problems with it: [...]: The gas was radioactive and even though the AEC argued the level of radioactivity was safe, and when you're asking customers to buy irradiated natural gas to use in their homes, they're not going to do it. VO: Hat es funktioniert? Nun ja, Rulison hat tatsächlich einen Schornstein verursacht, in den Erdgas strömte. Aber es gab große Probleme damit: Denn das Gas war radioaktiv, und obwohl die AEC argumentierte, der Radioaktivitätsgrad sei unbedenklich, fand man keine Kunden, die radioaktives Gas zuhause benutzen wollten. MUSIK SPRECHER Anders als in den USA wurden in der Sowjetunion etliche Gasvorkommen so erschlossen. Und nicht nur das: Dämme und Speicherseen wurden mittels Kernwaffen-Explosionen gebaut. Das Programm „Atomexplosionen für die Volkswirtschaft“ lief auch viel länger als das US-Pendant „Plowshare“, das 1978 eingestellt wurde; nämlich bis zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1989. SPRECHERIN Doch war die Sowjetunion wirklich erfolgreicher mit der praktischen Anwendung von Nuklearsprengköpfen? Schafften sie es im Gegensatz zur AEC eine „saubere Bombe“ zu entwickeln? Kaufman 23 Well we have to keep in mind that the Soviet Union, the communist system has seen the environment as something to be exploited for the benefit of the state. Plus: you have a very secretive system, one where the Communist Party controls the media, controls information, and so you put those two things together and it makes it easier for the Soviets to conduct these kinds of experiments and not have the people know. And again: the idea is: You were doing this for the benefit of the state? So who cares? The end result though is you have some areas of the Soviet Union that are in terrible shape. Of course we have Chernobyl. We have Lake Chagan, we've got rivers in the Soviet Union that are still radioactive. Yes, it has had some successes. But in many respects has caused so much damage to the Soviet Union to harm so many people. VO: Wir müssen bedenken, dass die Sowjetunion die Umwelt als etwas betrachtete, das zum Vorteil des Staates ausgebeutet werden konnte. Hinzu kommt, dass die Kommunistische Partei die Medien und die Informationen kontrollierte. Diese Kombination erleichterte es den Sowjets, solche Experimente durchzuführen, ohne dass die Bevölkerung davon erfuhr. Das Endergebnis sind jedoch einige Gebiete der Sowjetunion, die in einem schrecklichen Zustand sind. Es gibt den Tschagan-See und Flüsse in der Sowjetunion, die immer noch radioaktiv sind. Ja, es gab einige Erfolge. Aber in vielerlei Hinsicht hat es der Sowjetunion großen Schaden zugefügt. MUSIK SPRECHERIN Auch wenn die Vorstellung Kernwaffen im eigenen Land für Bauvorhaben einzusetzen, heutzutage abschreckend und unglaublich erscheint: Ganz vom Tisch sind solche Gedankengänge nicht. Kaufman 15 + 22 Well, I think whatever you're talking about, any kind of a nuclear explosion - clean or not - it's going to raise serious concerns. But the idea is still out there. In 2010, the Deepwater Horizon Oil rig caught on fire, exploded in the Gulf of Mexico. 10s of thousands, if not millions of gallons of oil coming to the surface, and so one reporter for CNN said: Why don't put a nucleus close of down in the well and seal it. That never happened, but the idea was out there. And then President Trump, in his first term, talked about using nuclear explosives to try to divert hurricanes or even stop them entirely. Now that idea, I would argue, was as crazy as his proposal to inject bleach to deal with COVID. It would have released enormous amounts of radioactivity. But again, the idea was out. I argue that the idea died back in the 1970s, but given you have people talking about it like Donald Trump as recently as about 2017/2018, who knows....? VO: Ich denke, jede Art von Atomexplosion – ob sauber oder nicht - wird ernsthafte Bedenken hervorrufen. Aber die Idee ist immer noch da. 2010 explodierte im Golf von Mexiko die Ölplattform Deepwater Horizon. Millionen Liter Öl strömten ins Meer. Und da sagte ein CNN-Reporter: Warum platzieren wir nicht einen Atomsprengkopf in der Bohrung und versiegeln sie? Das geschah nie, aber die Idee war da. Und dann sprach Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit davon, mit Atomsprengstoffen Hurrikans abzulenken oder sogar ganz zu stoppen. Diese Idee, würde ich behaupten, war genauso verrückt wie sein Vorschlag, Bleichmittel gegen Covid zu injizieren. Aber trotzdem war sie da. Eigentlich starb ja die Plowshare-Idee in den 1970er Jahren. Wenn man allerdings solche Reden von Donald Trump hört... wer weiß?

Robert Oppenheimer hat mit der Atombombe eine Massenvernichtungswaffe entwickelt, die die gesamte Menschheit bedroht. In seiner Person verdichtet sich die Frage nach den Grenzen der technischen Machbarkeit und der Verantwortung des Wissenschaftlers. Von Brigitte Kohn Credits Autorin: Brigitte Kohn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Peter Weiß, Christian Baumann Technik: Susanne Herzig Redaktion: Andrea Bräu Im Interview: Dr. Alexander Blum Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2025 Linktipps Deutschlandfunk Kultur (2021): Nukleare Bedrohung – Atomwaffen kontrollieren – oder verbieten? Atomwaffen verbieten - einen entsprechenden Vertrag haben 122 Staaten unterzeichnet. Nicht dabei: die Nuklearmächte. Und für die Bundesregierung ist Rüstungskontrolle realistischer als ein Verbot. Über die reden die USA und Russland immerhin wieder. Moderation: Monika van Bebber. JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:8a0a3b173c82ffe2/] NDR (2021): Nichtverbreitungsvertrag zu Atomwaffen auf der Kippe? Nichtverbreitungsvertrag zu Atomwaffen auf der Kippe? Der mehr als 50 Jahre alte sogenannte Atomwaffensperrvertrag soll die nukleare Abrüstung voranbringen. Doch die Atommächte modernisieren ihre Arsenale. Hat der Nichtverbreitungsvertrag noch eine Zukunft? JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:147018b3d7254cdd/] Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLERIN: Aus dem Protokoll der Anhörung des Physikers Julius Robert Oppenheimer durch die US-amerikanischen Atomenergiekommission im Jahr 1954: FRAGESTELLER – Zitator 1 Mr. Oppenheimer. Sie hatten schreckliche moralische Skrupel? OPPENHEIMER – Zitator 2 Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte. FRAGESTELLER: Zitator 1 Ist das nicht ein bisschen schizophren? OPPENHEIMER: Zitator 2 Was? Moralische Skrupel zu haben? MUSIK ERZÄHLERIN 50 Jahre zuvor. Robert Oppenheimer wird am 22. April 1904 in New York geboren. Beide Eltern, ein Textilingenieur und eine Malerin, sind Juden und haben deutsche Wurzeln. Der Vater ist mit 17 Jahren nach New York gekommen und hat es hier zu Reichtum gebracht. Robert ist der ältere von zwei Söhnen, ein sensibles und ungeheuer aufgewecktes Kind mit dichten schwarzen Locken und ausdrucksvollen wasserhellen Augen. Beide Eltern vergöttern ihn und fördern ihn nach Kräften. Ihre Ansprüche an Roberts Leistungsbereitschaft und auch an die innerfamiliäre Harmonie sind hoch, und das erzeugt manchmal Druck. ERZÄHLER: Er sei ein gehorsamer und grässlich guter Junge gewesen, sagt Oppenheimer später von sich selbst. Was ihm gefehlt habe, sei die gesunde Möglichkeit gewesen, sich auch mal danebenzubenehmen. ERZÄHLERIN: Die Eltern sind fortschrittlich eingestellt und nicht religiös. Sie schicken ihren Sohn auf die Schule der Society for Ethical Culture, Gesellschaft für ethische Kultur, die sich einem weltlichen jüdischen Humanismus verpflichtet fühlt, sagt Alexander Blum, Physikhistoriker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. 01 O-TON DR. BLUM Seine Eltern wollten sich assimilieren in der amerikanischen Haute Volee. Die religiösen Traditionen waren nicht wichtig, aber gewisse kulturelle Elemente des Judentums kann man durchaus wiedererkennen. Es ist ein sehr optimistisches Weltbild, ein Weltbild, wo auch der Verstand und die Wissenschaft als positive Kräfte gesehen werden, die, wenn der Mensch sie zu gebrauchen weiß, die Welt zu einem besseren Ort machen können. MUSIK ERZÄHLERIN: Die Schule betont die Handlungsfähigkeit und die moralische Verantwortung des Einzelnen. Vom Menschen hänge alles ab, der Mensch dürfe sich viel zutrauen, er müsse sich aber auch stark in die Pflicht nehmen. Die Erwartungen sind also auch hier sehr hoch. Der Glaube an eine übergeordnete, göttliche Instanz, die lenkt oder schützt, spielt kaum mehr eine Rolle. ERZÄHLER: Oppenheimers enger Freund, der Physiker Isidor Isaac Rabi, überliefert in späteren Jahren, Oppenheimer habe skeptisch auf seine Schulzeit zurückgeblickt. Die übermittelten Moralvorstellungen hätten seine Fragen nach der Stellung und Aufgabe des Menschen im Universum nicht zufriedenstellend lösen können. ERZÄHLERIN: Aber es gibt viele engagierte Lehrer an dieser Schule, die Robert vor allem für die Naturwissenschaften begeistern, aber auch für alles andere: moderne Literatur, Sprachen, Philosophie, Psychologie. Seine vielseitigen Begabungen verführen ihn oft dazu, sich zu zerfleddern, sich zu viel zuzumuten und sich von Gleichaltrigen, die ihn manchmal hart schikanieren, zu isolieren. ERZÄHLER: Auch an der Universität Harvard bedeuten ihm Bücher mehr als Freunde, und sein ruheloser Geist probiert sich ohne festen Plan in zahlreichen Fächern aus. Aber die Physik fesselt ihn auf Dauer am meisten, denn sie bietet mehr Neuland als jede andere Wissenschaft. 