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Wir brauchen eine andere Zeitenwende – für unsere Kinder und uns
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF hält in seinem neuen Bericht über die Situation der Kinder in Deutschland der Politik und Gesellschaft einmal mehr (wohl vergeblich) den Spiegel vor. Weit über einer Million Kindern in Deutschland fehlt es am Nötigsten, heißt es unter anderem. Und das in einem der reichsten Länder des Kontinents, das – so die Politik – wieder Führung übernehmen muss. Sie setzt dabei vor allem auf die Jugend, auf die Heranwachsenden, auf dass die Nation ertüchtigt wie selten und verpflichtend wehrhaft werde wie seit dem letzten Weltkrieg nicht mehr. Gestählt und patriotisch ließen sich dann all die Missstände besser ertragen? Die Kinder, ihre Eltern und all die Menschen, die sich um sie kümmern – Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, die diese Missstände erleben –, müssten halt die Zähne zusammenbeißen? Nein, müssen sie nicht. Es braucht (wie in vielen anderen Lebensbereichen) für Kinder und Jugendliche eine Zeitenwende – eine, die die jetzige stoppt. Ein Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Politik versagt auch hier: von 14 Millionen Kindern leben neun Prozent in Armut Manch Anmoderation in Nachrichtensendungen zum UNICEF-Bericht belegt, dass es etablierten, wohlhabenden Teilen unserer Gesellschaft unangenehm ist, zuzugeben, dass Menschen nicht auf der Sonnenseite leben. So wird zunächst gesagt, dass im Großen und Ganzen doch alles in Ordnung sei. Vielen gehe es ja gut, Kinder eingeschlossen. Dann wird doch zugestanden, dass es auch Menschen gibt, die davon bedroht sind, im Schatten zu leben – so wie viele Kinder im Land, die von Armut bedroht seien. Nein, sie sind nicht nur bedroht, sie leben in schlechten, inakzeptablen Verhältnissen. Die „Tagesschau“ meldet: > Kinderarmut immer noch auf hohem Niveau > > Keine warme Mahlzeit, fehlende Kleidung: Bei mehr als einer Million Kinder in Deutschland werden Grundbedürfnisse nicht erfüllt. Das Kinderhilfswerk UNICEF warnt in einem Bericht vor den Folgen für ihre Entwicklung. In Deutschland fehlen einem aktuellen UNICEF-Bericht zufolge mehr als einer Million Kindern die Voraussetzungen für eine gute Zukunftsperspektive. Die von Armut betroffenen Kinder hätten etwa keinen Platz, um Hausaufgaben zu machen, könnten sich kein zweites Paar Schuhe oder vollwertige Mahlzeiten leisten und nehmen kaum an Freizeitaktivitäten Gleichaltriger teil, hieß es in der Veröffentlichung des Kinderhilfswerks. Es gehe um neun Prozent der insgesamt 14 Millionen Kinder in Deutschland. > > (Quelle: Tagesschau [https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kinderarmut-deutschland-unicef-100.html]) Deutschlands UNICEF-Chef Georg Graf Waldersee richtete bei der Berichtpräsentation das Wort an die Verantwortlichen und kritisierte die Regierung: > Noch immer fehlt es an einer politischen Gesamtstrategie gegen Kinderarmut. Natürlich wissen wir um die schwierige Haushaltslage, aber wir dürfen sie nicht als Vorwand akzeptieren. So weit, so gut – wobei ich keine schwierige Haushaltslage sehe, sondern Politiker, die ganz andere Prioritäten setzen als die, die richtig und wichtig wären. Waldersee bleibt ungehört, die politische Klasse klagt über leere Kassen (für die Zivilgesellschaft). Sie nimmt in Kauf, dass nicht nur die neun Prozent (wobei statistische Zahlen geduldig und