02 O-TON DR. BLUM Da hat sich wahnsinnig viel getan um die Jahrhundertwende. Paul Dirac, einer der Pioniere der Quantenmechanik, beschreibt die Zeit als das Goldene Zeitalter der Physik, in der jeder mittelmäßige Physiker erstklassige Entdeckungen machen konnte, weil mit der Quantenmechanik ein ganz neuer mathematischer Rahmen gegeben war, mit der man die Welt in einem ganz neuen Blickwinkel betrachten konnte. ERZÄHLERIN: Nach seinem Abschluss in Harvard geht Oppenheimer nach Europa, denn dort lehren die führenden Kapazitäten. 03 O-TON BLUM: Anders als bei der Relativitätstheorie, die man auf einen Menschen, letztlich auf Einstein, zurückführen kann, war die Quantenmechanik wirklich ein kollaboratives Projekt, zu dem Wissenschaftler in verschiedenen Zentren, die über Europa verstreut waren, beigetragen haben. Und Oppenheimer hat die eigentlich alle abgehakt. Er ist von Cambridge nach Leiden zu Ehrenfest, war dann in Göttingen bei Max Born, in Zürich bei Wolfgang Pauli. Diese Generation, etwas älter als er, die die Quantenmechanik begründet haben, da hat er wirklich bei allen vorbeigeschaut. ERZÄHLERIN: Oppenheimers Lehrer finden ihn begabt und kreativ, aber auch sprunghaft und arrogant. Und ungeschickt. Beim Experimentieren im Labor gehen ihm oft die Instrumente zu Bruch. Von Einsamkeit und Versagensängsten gequält, gerät er in eine tiefe seelische Krise. MUSIK ERZÄHLER: Manchmal fühlt er sich wie versteinert, dann wieder kochen die Aggressionen hoch. Dem Laborleiter will er mal einen vergifteten Apfel aufs Pult gelegt haben, so kolportiert er es selbst – doch sicher belegt ist das nicht, manche führen die Geschichte auf seine überhitzte Phantasie zurück. ERZÄHLERIN: Langsam findet Oppenheimer wieder in die Spur, dank seiner wachsenden Liebe zur theoretischen Physik. Quantentheoretisch und mathematisch, bisweilen auch philosophisch orientiert, bietet sie ihm den Zufluchtsraum des abstrakten Denkens und bringt ihm die Geheimnisse des Universums näher. Wenige Jahre später wird sie ihm die Grundlagen für den Atombombenbau liefern – mit verheerenden Folgen. 04 O-TON Dr. BLUM: Alles, was Oppenheimer gemacht hat, von seinen ersten Arbeiten zu Molekülen bis hin zur Atombombe, das war alles Quantenphysik, letztlich. ERZÄHLERIN: 1929 tritt er eine Stelle an der Universität von Berkeley in Kalifornien an und macht die Quantenphysik auch in Amerika bekannt. Seine Studenten verehren ihren jungen exzentrischen Lehrer, der immer mit seinem geliebten breitkrempigen Hut und einer Zigarette im Mundwinkel vor der Tafel steht und gern auch mal privat ein paar Drinks ausgibt. Neben seiner Lehrtätigkeit schreibt Oppenheimer viel beachtete Aufsätze, unter anderem zur Zusammenführung von Quantentheorie und Relativitätstheorie. MUSIK ERZÄHLER: Allerdings ist er oft zu ungeduldig und sprunghaft, um alle Probleme im Detail zu durchdenken. Eigenschaften, die er wohl auch ab dem Jahr 1942, als er für das so genannten „Manhattan-Projekt“, die Entwicklung der Atombombe arbeitet, auch nicht ganz ablegen kann. Der Physiker Oppenheimer hätte im Laufe seines Lebens eigentlich gerne, wie so einige seiner damaligen Kollegen, einen Nobelpreis gewonnen, doch die zeitaufwändige Leitung des „Manhattan-Projekts“ hat ihm das möglicherweise auch vermasselt. Dazu der Physikhistoriker Alexander Blum: 05 O-TON DR. BLUM: Wenn man das Manhattan-Projekt rausschneidet und sich nur die Arbeiten anguckt, die er letztendlich geschrieben hat, dann ist er ein solider, aber nicht herausragender Physiker im 20. Jahrhundert. Er hat sich mit Fragen beschäftigt, die dann sehr wichtig wurden, und die Frage ist immer: Wenn er nicht der Leiter des Manhattan-Projekts gewesen wäre, sondern sich der reinen Wissenschaft hätte widmen können, ob er dann nicht gewisse Entdeckungen gemacht hätte, die andere dann stattdessen gemacht haben. MUSIK ERZÄHLERIN: Entspannung findet der ehrgeizige junge Dozent in der Wüste von New Mexico, eine Landschaft, in die er sich verliebt hat und die er oft besucht, um sie auf langen Ausflügen auf dem Pferderücken zu erkunden. Reiten ist seine Passion, außerdem die Literatur und das Studium des Sanskrit. Die Bhagavad Gita, eine jahrtausendealte heilige Schrift des Hinduismus, zieht ihn sein Leben lang in ihren Bann. ERZÄHLER: Die Bhagavad Gita lehrt die Menschen unter anderem, die Pflichten ihres Standes zu erfüllen und die Pflichten anderer Stände zu respektieren, ohne sich einzumischen. Die Konsequenzen von Handlungen seien abhängig vom Zusammenwirken der Stände und vom Wirken einer höheren Macht, aber nicht vom Willen und den ethischen Maßstäben eines Einzelnen. ERZÄHLERIN: Der Gedanke der Pflichterfüllung gibt Oppenheimer innere Ruhe. Er kann nun die Fragen nach Gut und Böse und individueller Verantwortung, die seine Jugend geprägt haben, zugunsten der Frage zurückstellen, was er selbst zum Gesamtzusammenhang beitragen kann. Und da liegt für ihn die Antwort auf der Hand: Es sind seine wissenschaftlichen Fähigkeiten, die die Gesellschaft braucht; für andere Bereiche gibt es andere Experten. MUSIK Doch die Weltwirtschaftskrise verursacht seit Anfang der Dreißigerjahre viel Not und stört den Gesamtzusammenhang erheblich. 1933 ergreift Hitler in Deutschland die Macht. ERZÄHLER: Das erfüllt Oppenheimer mit Wut und Sorge um das Schicksal der deutschen Juden. Aber es gibt für ihn eine andere Lehre, die verspricht, Gerechtigkeit herzustellen und die verstörte Welt zu heilen: Das ist der Kommunismus. Oppenheimer interessiert sich dafür wie viele andere junge Intellektuelle auch. Zwar tritt er nie in die Kommunistische Partei der USA ein, aber er beteiligt sich an vielen Aktivitäten und knüpft viele Freundschaften, auch zu Frauen. Er ist selbstsicherer und geselliger geworden und gilt sogar als sehr charmant. MUSIK ERZÄHLERIN: Die Medizinerin Jean Tatlock, ist Oppenheimers erste große Liebe. Sie ist oft schwermütig, melancholisch. Sie setzt ebenfalls Hoffnungen auf den Kommunismus. Die beiden fühlen sich eng verbunden, aber es ist kompliziert, und Jean schreckt vor einer Ehe zurück. ERZÄHLER: 1940 heiratet Oppenheimer eine andere, die Botanikerin Katherine Puening Harrison, genannt Kitty. Sie bekommen einen Sohn und eine Tochter. Seit 1942 lebt die Familie in Los Alamos, New Mexico, denn der inzwischen 38jährige Oppenheimer hat die Stelle des wissenschaftlichen Leiters des Manhattan-Projekts bekommen, das die erste Atombombe der Welt entwickeln soll. Man will schneller sein als Hitlerdeutschland, wo man ähnliche Aktivitäten vermutet. 07 O-TON BLUM: Die sehr reelle Möglichkeit einer Nazibombe war für die meisten das Hauptargument, da mitzumachen, und ich würde auch sagen, ein völlig legitimes Argument. ERZÄHLERIN: Mehrere Hundert Menschen arbeiten in Los Alamos, darunter exzellente Physiker aus verschiedenen Ländern. Oppenheimer ist ein guter Leiter, der die Leute motivieren, Ergebnisse zusammenführen und die Arbeit zügig vorantreiben kann. ERZÄHLER: Wenn man ein Wissenschaftler sei, so glaube man, dass es gut sei, herausfinden, wie die Welt funktioniert, sagt er später. Wenn man auf reizvolle technische Herausforderungen stoße, dann packe man sie an und arbeite so lange an ihnen, bis man Erfolg habe. Und so sei es auch bei der Atombombe gewesen. 08 O-TON DR. BLUM: Man sitzt da in der Wüste, während draußen die Welt brennt und man weiß, man ist dabei, das alles zu entscheiden, und das würde die Welt dann auch grundlegend verändern, das ist schon alles sehr aufregend. MUSIK ERZÄHLERIN: Kitty Oppenheimer ist mit ihrem isolierten Hausfrauendasein im Schatten einer bedrohlichen Zukunft unzufrieden und trinkt viel zu viel. Robert magert ab und raucht ununterbrochen. Als er sich einmal eine Stippvisite nach Berkeley mit Übernachtung bei seiner Ex-Geliebten Jean Tatlock gestattet, beschatten Agenten der US-Armee ihr Treffen. Es wird das letzte sein, denn Jean geht es schlecht. 