kalt sind) Kinder betroffen sind. Selbst Kinder aus der Mittelschicht bekommen mit, wie ihre Eltern in der Küche mit Sorgenfalten laut darüber diskutieren, dass das Leben teurer wird, die Zeiten mies sind und wie sie die Erhöhung von Gebühren für die Kinder noch stemmen können: Der Kitaplatz, das Essen, der Schultransport, die Materialien für die Schule und und und. Alles wird teurer und teurer (weitere Preissteigerungen sind hier gar nicht aufgezählt). Wer dabei nicht mithalten kann, kann Anträge stellen, bekommen die Eltern lapidar zu hören. Wenn Anträgestellen so einfach wäre Der UNICEF-Bericht wird in Büros der Bundesministerien überflogen worden sein. In einem Sieben-Punkte-Plan zur Verbesserung der miesen Lage ist tatsächlich von viel Geld (das da ist) die Rede, welches von Politik und Staat in die Hand genommen werden muss. Neben Geld steht auch der berühmt-berüchtigte Faktor Bürokratie auf der Liste. Für wirtschaftlich schlecht gestellte Menschen, für Familien und auch deren Kinder wird richtigerweise gefordert: Die Antragstellung für Sozialleistungen muss deutlich vereinfacht werden! Mehr noch: Solche Formulare kompliziert zu formulieren, Informationen schwer zugänglich zu machen, das ist meiner Beobachtung nach ein geschicktes politisches Kalkül, das darauf setzt, dass Antragsteller scheitern, dass Anträge gar nicht erst gestellt werden und so Geld gespart wird zulasten der Menschen, denen diese Mittel zustehen. Dergleichen ist auch in der landauf, landab gängigen Fördergeld-Antragspraxis zu beobachten. Auch das hört die Politik nicht gern: endlich mehr Geld für Bedürftige, statt gegen sie zu treten Während Politiker und ihnen wohlgesonnene Medien immerzu auf die Bevölkerungsschichten eindreschen, die unterhalb der Mittelschicht leben, indem sie behaupten, dass deren Lage sogar komfortabel sei und die „soziale Hängematte“ als bildlicher wie untauglich zynischer Begriff der Beschreibung dient, bleiben Sozialexperten dabei: Es braucht mehr Geld, berechtigt und ohne Wenn und Aber. Ebenso deutlich wie friedlich beabsichtigt wird schön formuliert, dass das Geld „dazu geschossen“ [sic] werden soll: > Außerdem fordert UNICEF vom Arbeitsministerium, das Existenzminimum nochmal neu zu berechnen. Also wie viel Haushaltseinkommen benötigen Kinder und ihre Familien, um nicht unter der Armutsschwelle leben zu müssen. Dieser fehlende Betrag soll dann bei betroffenen Familien dazu geschossen werden. > > (Quelle: WDR [https://www1.wdr.de/nachrichten/unicef-armut-kinder-alleinerziehend-bildung-100.html]) Statt Gesamtstrategie zur Chefsache zu machen, ist die Politik anderweitig engagiert Doch hat Deutschland eben andere Prioritäten: vor allem die, den Status Quo einer tief ungerechten Gesellschaft zu zementieren. Es wird eben nicht „dazu zugeschossen“ – bei den eifrigen Umsetzern dieser Politik schon. Für die machthabenden Abgeordneten der hohen Häuser unserer Republik gibt es einen Automatismus, um deren Diäten regelmäßig ohne Widerspruch zu erhöhen. Kein Abgeordneter muss dafür kämpfen. Auf der anderen Seite: Bei Mitteln für Kinder, Familien, bei Erwachsenen fließt das Geld zäh. Die Armut verfestigt sich – nicht nur bei Kindern und Familien, auch an der Basis um sie herum. Beispiel: soziokulturelle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Deren Mitarbeiter kämpfen die ganze Zeit: Sie engagieren sich für Kinder und Jugendliche, improvisieren wegen meist klammer Kassen, auf