1944 bringt sie sich um. ERZÄHLER: Sie sei froh, einer kämpfenden Welt die Last ihrer gelähmten Seele abnehmen zu können, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief. ERZÄHLERIN: Auch im Labor gibt es Konflikte. Hitlerdeutschland steuert seinem Untergang entgegen, auf die Existenz einer Nazibombe deutet nichts hin, und immer mehr Physiker von Los Alamos zweifeln an Sinn und Zweck ihres Tuns. Aber Oppenheimer ist ziemlich gut darin, ihnen die Skrupel auszureden. Im Mai 1945 kapituliert Deutschland, und Präsident Harry Truman beschließt, die Bombe über Japan abwerfen zu lassen, einem Mitglied der feindlichen Achsenmächte, das sich gegen die Kapitulation sinnloserweise noch sträubt. ERZÄHLER: Truman wird den Abwurf der Atombombe sein Leben lang mit dem Argument verteidigen, sie habe den Krieg abgekürzt und „das Leben Abertausender junger Amerikaner“ gerettet. Viele Projekt-Mitarbeiter damals und Historiker heute vermuten eher, die Bombe sei eingesetzt worden, um den Anteil der Sowjetunion am Sieg und damit auch den Einfluss der kommunistischen Großmacht in der Nachkriegszeit zu schmälern. ERZÄHLERIN: In Los Alamos finden damals jedoch viele, das sei kein ausreichender Grund, um eine Massenvernichtungswaffe mit unkalkulierbarer Zerstörungskraft gegen die japanische Zivilbevölkerung zu richten, noch dazu ohne Vorwarnung und ohne letztes Ultimatum. Sie wollen Präsident Truman dazu bewegen, sich auf einen demonstrativen Test zu beschränken. ERZÄHLER: Oppenheimer wehrt das Ansinnen heftig ab. Leute, die nichts von der japanischen Mentalität verstünden, sollten die Entscheidung besser militärischen Experten überlassen, hält er dagegen und setzt sich durch. MUSIK ERZÄHLERIN: Und so berät er das Militär bei der Auswahl der zu bombardierenden Städte und versorgt die Piloten mit genauen Anweisungen zu Wetterlage und Flughöhe, damit der zu erwartende Schaden möglichst groß ausfällt. Die Welt soll sehen, welche Risiken das nukleare Zeitalter bereithält, und das Kriegsführen im Zukunft einstellen. Alexander Blum geht davon aus … 09 O-TON BLUM: … dass er mehr wollte, als einfach nur der Vater der Atombombe zu sein, sondern er wollte der Vater des durch die Atombombe entstandenen Weltfriedens sein. Da hat er sich wohl auch zurechtgelegt, dass, wenn die Atombombe wirklich das Ende aller Kriege darstellen sollte, dann werde sie wohl auch einmal im Krieg eingesetzt werden müssen. ATMO Atombombe ERZÄHLERIN: Am 6. August 1945 legt die Atombombe Hiroshima in Schutt und Asche, drei Tage später fällt eine weitere auf Nagasaki. Zehntausende Menschen sterben in Sekunden, Zehntausende Monate und Jahre später an den Folgen ihrer Verletzungen oder der Strahlung. Das Trauma dieser ungeheuren Zerstörung wirkt in Japan und in der Welt bis heute nach. ERZÄHLER: Nun bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten. So heißt es, frei übersetzt, in der Bhagavad Gita. ERZÄHLERIN: Die amerikanische Öffentlichkeit feiert ihn als den neuen Prometheus, der den Menschen das atomare Feuer gebracht und den Krieg beendet habe. MUSIK Doch Oppenheimer selbst fällt in eine Depression. Die zahllosen Toten belasten ihn unendlich, und dass die Atombombe nötig gewesen sei, um den Frieden herbeizuführen, daran zweifelt er irgendwann auch. ERZÄHLER: Sein Zustand sei schrecklich gewesen, überliefert seine Frau Kitty. Sie habe nicht gewusst, wie es weitergehen solle. ERZÄHLERIN: Doch eine Hoffnung bleibt Oppenheimer: dass die Menschheit des nuklearen Zeitalters die Gefahr ihrer atomaren Vernichtung ernst nehmen und lernen könne, in Frieden zu leben. 1947 wird er Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton und setzt sich als Berater der Regierung und der amerikanischen Atomenergiebehörde für internationale Waffenkontrollabkommen ein. Die Wissenschaftsgemeinde unterstützt ihn, doch viele Kollegen finden ihn zu nachgiebig und schwach im Umgang mit Politikern. ERZÄHLER: Im Gespräch mit dem US-Präsidenten legt er seine Schuldgefühle offen: Er habe Blut an seinen Händen, sagt er. Peinlich berührt befiehlt Truman seiner Sekretärin, ihm Oppenheimer, das Cry-Baby, künftig vom Hals zu halten. MUSIK ERZÄHLERIN: Seit 1949 verfügt auch die Sowjetunion über eine Atombombe. Das Wettrüsten des Kalten Krieges beginnt, die Atomwaffenarsenale wachsen. Die US-Regierung beschließt die Entwicklung einer Wasserstoffbombe mit noch sehr viel höherem Vernichtungspotential. Oppenheimer steuert ein paar wissenschaftliche Ratschläge bei, aber das Sofortprogramm geht ihm zu schnell, er plädiert für Verhandlungen mit den Sowjets. Damit macht er sich die Atomenergiebehörde zum Feind – die zudem von der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära befeuert wird. ERZÄHLER: Man wirft Oppenheimer Folgendes vor: erstens, dem Kommunismus zugeneigt zu sein, was die Möglichkeit einschließt, Spionage zugunsten der Sowjets in Los Alamos zumindest nicht verhindert zu haben. Zweitens, und das wiegt noch schwerer: durch seinen Widerstand gegen die Wasserstoffbombe nationale Interessen zu beschädigen. ERZÄHLERIN: Man will Oppenheimer politisch kaltstellen. Dazu muss man ihm seine Sicherheitsfreigabe streitig machen, also die Berechtigung, Zugang zu geheimen Regierungsinformationen zu haben. 1954 wird der Sicherheitsausschuss der Atomenergiebehörde einberufen, der Oppenheimer auf den Zahn fühlen soll. ERZÄHLER: Es ist nur eine interne Überprüfung, keineswegs ein juristisches Verfahren. Aber sie gerät zum öffentlichen Tribunal, weil die Presse Zugriff auf die Protokolle der Anhörung bekommt. Der Mann, der nur wenige Jahre zuvor als „Amerikas Prometheus“ gefeiert wurde, steht nun unter extremem Druck. 10 O-TON DR. BLUM: So wird das Ganze eben wirklich zu einer Bewertung seines ganzen Lebens und seiner gesamten Karriere. So was, und dann noch in einer feindseligen Atmosphäre, das ist für jeden anstrengend, wenn man sich für alles, was man je gemacht hat, rechtfertigen muss. Sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene, weil diese Sachen bei ihm sehr verquickt sind dadurch, dass seine Frauengeschichten sehr eng mit der kommunistischen Partei verbunden waren. MUSIK FRAGESTELLER – Zitator 1 Sie hatten schreckliche moralische Skrupel? OPPENHEIMER – Zitator 2 Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte. FRAGESTELLER: Zitator 1 Ist da nicht ein bisschen schizophren? Das Ding zu machen, die Ziele auszusuchen, die Zündhöhe zu bestimmen und dann über den Folgen in moralische Skrupel zu fallen? Ist das nicht ein bisschen schizophren, Doktor? OPPENHEIMER: Zitator 2 Ja. Es ist die Art von Schizophrenie, in der wir Physiker seit einigen Jahren leben. ERZÄHLERIN: Der deutsche Dramatiker Heinar Kipphardt hat aus den Protokollen der Sicherheitsanhörung ein Theaterstück verfertigt. Für ihn ist Oppenheimer keine rundweg positive Figur, sondern jemand, der sich oft herauswindet und sich in Allgemeinplätze flüchtet. MUSIK OPPENHEIMER: Zitator 2 Die Welt ist auf die neuen Entdeckungen nicht eingerichtet. Sie ist aus den Fugen. FRAGESTELLER: Zitator 1 Und Sie sind ein bisschen gekommen, sie einzurenken, wie Hamlet sagt? OPPENHEIMER: Zitator 2 Ich kann es nicht. Sie muss das selber tun. ERZÄHLERIN: Oppenheimer ist mit Kipphardts Theaterstück übrigens nicht einverstanden, denn der Autor legt dem Hauptdarsteller eine fiktive Schlussrede in den Mund, die seine Reue zum Ausdruck bringt. Aber der wirkliche Oppenheimer bereut seine Rolle im Manhattan-Projekt durchaus nicht – allen Skrupeln zum Trotz. ERZÄHLER: Er sei als Physiker dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet und habe seine Aufgabe erfüllt. Die Gesellschaft müsse lernen, mit den Ergebnissen umzugehen, das ist sein Standpunkt. Alexander Blum findet ihn nicht sehr überzeugend. 11 O-TON ALEXANDER BLUM: Er ist berühmt, weil er sich als erster diesem Dilemma hat stellen müssen, der Verantwortung des Wissenschaftlers, aber er ist nicht dafür berühmt, dass er es besonders elegant gelöst hat. Letztlich war die Lösung, die er versucht hat anzubieten, eben dieses Fortschrittsnarrativ. Dass letztlich Wissen nicht verhindert werden kann und auch nicht schlecht sein kann und letztlich nur dazu dienen kann, die Menschheit voranzubringen und einer rosigen Zukunft zuzuführen. Diese Fortschrittsnarrativ war schon damals am Kippen und ist heute unpopulärer denn je. MUSIK ERZÄHLERIN: Zum Schluss wird ihm die Sicherheitsfreigabe aberkannt, und das ist das Ende seiner Laufbahn als Politikberater. Oppenheimer nimmt die Entscheidung fast demütig an. Zwar freut er sich, als man ihm später in der Kennedy-Ära hohe Preise zukommen lässt. Aber inzwischen ist er schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt. Dem Tod sieht er mit Ruhe und Würde entgegen. Robert Oppenheimer stirbt am 18. Februar 1967 im Alter von 62 Jahren.

Vor 80 Jahren, am 16. Juli 1945, beginnt mit dem Trinity-Test in der Wüste New Mexikos das Atomzeitalter. Mit der ersten nuklearen Explosion erlangt die Menschheit an diesem Tag die Fähigkeit, sich selbst zu vernichten. Die grausamen Einsätze der Atombombe im August 1945 über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki haben die Nukleartechnik mit dem gewaltsamen Tod von hunderttausenden Menschen in Verbindung gebracht. Seither wurde keine Atomwaffe mehr in einem Konflikt eingesetzt, obwohl seit dem Ende der 40er Jahre ein atomares Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion einsetzte. Die technische Entwicklung von thermonuklearen Bomben hat dazu die Fähigkeit gebracht, die Menschheit gleich mehrere Male zu vernichten. Credits Autoren: Christian Schaaf & Michael Zametzer Redaktion: Eva Kötting & Heike Simon Linktipps Alles Geschichte (2021): ATOMWAFFEN – Overkill und Abrüstung Mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki brach ein neues Zeitalter an. Nun war es möglich, Kriege mit einer nie dagewesenen Zerstörungskraft zu entscheiden. Gleichzeitig wuchs die Erkenntnis, dass Atomwaffen die Menschheit an den Rand ihrer Auslöschung bringen konnten. Die Welt stand zwischen Overkill oder Abrüstung. (BR 2015) JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:8159b091960b8a0b/] BR (2024): Der Weg der Hiroshima-Bombe Es war am 18. September 1942 als Belgien und die USA einen Vertrag über den Verkauf von 4200 Kilo Uran schlossen. Auf der einen Seite des Tisches saß damals der US-General Nichols - führend beteiligt am Bau der ersten Atombombe. Auf der anderen Seite: Edgar Sengier, Chef der Uranminen im damaligen Belgisch-Kongo. JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:b106acc37a80b799/] BR (2023): Wo Oppenheimer die Atombombe gebaut hat – Leben in Los Alamos Robert Oppenheimer hat die Atombombe in Los Alamos in New Mexico entwickelt. In dieser Doku von 1990 geht es um das seltsame Leben in dem abgeschirmten Ort und um die Gewissensbisse der Forscher. Ein Porträt eines geheimnisvollen Ortes, lange bevor der Kinofilm "Oppenheimer" gedreht wurde und mit Zeitzeugen, die heute nicht mehr leben. Der Kinofilm "Oppenheimer" zeigt, wie der Forscher fast an seiner Entwicklung, der Atombombe, zerbricht. In der Doku von 1990 geht es um das wirkliche Leben in dem abgeschirmten Forschungsort Los Alamos. Auch ohne Dramatisierung durch Hollywood zugleich faszinierend und erschreckend. JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:27028335fc6190a5/] Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/]

Der erste heiße Konflikt im Kalten Krieg erschütterte die Welt - auch die Bonner Republik. Im Juni 1950 überschritten Soldaten des kommunistischen Machthabers Kim Il-sung den 38. Breitengrad, die Trennlinie zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Einflussbereich in Korea. Doch der Konflikt sollte Bonn und Westalliierte zu Bündnispartnern verschweißen. Für Westdeutschland begann ein unverhofftes Wirtschaftswachstum. Von Volker Eklkofer und Simon Demmelhuber (BR 2020) Credits Autoren: Volker Eklkofer & Simon Demmelhuber Regie: Martin Trauner Technik: Helge Schwarz Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel & Peter Veit Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Thomas Schlemmer Linktipps Alles Geschichte (2024): Der Koreakrieg – Wie aus Brüdern Feinde wurden Der Koreakrieg, ein Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg zwischen 1950 und `53, forderte mehrere Millionen Menschenleben. Wirklich beendet ist er bis heute nicht. Im Juli 1953 wurde nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Von Isabella Arcucci (BR 2013). JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:7e27abb5d00bafe1/] ZDF (2020): Pulverfass Korea – Konflikt ohne Ende Manche Experten sehen im Koreakrieg das wichtigste weltpolitische Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Niemals wirklich beendet, beeinflusst er weiter internationale Beziehungen. JETZT ANSEHEN [https://www.ardmediathek.de/video/zdfinfo-die-einzeldokus/pulverfass-korea-konflikt-ohne-ende/zdf/Y3JpZDovL3pkZi5kZS9QUk9EMS9TQ01TXzBiMzBjYzI1LWI5NDAtNDg3OC05YTc2LTJkNDgzNDRkOWFhYw] Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE [https://www.ardaudiothek.de/sendung/tatort-geschichte-true-crime-meets-history/88069106/]“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK Erzähler Sonntag, 25. Juni 1950. In Korea beginnt der Sommermonsun. Es gießt in Strömen. In den frühen Morgenstunden entladen sich heftige Gewitter entlang des 38. Breitengrads. Im Tosen des Sturms nehmen die südkoreanischen Soldaten an der Grenze zu Nordkorea den anschwellenden Geschützdonner ebenso wenig wahr wie ihre amerikanischen Militärberater. Der Angriff des kommunistischen Diktators Kim Il-sung, eines engen Verbündeten der UdSSR, überrollt den unvorbereiteten Gegner. In Blitzkriegsmanier stoßen Kims Truppen vor, besetzen die Hauptstadt Seoul und kontrollieren bereits im August weite Teile Südkoreas. Erzählerin Die Welt ist geschockt, der Kalte Krieg ist plötzlich heiß geworden. Die erst fünf Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen greifen militärisch ein. Weil bei der entscheidenden Sitzung des Sicherheitsrats der Vertreter der Sowjetunion fehlt, fällt der Beschluss für eine Kampftruppe, die mit Gewalt Frieden schaffen soll. Mehrere Nationen stellen Kontingente, Anfang Juli übernehmen die USA das Kommando. Erzähler Während die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zum Gegenschlag rüsten, flackern in Westdeutschland Kriegsängste auf. MUSIK Erzählerin Nach den aufwühlenden Ereignissen der letzten beiden Jahre – Währungsreform, Berlin-Blockade, Gründung von Bundesrepublik und DDR, erste Bundestagswahl, Regierungsbildung – ist die Sehnsucht nach einer Verschnaufpause groß. Doch mit einem Schlag ist alles anders. Am anderen Ende der Welt tobt Krieg. In einem Land, das wie Deutschland seit 1945 in eine sowjetische und eine amerikanische Einflusszone geteilt ist. In einem Land, in dem die Gegensätze zwischen Ost und West ebenso heftig aufeinanderprallen. Ist das ein Omen? Droht ein deutsches Korea? Zitator Der Überfall der nordkoreanischen Kommunisten auf Südkorea und die Kampfhandlungen dort erfüllten die deutsche Bevölkerung mit großer Unruhe. Erzähler …schreibt Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, in seinen „Erinnerungen“. Mit der grassierenden Furcht der Menschen hat sich auch der Historiker Dr. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte beschäftigt. Zuspielung Schlemmer 1 Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Leute massenhaft auf die Straße gegangen wären, um zu demonstrieren. Die Unruhe spielt sich hauptsächlich im privaten Umfeld ab. Ja, man merkt es zuhause in den Familien. Der Zweite Weltkrieg ist grad‘ fünf Jahre zu Ende, der doch fast in jeder deutschen Familie tote Familienangehörige gefordert hat. Das ist noch sehr präsent gewesen, entsprechend auch die Angst. Und dazu kommt etwas, was man heute auch vergessen hat, und das ist die Realität der deutschen Teilung. Wenn es denn zu einem deutschen Korea gekommen wäre, hätten hier erstmals Deutsche auf Deutsche geschossen - und das zu einer Zeit, wo die deutsche Teilung ja auch erst seit einem Jahr harte Realität war. ATMO Aufgeregtes Gemurmel MUSIK Erzählerin Im Bundeskanzleramt herrscht Nervosität. Augenzeugen berichten von der panischen Angst Adenauers in den Tagen nach dem Kriegsausbruch. Was, wenn die DDR mit dem Segen Moskaus die junge Republik angreift? Die Gefahr scheint Adenauer durchaus real. Der Kanzler weiß, dass Ostdeutschland seit 1948 eine paramilitärische Truppe aufstellt. Die kasernierte Volkspolizei zählt mittlerweile 60.000 Mann unter Waffen. Ihr stehen in Westdeutschland nur schwache Polizeikräfte gegenüber, die zudem auf Länderebene organisiert sind. Diese Ordnungshüter, bemerkt Adenauer sarkastisch, wären nicht einmal in der Lage, demonstrierenden Kommunisten die Plakate abzunehmen. Erzähler Erst als im Juli 1950 klar wird, dass die USA tatsächlich bereit sind, Südkorea mit einem massiven Militäreinsatz zu verteidigen, legen sich die ärgsten Befürchtungen in Bonn. Und der Politfuchs Adenauer erkennt die Chancen, die sich im Windschatten des Koreakriegs für seinen halbsouveränen Staat bieten. Erzählerin Die Bundesrepublik ist nach wie vor ein besetztes Land. Neben dem Grundgesetz gilt ein Besatzungsstatut, das den Westmächten, vertreten durch einen amerikanischen, englischen und französischen Hochkommissar, Kontrollrechte einräumt. Erzähler Adenauer fürchtet Stalin und die Sowjetunion. Für ihn liegt das Heil im Westen, hier möchte er eine souveräne Bundesrepublik als gleichberechtigten Partner fest verankert sehen. Um diesem Ziel näherzukommen, will er Westdeutschland fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbewaffnen. Durch einen eigenen Verteidigungsbeitrag soll die Bundesrepublik Vertrauen schaffen, sich aus der Pariarolle des Kriegsverlierers befreien und zum Verbündeten der westlichen Welt aufsteigen. Erzählerin Ein riskantes Vorhaben. Denn die Menschen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Italien