dass der Laden trotzdem läuft. Sie setzen auf Idealismus und auf die Unterstützung Ehrenamtlicher und Angehöriger. Das Ehrenamt wird in Politikerreden gern gelobt und als „unersetzlich“ betrachtet. Soso. Viele Jahre schon kenne ich Mitarbeiter von Kinder-und Jugendhäusern, wundervolle Treffs für die jungen Leute in meiner Stadt und der Umgebung. Diese Menschen bemühen sich von Jahr zu Jahr immer wieder, damit finanzielle Mittel nicht gekürzt werden, befristete Stellen verlängert werden, Fördergelder nach stets ätzenden Antragsmarathons doch bewilligt werden. Wenn das gelingt, kommen gern auch mal Abgeordnete aus Land und Bund mit einem großen Scheck in den Händen ins Haus – zum Beifallklatschen und Lobeinheimsen. Doch der Alltag ist und bleibt trist, von wegen Gesamtstrategie der Politik: Die Befristungen von Stellen, von Mitteln, die Gefahren, dass gekürzt und gestrichen wird, diese ständige Unsicherheit sind Begleiter der wichtigen und unter Wert gehaltenen soziokulturellen Arbeiter. So, wie sie nicht geachtet werden, so werden auch die Kinder und Jugendlichen samt ihrer Familien nicht geachtet. Die Politik hat dafür gerade anderes vor. Aus kleinen werden große Menschen, ihnen wird die Perspektive der Verpflichtung zum Dienst an der Waffe präsentiert, die jedoch keine ist. Die jungen Menschen kommen im Sprachgebrauch der bellizistischen Eiferer so vor, las ich vor Kurzem: „(…) zum Auffüllen der Mannschaftsstärke der Bundeswehr“. Dazu? Ich frage mal: Braucht es ein großes soldatisches Fußvolk? Braucht es viele junge Leute mit Gewehr und Tornister, wo die „moderne Kriegsführung“ heutzutage doch mittels Drohneneinsätzen, Sabotageakten und per Knopfdruck ausgeführten militärischen Aktionen aus sicheren Bunkern vollzogen wird? Wie wäre es mit einem ganz anderen Ansatz, mit einer anderen Zeitenwende? Eine andere Zeitenwende ist fällig Man stelle sich das mal vor: Wir schreiben das Jahr 2026. Eine neue, gar wundersame Zeitenwende hat eingesetzt. Die ganz große Politik wendet komplett ihren Ansatz, die Bundesrepublik stark, militärisch gedacht widerstandsfähig zu machen. Stattdessen soll sie zu einem Ort der Lebensfreude für alle, für Jung und Alt werden. Eine militärische Bedrohungslage wird nicht mehr als gegeben angesehen, weil die Diplomatie Vorfahrt bekommt. Die Kriegsertüchtigung historischen Ausmaßes wird nicht nur in die Schublade gelegt, sondern in den Schredder geschoben. Endlich werden all die Mittel, Ideen, das Personal, die Pläne zur Stärkung des zivilisatorischen Miteinanders „zugeschossen“. Solche ‚Schüsse‘ sind wundervoll. Das Land ist reich, wir blicken in die Zukunft und fördern unsere Zukunft: die Kinder. Was beinahe utopisch klingt, wird wahr: Mittagessen, Schule, Schulmaterial, Transport, Kitaplätze – kostenlos. Und nein, kostenlos heißt nicht, dass diese Positionen nicht bezahlt werden. Nur bezahlen nicht die Eltern, sondern wir, unsere Gesellschaft als Ganzes. Das Wort „Kosten“ wird durch Investition ersetzt, eine in das Jetzt und Hier, eine in die Zukunft. Die Bezahlung der Aufwendungen geschieht im gleichen Geist, wie wir unsere Abgeordneten bezahlen. Die Realität ist ernüchternd und skandalös Zurück im wahren Leben. Kinderarmut ist kein Phänomen, das nur die direkt betroffenen Menschen berührt. Sie trifft unsere gesamte Gesellschaft. Statt aber eine Zeitenwende herbeizuführen, stagniert die Bekämpfung von Kinderarmut in Deutschland weiter – mit Folgen. > Steigende psychische Belastungen > > Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden dem Bericht zufolge zudem an gesundheitlichen Beschwerden. Im Jahr 2022 gaben 40 Prozent der Elf- bis 15-Jährigen an, dass sie mehrfach pro Woche oder sogar täglich Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafprobleme haben. 