haben den totalen Krieg des Dritten Reichs und die Verbrechen von Wehrmacht und SS längst nicht vergessen. Erzähler Aber Adenauer macht Druck. Mitte August 1950 fordert er in der „New York Times“ eine „starke deutsche Verteidigungsmacht“. Rückendeckung bekommt er unter anderem von Englands Kriegspremier Winston Churchill, der auf die Schaffung einer Europaarmee drängt. In den USA findet der Kanzler vor allem im Pentagon viel Zustimmung. Auch bislang unerbittliche französische Regierungsmitglieder äußern angesichts des Koreakriegs Verständnis. Sogar der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher lässt sich im September zu einer Erklärung hinreißen: Zitator Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen und sich mit größtmöglicher Macht an der Elbe etablieren. Erzählerin Damit ist Adenauer ein echter Coup geglückt. Von nun an steht die Frage der deutschen Wiederbewaffnung auf der Tagesordnung aller internationalen Treffen. Noch im September 1950 stimmen die Westalliierten der Bildung einer 30.000 Mann starken Polizeitruppe zu. So entsteht der halbmilitärische Bundesgrenzschutz, aus dem später die Bundespolizei hervorgeht. Das Projekt Europaarmee scheitert zwar am Widerstand der französischen Nationalversammlung, doch das schadet der westdeutschen Integration keineswegs. Für westliche Sicherheitsinteressen wird die Bundesrepublik bald unverzichtbar. Während sich der Kalte Krieg verschärft, wächst sie immer stärker in die westliche Welt hinein und wird zum Verbündeten aufgewertet. MUSIK ATMO Kriegslärm & Schreie Erzähler Zurück nach Korea. Hier rollt seit September 1950 die Gegenoffensive der UNO-Truppen. Das Kommando hat der legendäre amerikanische Fünf-Sterne-General Douglas McArthur, ein egozentrischer Militär mit Hang zu goldbetressten Mützen. Beide Seiten führen den Krieg mit äußerster Brutalität. Massaker sind an der Tagesordnung, Flächenbombardements der US-Luftwaffe radieren ganze Landstriche aus. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung gibt es nicht. Erzählerin Als die UN-Streitkräfte den Nordkoreanern heftige Niederlagen zufügen und zur chinesischen Grenze vorrücken, schickt Mao tse-tung im November 1950 hunderttausende Zwangs-Freiwillige zur Unterstützung Nordkoreas an die Front. Im Frühjahr 1951 droht die Lage vollends zu eskalieren. Der in den USA äußerst einflussreiche General McArthur fordert die Ausweitung des Koreakriegs auf China und den Einsatz von Atombomben. US-Präsident Truman zieht die Notbremse und entlässt McArthur. Die Entscheidung Trumans wird in den USA scharf kritisiert, New York empfängt den gefeuerten Rückkehrer McArthur demonstrativ mit einer Konfettiparade. Im Mai frisst sich die Front zwischen Nord- und Südkorea fest – genau dort, wo der Krieg begann, am 38. Breitengrad. Auf Initiative der Sowjetunion beginnen im Juli Waffenstillstandsverhandlungen, doch erst zwei Jahre später wird die Waffenruhe im Grenzort Panmunjon besiegelt. Das Land bleibt geteilt, bis heute gibt es keinen Friedensvertrag. MUSIK Erzähler In Westdeutschland ebbt der Koreaschock in der zweiten Jahreshälfte 1950 allmählich ab. Das robuste Vorgehen der Amerikaner stärkt das Vertrauen in die westliche Führungsmacht. Die Menschen widmen sich wieder ihren Alltagsproblemen. Erzähler Und davon gibt es nicht wenige, denn der junge Staat steckt tief in einer Gründungskrise. Trotz Währungsreform kränkelt die Wirtschaft. Zwar ist der Schwarzmarkt kollabiert, die Läden sind voller Waren, doch die Löhne stagnieren und die Arbeitslosenzahl klettert auf über zwei Millionen. Zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene leben in Armut, sozialer Sprengstoff sammelt sich an. Erzählerin Noch im Sommer 1950 stellen die USA auf Kriegswirtschaft um. Die westliche Führungsmacht fährt die Rüstungsproduktion hoch und ist zur Versorgung der Koreatruppen sogar gezwungen, im Ausland einzukaufen. Das ist die Stunde der westdeutschen Nachkriegswirtschaft. Bislang humpelte sie mehr schlecht als recht auf einem Bein, der Binnenkonjunktur. Jetzt darf sie in die Bresche springen und den Weltmarkt versorgen. Auf amerikanischen Druck heben die Siegermächte sogar die nach 1945 erlassenen Produktionsbeschränkungen für die Schwerindustrie auf. Erzähler Zwar verursachte der Bombenkrieg immense Schäden in zahlreichen deutschen Städten, doch nur ein Viertel der Industriekapazität ist zerstört. Trotz einiger Demontagen sind ausreichend Produktionsstätten vorhanden, es gibt qualifiziertes Personal und mit mehr als zehn Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ein riesiges Arbeitskräftereservoir. Milde als „Mitläufer“ entnazifiziert oder gar als „entlastet“ eingestuft, besetzen viele alte Manager erneut die Chefetagen. Thomas Schlemmer: Zuspielung Schlemmer 2 Und was haben sie anzubieten? Stahl haben sie anzubieten, Maschinen haben sie anzubieten und Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten. Vor allem zivile Kraftfahrzeuge haben sie anzubieten, die dann stärker nachgefragt werden, nachdem eben amerikanische Kraftfahrzeugfirmen jetzt Militärfahrzeuge herstellen. Und chemische Industrieprodukte, Kohlechemie, Petrochemie. Und diese vier Warengruppen – Stahl, Kraftfahrzeuge, Maschinen und Produkte der chemischen Industrie, die stützen die erste Phase des deutschen Exportwunders. MUSIK Erzählerin Mehr und mehr kommt die Außenwirtschaft in Schwung. Was immer die Welt benötigt, Made in Germany liefert. Während Korea in Gewalt und Blut versinkt, verdoppeln sich im Zeitraum Juni 1950 bis Juni 1951 die Ausfuhren. Der Koreaboom übertrifft die kühnsten Erwartungen. Es sind nicht nur altbekannte Konzerne wie BASF, Siemens oder AEG, die die Hochkonjunktur beflügeln. Auch Mittelständler fassen international Fuß. Diese Industrieunternehmen ziehen andere Branchen mit nach oben. Zehn Jahre lang glänzt die Wirtschaft mit einem Wachstum von rund 8 Prozent jährlich. Bereits 1952 wird die Bundesrepublik Mitglied beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Sie spielt nun in der ersten Liga, ist kreditwürdig. Erzähler Die 50er Jahre sind die Zeit der Traumkarrieren. Adolf Dassler, schon im „Dritten Reich“ Sportschuhersteller, packt wieder an. Die deutsche Fußballnationalmannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ vollbringt, trägt seine Schuhe mit den drei Streifen. Heute ist Adidas eine Weltmarke. Max Grundig, der 1930 sein erstes Radiogeschäft eröffnet, wird führender Rundfunkgeräteproduzent Europas, 1953 produziert er fast 40.000 Radios. Gustav Schickedanz baut eines der größten Versandhäuser der Welt auf, sein berühmter Quellekatalog erscheint erstmals 1954. Heinz-Horst Deichmann, als junger Soldat an der Ostfront schwer verwundet, studiert von 1946 bis 1952 Theologie und Medizin. Ab1956 leitet er das Familienunternehmen und macht sich einen Namen als größter Schuheinzelhändler Europas. Reinhold Würth übernimmt 1954 im Alter von 19 Jahren den Schraubenladen seines verstorbenen Vaters und zeigt, dass er den Dreh raus hat. Er schafft ein Schrauben- und Dübelimperium, betreibt Hotels und Spitzenrestaurants und baut eine Kunstsammlung mit 18.000 Werken zusammen. MUSIK Erzählerin Der Aufschwung macht die Westdeutschen wohlhabend, die Nachfrage nach Konsumgütern wächst. Bald fehlen den Betrieben Arbeitskräfte, DDR-Flüchtlinge, Übersiedler und ab 1955 erste Gastarbeiter füllen die Lücke. Das individuelle Realeinkommen verdoppelt sich bis 1960, bis 1973 verdreifacht es sich. Man kann sich wieder etwas leisten: Radio, Kühlschrank, Fernseher, VW-Käfer, Italienurlaub. Erzähler Vor allem aber kann die Regierung Adenauer eine großzügige Sozialpolitik betreiben. Sie verschafft Flüchtlingen und Vertriebenen Grund und Boden, entschädigt sie für ihre Verluste, versorgt Kriegswitwen und -waisen, bringt eine Rentenreform auf den Weg und vergisst auch Opfer des Nationalsozialismus nicht. Die sozialpolitischen Maßnahmen sorgen für Ausgleich und tragen dazu bei, dass sich die Masse der Deutschen von Hitlers Führerstaat abkoppelt und die Demokratie annimmt. Die nationalsozialistische Tätergemeinde geht währenddessen spurlos in der Nachkriegsgesellschaft auf. Zuspielung Schlemmer 3 Diese Verteilungsspielräume, die werden eben durch des geschaffen, was man gemeinhin das Wirtschaftswunder nennt, und ein Katalysator dieses Wirtschaftswunders ist eben der Koreakrieg, weil er der westdeutschen Industrie neue Expansionsmöglichkeiten eröffnet. Die Gießkanne war sehr gut gefüllt und es werden schon spezifische Gruppen besonders bedacht: Das sind eben die Alten und das sind die Opfer des Krieges. Und da entsteht auch eine Art von Zusammengehörigkeit und von Gemeinschaft, die bestimmte politische Gräben hinwegreicht. MUSIK Erzählerin Im Oktober 1954 gehen Konrad Adenauers Bewaffnungswünsche endlich in Erfüllung: Westdeutschland wird Gründungsmitglied des Verteidigungspaktes Westeuropäische Union und tritt der NATO bei. Die Pariser Verträge beenden auch die Besatzungszeit und geben der Bundesrepublik die staatliche Souveränität zurück. Pazifistische Gruppen wie die „Ohne-mich-Bewegung“ protestieren vergeblich gegen die Militarisierung. Der Bundestag stimmt dem Vertragswerk gegen alle Bedenken im Februar 1955 zu. Erzähler Nun gilt es, die Bundeswehr aufzubauen und für Bewaffnung und Ausstattung zu sorgen. Ein Bundesland steht dabei buchstäblich Gewehr bei Fuß: Bayern. Erzählerin Bayern steckt zu Beginn der 1950er Jahre mitten im Wiederaufbau. Viele Städte sind noch von verheerenden Kriegsschäden gezeichnet. Würzburg und Donauwörth haben besonders unter den Bombenangriffen gelitten: Drei Viertel der Gebäude liegen in Schutt und Asche. Nürnberg ist zur Hälfte, München zu einem Drittel zerstört. Zwei Millionen Vertriebene müssen versorgt werden. Noch immer lebt ein Drittel der Bewohner Bayerns von der Landwirtschaft. Die Gewerbe- und Industriebetriebe, die schon vor dem Krieg hier ansässig waren, kommen aber langsam wieder in Fahrt. Erzähler Doch in Bayern schlummert noch ungenutztes ökonomisches Potential. Brachliegende Relikte der NS-Kriegswirtschaft, ihre Produktionsanlagen und Experten warten auf ein Comeback. Zuspielung Schlemmer 4 Bayern ist lange der so genannte Luftschutzkeller des Reiches, das heißt, der strategische Bombenkrieg reicht über eine bestimmte Linie nicht hinaus. Und deswegen ist Bayern lange Zeit vergleichsweise sicher vor Bombenangriffen. Viele Industriebetriebe werden entweder nach Bayern verlagert oder in Bayern neu aufgebaut. Und des trifft vor allem zukunftsfähige Industrien im Bereich des Kraftfahrzeugbaus und im Bereich der optischen Industrie, im Bereich der chemischen Industrie und im Bereich des Flugzeugbaus. Und aller Demontagen und Zerstörungen zum Trotz sind da viele Kerne nach wie vor vorhanden und lassen sich aktivieren. Erzählerin Zudem verlassen bedeutende Unternehmen wegen des Kalten Kriegs die „Frontstadt“ Berlin, andere wandern im Streit mit dem SED-Regime aus Mitteldeutschland in den Süden ab. Siemens verlegt seine Konzernzentrale nach München, BMW gibt den Standort Eisenach auf und produziert Autos in Bayern. Die sächsische Auto Union schlägt in Ingolstadt Wurzeln. Erzähler Der Umbau der bayerischen Wirtschaft braucht Zeit, das „Wirtschaftswunder“ setzt daher erst mit Verspätung ein. Aber eine andere Folge des Koreakriegs, die Wiederbewaffnung, ist purer Kraftdünger für eine ökonomische Sondersparte: Rüstung und Wehrtechnik. Schon der Bundesgrenzschutz braucht Standorte, Dienststellen, Fahrzeuge und Bekleidung, dann in weit größerem Ausmaß die Bundeswehr. Das bringt großen Unternehmen und kleinen Betrieben Aufträge und schafft Arbeitsplätze. Erzählerin In Teilen des Freistaats, vor allem im Süden, ist die Rüstungsinfrastruktur aus der NS-Zeit noch intakt. Alles was sie braucht, ist eine kleine Aufbauspritze. Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte: Zuspielung Schlemmer 5 Des is eine Mischung aus dem, was schon da ist, beispielsweise Oberpfaffenhofen, das ist ein Luftfahrterprobungszentrum von Hitlers Luftwaffe schon, Messerschmitt in Augsburg und in Regensburg, BMW in München, BMW kennt man heute hauptsächlich eben aufgrund seiner Kraftfahrzeuge, is aber der führende mit Daimler Benz zusammen Flugzeugmotorenhersteller der Luftwaffe; aus dem dann MTU auch hervorgeht, die ja bis heute in dieser Sparte aktiv sind. Hat a so a bissel verkehrsstrategische Gründe auch – die Autobahn nach Berlin, die Donau als Wasserstraße, das spielt für Ingolstadt ne gewisse Rolle, Nürnberg immer schon ein Standort der elektrotechnischen Industrie gewesen, die ja auch wehrmäßig wichtig ist, optische Industrie in München – Rodenstock – spielt da eine ganz große Rolle. Also das sind ja keine neuen Firmen, die man dann hier hochzieht, sondern das ist die Entwicklung des Bestandes, der sich hier tatsächlich vor 1945 auch schon hier im südbayerischen Raum konzentriert hat mit einigen Ablegern eben auch in Nürnberg und Fürth. Erzählerin Vor allem ein Politiker treibt die Entwicklung unermüdlich voran: Franz Josef Strauß, zunächst Atomminister, dann von 1956 bis 1962 Bundesverteidigungsminister. Zuspielung Schlemmer 6 Franz Josef Strauß setzt bewusst auf die Förderung der heimischen Rüstungsindustrie, weil er sich davon struktur- und rüstungspolitische Effekte erhofft. Erzählerin Strauß will sich nicht nur auf die Schutzmacht USA verlassen. Er setzt auf eine eigenständige europäische Rüstungs- und Verteidigungspolitik, von der deutsche Unternehmen profitieren sollen. In erster Linie aber will Strauß, dass seine bayerische Heimat ein großes Stück vom Kuchen abbekommt. Seine Standortpolitik reicht vom Kasernenbau in strukturschwachen Gebieten bis zum Flugzeugkauf bei bayerischen Firmen. Mit lukrativen Aufträgen greift das Bonner Verteidigungsministerium auch kriselnden Unternehmen unter die Arme. Zuspielung Schlemmer 7 Einen erhält beispielsweise die Auto Union, später Audi. Der erste Kübelwagen, der Munga, stammt aus Ingolstädter Produktion. Es ist ein ganz wichtiges Zwischenprodukt, der die Firma in einer schwierigen Zeit am Leben hält. Zitator Franz Josef Strauß, heißt es anerkennend in Bonn und München, kümmert sich um alles – vom Atomsprengkopf bis zum Uniformknopf. MUSIK Erzähler Der Koreakrieg endet 1953. Er fordert drei bis vier Millionen Tote, darunter knapp 40.000 Amerikaner und 400.000 Chinesen. Bei uns ist er heute fast vergessen, doch er hat wichtige wirtschaftliche und politische Entwicklungen angeschoben. Er hat den Westdeutschen ein unerwartet rasches „Wirtschaftswunder“ beschert und der Bundesrepublik geholfen, nach der totalen Niederlage 1945 als souveräner Staat in den Kreis der Völkerfamilie zurückzukehren. Aber er hat auch die Gräben zwischen Ost und West vertieft und die deutsche Teilung verfestigt – bis hin zum Mauerbau 1961, dessen Folgen wir heute noch spüren. Zuspielung Schlemmer 8 Ich würd sagen, der Koreakrieg ist ein wichtiger Katalysator. Er beschleunigt etwas. Und er beschleunigt vor allem die drei großen W, die diese 50er Jahre ausmachen: Er beschleunigt den Wiederaufbau, er beschleunigt das Wirtschaftswunder und er beschleunigt die Westintegration. Und ein viertes W könnte man noch nennen, subsummierend unter die Westintegration, die Wiederbewaffnung. Diese vier Punkte werden alle schneller durch den Koreakrieg.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kümmerten sich vor allem professionelle Baufirmen um die Beseitigung der Trümmer, mit Hilfe tüchtiger Frauen. Aber nicht sie, sondern die "Trümmerfrauen" wurden zum Mythos. Von Marita Krauss (BR 2021) Credits Autorin: Marita Krauss Regie: Martin Trauner Technik: Siglinde Hermann Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow, Christiane Blumhoff, Jerzy May Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Else Rau Linktipps ARD Archivradio (2025): Reportage über Trümmerfrauen in Berlin vDas Bild der fröhlich anpackenden Trümmerfau prägt bis heute unsere Wahrnehmung vom Wiederaufbau der zerbombten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon während des Krieges hatte Goebbels Propagandaministerium Schauspielerinnen in den Trümmern fotografieren lassen, um nach alliierten Luftangriffen Zuversicht in der Bevölkerung zu verbreiten. Nach dem Krieg prägen wieder Frauen die Aufräumarbeiten, vor allem auch, weil viele Männer umgekommen oder in Kriegsgefangenschaft sind. Sie machen aber im Gegensatz zur Nazi-Propaganda keinen Hehl daraus, wie hart diese Arbeit ist. Gut zu hören hier im Beitrag aus Berlin vom 21. Juni 1947. JETZT ANHÖREN [https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:section:bb18692121314cac/] ZDF (2022): Ein Tag in Dresden 1946 Elli Göbel ist eine von über 500 Trümmerfrauen, die helfen, die zerbombte Stadt wieder aufzubauen. Die fiktive Biografie zeigt Schicksal und Lebenswirklichkeit. JETZT ANSEHEN [https://www.ardmediathek.de/video/terra-x-die-einzeldokus/ein-tag-in-dresden-1946/zdf/Y3JpZDovL3pkZi5kZS9QUk9EMS9TQ01TXzQxYmRiYzc2LWEzYTQtNDc3ZS1hYjIxLWFiZWEwMmRhYTcxMw] Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE [https://www.ardaudiothek.de/sendung/tatort-geschichte-true-crime-meets-history/88069106/]“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT [https://www.ardaudiothek.de/sendung/das-kalenderblatt/5949906/]erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/radiowissen/5945518/]. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN [https://www.ardaudiothek.de/sendung/alles-geschichte-history-von-radiowissen/82362084/] Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK ERZÄHLERIN Sie holen mit bloßen Händen Steine aus den Trümmern, klopfen Mörtel von Ziegelsteinen, schichten Ziegelhaufen auf, schieben schwere, mit Trümmerschutt gefüllte Loren – Frauen, und zwar nur Frauen erscheinen auf Fotos der unmittelbaren Nachkriegszeit als die Heldinnen des Neuanfangs. MUSIK ERZÄHLER Solche Fotos der Jahre 1945 und 46 sprechen Bände. Die deutschen Frauen, so suggerieren sie, packen an, sie beseitigen den Schutt, den der Krieg der Männer hinterlassen hat, sie ziehen den Karren aus dem Dreck. Die Frauen waren diejenigen, heißt es, die ganz allein und ohne professionelle Hilfe den Schutt wegräumten. ZITATORIN Die Trümmerfrauen sind zum Symbol für den Aufbauwillen und die Überlebenskraft der Deutschen in der Nachkriegszeit geworden. Ohne ihre Schwerstarbeit wären die deutschen Städte lange Zeit Schutthalden geblieben, ohne ihre unermüdliche Tätigkeit das Überleben der Familien nicht gesichert gewesen. ERZÄHLER So steht es auf der Internetplattform des Deutschen Historischen Museum Berlin. Über die Trümmerfrauen, so scheint es, gibt es wenig Dissens, sie gehören mittlerweile zum offiziellen Geschichtsbild. Von „Trümmermännern“ wird selten gesprochen. Es ist auch nicht von den Baufirmen die Rede, die Abriss und Wiederaufbau mit Hilfe professioneller, meist männlicher Bauarbeiter bewältigten. Unerwähnt bleiben ebenso die alliierten Besatzer, die mit schwerem Gerät, logistischer Unterstützung, Manpower und Unmengen von Material halfen. Nein, es waren die deutschen Frauen. ERZÄHLERIN Aber wer die Bilder der Ruinenstädte kennt, weiß, dass das nicht ausgereicht haben kann: Mehrstöckige Häuser mussten eingerissen werden, meterhohe Mauern waren zu stützen oder zu sprengen, enorme Schuttberge von Straßen und Plätzen zu räumen. Alles durch die deutschen Hausfrauen mit bloßen Händen? ERZÄHLER Grund genug also zu fragen: Gab es denn diese Trümmerfrauen überhaupt, die – zur Arbeit für geringen Stundenlohn dienstverpflichtet – öffentliche Straßen und Plätze von Trümmern und Schutt befreiten, diesen auf Loren luden und abtransportierten, alles im Dienste der Gemeinschaft? Eine Bestandaufnahme. MUSIK ERZÄHLERIN Bei Kriegsende 1945 bestand die Bevölkerung in Deutschland überwiegend aus Frauen, Kindern und alten Menschen. Die Männer, die den Krieg überlebt hatten, kamen oft erst nach Jahren zurück. Die Frauen wurden daher notgedrungen zu Heldinnen des Alltags: Mit Improvisation, Hamstern, Geschick und Schwarzmarktkäufen hielten sie ihre Familien über Wasser. ERZÄHLER Der Zeitzeuge Christian Hallig beschreibt den Alltag dieser Frauen der Trümmerzeit in den letzten Kriegsjahren und nach Kriegsende: ZITATOR Hetzen nach Lebensmitteln auf Karten, stundenlanges Anstehen, um die mageren Rationen zu ergattern. Die Kinder versorgen. Tätig als Krankenschwester, als Wehrmachtshelferinnen, an den Flakbatterien oder in den Fabriken beim Granatendrehen. Und als Briefträgerinnen, Schaffnerinnen. Zu Hause immer die Feuerpatsche und den Eimer mit Wasser bereit, wenn die Bomben wieder einmal die Wohnung durchgeblasen haben. Krieg aus. Nun erst recht ran. Denn die Männer sind gefallen, vermisst oder noch in Gefangenschaft. … Stets ist der Tag zu kurz, er müsste zehn Stunden mehr haben, um das zu schaffen und zu organisieren, was das Überleben ermöglicht. ERZÄHLERIN Aus Hunger wurde bei Kriegsende auch geplündert. Die Münchnerin Else Rau, Jahrgang 1910, berichtete im Gespräch mit der Autorin Carlamaria Heim von der großen Plünderung der Wehrmachtsbestände im Münchner Bürgerbräukeller unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner am 30. April 1945. Die hungrigen Frauen und Männer schleppten heim, was sie tragen konnten. Else Rau war mit ihrer Mutter zusammen aufgebrochen, um auch etwas zu erwischen und kam mit einer schweren Kiste wieder aus dem Lagerkeller nach oben: O-TON Else Rau Komm i rauf – Nacht. Na war neba mir a Frau, na hat’s g‘sagt: ‚Hab‘m Sie wos dawischt?‘ ‚Ja‘, hob i gsagt, ‚aber glaub’n‘s, i glaub i muas lieg‘n lass‘n, i kann‘s nimmer hoamtrag’n. Und mei Mama had ma an der Stimm erkannt. ‚Els, Els,‘ hat’s g’sagt, ‚kumm her!‘ Na hamma de Kistn aufn Schlittn nauf und hamma’s hoamg’fahr’n. Na samma hoam. Na hamma de Kistn aufg‘stemmt. Dann war‘n da Fleischdos‘n drina. I konn Eahna sag’n: Also mei Mamma hat direkt zerst a Gsetzl g‘woant vor lauta Freid, glaub‘m‘s des? Also i hab‘s gar net fass‘n kenna. Und mir hab‘m an Kater doch g‘habt, gell, der hat doch a so an Kohldampf g‘habt. De erste Dos‘n de ma aufgmacht hab‘m, den ersten Bissen hat d’Katz kriagt. ERZÄHLERIN Einen Tag später ergatterten die Münchenerinnen und Münchner auch noch Wein. Else Rau: O-TON Else Rau Mir san nüber. Dawei san die Leut bis zu de Wadl im Wein gewatet. Wissen‘s, des war die – i versteh’s vielleicht scho – die Gier, und an Hahn, an Zapfhahn ham‘s net g’habt, da ham’s de Spund eintret’n, da ist der Wein rausg’laufa. Na hat d‘Mama zwoa Putzkiebi voll Wein und an Suppenhafa a voll a no hoamg‘schleppt, gell, oiso na hamma a no an Wein g‘habt, Da drin san lauter so kloane Garterln gwesen. Und de oiden Leit – mei, de jungan, de warn ja meistens gar net da - und de hab‘m nachat a eanan Wein g‘habt und hab‘m dann g‘sunga und war‘n fröhlich, gell – wissen S‘, des war – de hab‘m so richtig an, i mecht fast sag‘n, ned as Kriegsende, sondern mehr oder wenicher an Sieg g’feiert – mecht i fast sag‘n. Des war für uns boid a Sieg. Weil ma was z‘Essn g‘habt ham. MUSIK ERZÄHLER Der Krieg war zu Ende, doch nun standen die Deutschen vor der gigantischen Aufgabe, die Trümmer zu beseitigen. Antonie Rasch aus Haunstetten bei Augsburg in einem Interview: ZITATORIN Ein schauerliches Bild bot sich uns, als wir wieder in unsere Straße kamen. Unser Haus war schwer von Brandbomben getroffen. Nur noch die Grundmauern standen, außerdem noch die beiden Kamine und die fielen nach einem schweren Gewitter in sich zusammen. Das Haus war völlig unbewohnbar. … Dem Wiederaufbau des Elternhauses galt unser ganzer Ehrgeiz. Als mein Bruder am 22. Juli 1945 aus der amerikanischen Gefangenschaft nach Augsburg kam, haben wir beide sofort beschlossen: „So, jetzt bauen wir das Haus wieder auf.“… Zuerst mussten wir Unmassen von Schutt aus dem Trümmerhaufen räumen…. Meine Aufgabe war es, die noch brauchbaren Ziegelsteine mit einem Hammer vom Mörtel zu befreien. Die Steine mussten picobello sauber sein, sonst hielt der neue Mörtel nicht an den Ziegeln und die ganze Arbeit war umsonst. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich Steine klopfte, in meiner Erinnerung kommt mir die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Es war eine Sträflingsarbeit. Ich weiß noch gut, einmal habe ich mit einem Helfer um die Wette gehämmert. Wir schafften 300 Steine an einem Tag, das war unser absoluter Rekord. Die harte Arbeit machte mir damals nichts aus, ich hatte mein Pflichtjahr auf dem Land in Waal bei Buchloe absolviert und konnte zupacken wie ein Mann. ERZÄHLER Elisabeth Widmann, 1945 Mutter einer dreijährigen Tochter, ebenfalls aus Haunstetten: ZITATORIN Mit dem Aufbau ging es nur zögerlich voran. Mein Mann hatte gleich eine Stelle als Maurer wieder angenommen. Wir brauchten ja Geld. Und Arbeit für Maurer gab es in jener Zeit genug. Er konnte also nur in seiner knappen Freizeit an dem Haus arbeiten. Ich kümmerte mich damals in erster Linie um unsere Tochter und die Versorgung der Familie. Die schwere Arbeit auf dem Bau konnte ich ja nicht verrichten. Steine klopfen und Nägel gerade biegen gehörte jedoch zu meinen Aufgaben. Auch rührte ich schon mal den Mörtel an, bis mein Mann von der Arbeit heim kam, so dass er gleich loslegen konnte. MUSIK ERZÄHLERIN Frauen, die in den Trümmern arbeiteten, die für den privaten Wiederaufbau Steine klopften, die als „Trümmerspechte“ aus den Trümmern Brennholz zogen, solche Frauen gab es also viele. Doch immer arbeiteten Frauen und Männer gemeinsam in den Ruinen der Städte. Was aber war mit der "deutschen Trümmerfrau", die ganz allein die Städte von den Trümmern beseitigte? Wie ist dieser Mythos entstanden? ERZÄHLER Bereits in der NS-Zeit wurden Trümmerfrauen-Fotos inszeniert. Es sind NS-Propagandabilder des Fotografen Hugo Schmidt-Luchs überliefert, der 1944 in Hamburg Schauspielerinnen zu einem „Trümmerfrauen-Fotoshooting“ zusammengeholt hatte. Sie stehen bei strahlendem Sonnenschein hübsch, jung und lachend, mit Röcken, ungeeignetem Schuhwerk und natürlich ohne Handschuhe auf Ziegelhaufen und geben sich in der Kette Ziegelsteine weiter. „Gemeinsam sind die Schwachen stark“, signalisieren diese Bilder. Ob die Fotos noch im Rahmen der NS-Propaganda Verwendung fanden, ist nicht bekannt. Sie sind jedenfalls der Prototyp der Trümmerfrauen-Fotos, wie sie noch heute in Schulbüchern zu finden sind. MUSIK ERZÄHLERIN Trümmerfrauen – oder vielmehr das, was man dafür hielt – blieben auch nach Kriegsende ein Motiv für Fotografen. Doch die fotografierten Frauen waren oft nicht, was man sich heute vorstellt. Dies beweist ein Foto, dessen Geschichte sich nachverfolgen lässt: Lachende junge Frauen mit den charakteristischen Kopftüchern stehen auf einem schmalen Sims, von dem aus es scheinbar tief nach unten geht. Sie reichen sich Steine weiter. Dieses Bild findet sich unter verschiedenen Bezeichnungen im Internet, unter anderem als „Trümmerfrauen in Würzburg, 1945“. Auch in einem bayerischen Schulbuch ist es abgebildet, zusammen mit Fotos zu deutschen Soldaten auf dem Weg in die Kriegsgefangenschaft, Kindern, die in Ruinen spielen, und einem Bild mit Menschen, die auf dem Trittbrett eines überfüllten Zuges mitfahren. Dort wird es bezeichnet als „Trümmerfrauen in München“. ERZÄHLER Was zeigt das Bild nun wirklich? In der Originalbeschriftung der Kontaktabzüge steht: „Pg-Frauen arbeiten am Färbergraben“. Es handelt sich also um einen Schutträum-Einsatz ehemaliger NS-Parteigenossinnen, die wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei nach Kriegsende zu gemeinnütziger Arbeit beim Schutträumen verurteilt worden waren. Auch diese Frauen arbeiteten übrigens zusammen mit Männern, wie sich an einem weiteren Foto dieser Räumaktion zeigen lässt. Doch der Fotograf hatte für das Foto alle Frauen zusammengeholt und das Bild später dann auch noch so beschnitten, dass ein Loch in der Straße wie ein dramatischer Abgrund wirkte. „Trümmerfrauen“ bei der Arbeit erschienen ihm attraktiv. ERZÄHLERIN Verpflichtende Räumaktionen waren nichts Neues. Bereits während der NS Zeit wurden Frauen, Schülerinnen und Schüler oder Angestellte von Betrieben im Rahmen des so genannten „Ehrendienstes“ am Wochenende zur freiwilligen Trümmerräumung aufgerufen. Dieser typische NS-Begriff „Ehrendienst“ taucht wieder Anfang 1946 in Würzburg auf: ERZÄHLER Frauen und Männer wurden unter dieser Bezeichnung dazu verpflichtet, eine bestimmte Zahl von Tagen Trümmer zu räumen. Auch in anderen Städten, so in Kassel, musste jede Frau acht Tage im Jahr Trümmer räumen. In West-Berlin wurden ab Juni 1945 Frauen wie Männer als „Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen im Baugewerbe“ dienstverpflichtet. Sie verdienten 60 oder 70 Pfennige pro Stunde und erhielten bei der Lebensmittelzuteilung Schwerarbeiterzulagen. In Berlin arbeiteten im Juli 1946 rund 41.000 weibliche und etwa 37.000 männliche Hilfskräfte bei der Trümmerräumung mit. Solche Dienstverpflichtungen sind der historische Boden, auf dem die Erzählung von den Trümmerfrauen entstand. ERZÄHLERIN Doch ebenso real sind die amerikanischen Besatzer, die in allen zerstörten Städten von Anfang an mit schwerem Gerät, mit Lastwagen und Personal halfen: Denn es bestand ein hohes Risiko, dass Menschen ums Leben kamen, wenn Fassaden einstürzten. Mit Trümmerfrauenarbeit allein hätte man nirgends die öffentliche Sicherheit garantieren können. Schwerarbeiten leisteten dann auch deutsche und ungarische Kriegsgefangene oder internierte NS-Profiteure. In einem amerikanischen Wochenbericht für den Regierungsbezirk Schwaben vom November 1945 heißt es: ZITATOR Die Reparaturarbeiten an der Reichsautobahn schreiten voran, wir beschäftigen dafür SS-Männer. Für den Bau von Lechbrücken wurden 60 Gefangene herangezogen. ERZÄHLERIN Ehemaligen Nationalsozialistinnen wurde mit dem Entzug der Lebensmittelzuteilung gedroht, sollten sie sich weigern, ein gewisses Pensum an Trümmerräumarbeiten zu leisten. MUSIK ERZÄHLER Das Bild der heldenhaften Trümmerfrau, die Deutschland mit bloßen Händen aufräumte, setzt sich also aus vielen Mosaiksteinen zusammen, zu denen die Dienstverpflichtung ebenso gehört wie die Inszenierung durch die Fotografen. Gespeist wurde es damals sicher auch von dem Wunsch nach einem Vorbild, nach Menschen, die anpacken, um einen Weg aus den Trümmern zu finden. ERZÄHLER Der Alltag der Frauen in den Jahren nach 1945 war auch ohne zusätzliche Schwerstarbeit anstrengend und zermürbend. Die eigentlichen Hungerjahre standen der Bevölkerung noch bevor: Die offiziellen täglichen Rationen sanken auf 1.500 bis 1.000 Kalorien. Ohne markenfreie Zusatzernährung ging es den Menschen schlecht. Es brach die Zeit der Ersatzprodukte an: Trockenmilch, Trockenei, als Ersatzkaffee den „Muckefuck“ aus Zichorien. Statt Essig nahm man Rhabarber- oder Berberitzensaft. Fleischpflanzerl wurden mit püriertem Salat von roten Rüben gestreckt. Und die Kochbücher des Jahres 1946 enthielten jede Menge Kartoffelrezepte. Eine Zeitzeugin: ZITATORIN Jeden Tag ging ich aus dem Haus, um irgendetwas Essbares für meine Familie zu suchen. Da stand plötzlich einmal ein Wagen mit Spinat, ein anderes Mal einer mit Blattsalat. Oder eine Bäckerei verkaufte etwas, das wie schwarzer Kuchen aussah und ein klein wenig süß schmeckte… Was Kartoffeln anbelangte, hatte ich mit dem Himmel einen Vertrag abgeschlossen: ‚Lieber Gott, wenn Du mir nicht hilfst, immer wieder Kartoffeln zu organisieren, lege ich mich ins Bett und rühre keinen Finger mehr!‘ Ich brauchte mich nicht ins Bett zu legen. Es geschahen Dinge, die Wunder ersetzten. ERZÄHLER Da es auch an allem anderen fehlte, musste die Hausfrau nicht nur beim Kochen improvisieren. Dunkle Sachen wusch man mit dem Sud von Efeublättern oder mit Ochsengalle, für helle Wäsche nahm man Kastanien oder Kartoffelschalen. Zum Einweichen für die große Wäsche empfahlen die Frauenzeitschriften „Der Silberstreifen“ oder „Der Regenbogen“ Holzaschenlauge. Und was man nicht mehr weiß bekam, konnte man auch färben. Um alte Kleidungsstücke neu erscheinen zu lassen, griff man notgedrungen ebenfalls auf die Natur zurück und färbte mit den Schalen Roter Rüben Textilien karminrot, mit Spinatbrühe hellgrün, mit Birkenlaub grüngelb, mit Sauerampfer maisgelb. Auch die Kosmetik war nun sehr naturnah: Regenwasser oder dünner Aufguss aus Lindenblüten- oder Kamillentee dienten als Gesichtswasser und die Haare wurden mit einer stark verdünnten Spirituslösung massiert, wenn sie zu sehr unter den „Wuckerln“ gelitten hatten, den Röllchen aus Papier oder Holz, auf die sie über Nacht aufgedreht wurden. MUSIK ERZÄHLERIN Kultur bot ebenfalls eine wichtige Möglichkeit, sich vom Alltag abzulenken; doch auch hier war der Hunger immer dabei. Else Rau erlebte im Münchner Prinzregententheater am 15. November 1945 die Operneröffnung mit Fidelio: O-TON Else Rau Im Vorraum vom Prinzregententheater da hab‘n de Ami so a Art Küch‘ eingerichtet g’habt, gell, mit eahnerne Gulaschkanonen und wia ma da so im Theater g’sess‘n san, gell, mia ha’m, Guat‘l hamma koa g’habt, na hat a jede drei Erbs’n im Mund g’habt, wissen’s zum Zutzl’n, drum dass ma was im Mund g’habt hat. Auf oamoi kumma da Gerüche, Gerüche nach Gulasch. Zwiefin und feine Gewürze und Fleisch und Gulasch, Gulasch, Gulasch – i kon Eahna sag’n, des is immer intensiver wor’n, und ‘s Wasser is‘ uns im Mund z’amg’lauf’n, oiso i kon Eahna sag’n, wir san mim Schlucka nimmer nachkumma. Oiso es war phantastisch. Dabei hab‘n de nacha in der großen Pause g‘sehn, dass die herauß‘d eahnare Gulaschkanonen da in Tätigkeit g‘setzt ham und ham da ‘kocht. Meine Güte, oiso des war unbeschreiblich, was ma da für a Gier kriagt hat. Also Fidelio und Gulasch, is für mich ein Begriff! ERZÄHLER Der Alltag der Frauen war Abenteuer genug und ein täglicher Kampf ums Überleben. Neben Essensbeschaffung, Haushalt, Kindererziehung und manchmal etwas Freizeit bestimmte Erwerbsarbeit ihr Leben. Da ganze Jahrgänge an jungen Männern durch den Krieg dezimiert worden waren, mussten viele Frauen damit rechnen, ledig zu bleiben. Umso wichtiger wurde die Arbeit für sie. Auf dem Land war das zunächst vor allem die Tätigkeit auf dem Bauernhof: So arbeiteten evakuierte Städter und Städterinnen, aber auch viele der Flüchtlinge aus den Sudetengebieten, aus Schlesien oder Ostpreußen für Unterbringung, magere Ernährung und geringen Lohn auf den Feldern und im Stall. In der Stadt wurden Frauen hingegen immer mehr in qualifizierten Berufen tätig. Waren bereits in den Zwanzigerjahren Berufe wie Büromädchen, Stenotypistin, Sekretärin, Telefonistin oder Laborantin üblich geworden und hatten die Arbeit als Dienstmädchen in der Hauswirtschaft abgelöst, so ging nun der Aufstieg der Frauen weiter. Ein Bericht des Münchner Wiederaufbaureferats für 1946 hält fest: ZITATOR Von dem patriarchalischen Zustand, dass der Mann die Familie ernährt und die Frau das Hauswesen besorgt, hat sich die Großstadtfamilie schon lange entfernt. … 37,8% der Erwerbstätigen sind Frauen. … Allerdings verbirgt sich hinter dem überraschend hohen Anteil der Frauenarbeit eine weittragende soziale Umschichtung…Bei der letzten Zählung im Herbst 1946 waren im Angestellten- und Beamtenverhältnis schon mehr Frauen tätig als in Lohnarbeit. ERZÄHLERIN Für die Frauen brachte also die Nachkriegszeit den Aufstieg in Berufe, die gerade nichts mit schwerer Handarbeit zu tun hatten. Doch schon seit den Fünfzigerjahren wurden „Trümmerfrauen“-Denkmäler errichtet, zunächst 1952 in Dresden und in Berlin. Noch ehrte man auch die Männer. So stehen vor dem Roten Rathaus in Berlin seit 1958 zwei Bronzestatuen, die „Aufbauhelferin“ und der „Aufbauhelfer“. Doch bald verengte sich der Fokus auf die Frauen: Ehrungen für die unbekannten Trümmerräumerinnen, die angeblich allein den Wiederaufbau bewältigt hatten, fanden immer wieder engagierte Streiterinnen und Streiter. In vielen deutschen Städten entstanden „Trümmerfrauen“-Denkmäler. ERZÄHLER Zum Mythos der Trümmerfrau trug auch die neue Frauenbewegung der Siebzigerjahre bei, die auf die Suche nach den Frauen in der Geschichte ging und den eigenen Müttern ein Denkmal setzte – den starken Müttern der Nachkriegszeit, die in einer vaterlosen Gesellschaft die Kinder alleine großgezogen, für Essen und das alltägliche Überleben gesorgt hatten. Da diese Alltagsarbeit, tatsächlich das millionenfache Schicksal der Nachkriegsfrauen, nicht spektakulär genug schien, trat die „Trümmerfrau“ im engeren Sinne in den Mittelpunkt, die „wie ein Mann“ anpackte und mit schwerer Arbeit den Karren aus dem Dreck zog. MUSIK ERZÄHLERIN Ihr Mythos überlagert und verstellt in der Rückschau den Blick auf die Frauen der Trümmerzeit und damit auch auf das spezifisch weibliche Nachkriegsschicksal.
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