2014 waren es 24 Prozent. Auch schätzt ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen die eigene psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit als nicht gut ein. “Auch hier sind die Werte alarmierend”, sagte Sabine Walper (Deutsches Jugendinstitut/ Mitautorin des Berichts). > > (Quelle: evangelisch.de [https://www.evangelisch.de/inhalte/249503/13-11-2025/unicef-bericht-zu-kinderarmut-ueber-eine-million-kinder-deutschland-wachsen-armut-auf]) Dennoch erneut zu Zukunft und Investition Die Worte von Unicef-Chef Waldersee bestätigen meine Forderung nach einer anderen Zeitenwende: > Der Unicef-Vorsitzende Georg Graf Waldersee, [sic] kritisiert, es bewege sich zu wenig für Kinder. Wer Deutschlands Zukunft sichern will, müsse jetzt gezielt in Kinder investieren, insbesondere in die aus armen Familien. > > (Quelle: evangelisch.de [https://www.evangelisch.de/inhalte/249503/13-11-2025/unicef-bericht-zu-kinderarmut-ueber-eine-million-kinder-deutschland-wachsen-armut-auf]) Titelbild: Sharomka/shutterstock.com
Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (XV) – „Raubtier“, „rumpeln“, „Stachelschwein“ und „Sinnsuche“
Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung teils verharmlosender, teils lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft – uns alle – an das Undenkbare zu gewöhnen und möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. Von Leo Ensel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Raubtier [https://www.politico.eu/article/putin-predator-von-der-leyen-tells-poles-tusk-defense-border-belarus-poland/] Genauer „predator“. Polit-Zoologismus für ungeliebte Staatschefs. Gemeint hat Ursula von Leyen natürlich den „russischen Machthaber“ – wahlweise „Kreml-Chef“, „Diktator“, „russischer Kriegstreiber“ – Wladimir Putin. „Er ist ein Raubtier“, warnte die Trägerin des diesjährigen Aachener Karlspreises Ende August 2025 bei einem Besuch an der polnisch-weißrussischen Grenze. „Wir wissen aus Erfahrung, dass er nur durch starke Abschreckung in Schach gehalten werden kann.“ Moral: Wer Tiere sieht, darf Waffen sprechen lassen. Zoologie als Sicherheitsstrategie. (vgl. „Bestie“) Reallabor [https://www.infosperber.ch/gesellschaft/technik/auch-militaerische-ki-ist-notorisch-vorurteilsbehaftet/] „Der Krieg in der Ukraine ermöglicht es – wie im Prinzip jeder Krieg –, neue militärische Entwicklungen unter realen Einsatzbedingungen zu testen. Für die Entwicklung militärischer KI-Anwendungen besteht ein weiterer Vorteil darin, dass auf den Schlachtfeldern der Ukraine große Mengen an Trainingsdaten erzeugt werden. Sie sind für maschinelle Lernprozesse notwendig. Daraus ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Die Ukraine wurde daher auch als ‚Living Lab‘ für militärische KI [https://www.nationaldefensemagazine.org/articles/2023/3/24/ukraine-a-living-lab-for-ai-warfare] bezeichnet, also eine Art ‚Reallabor‘.“ So in dankenswerter Offenheit der Mediensoziologe Jens Hälterlein von der Universität Paderborn. – Brave new war: „Reallabor“ suggeriert Experimente mit freiwilligen Probanden in kontrollierter Umgebung. Irgendwie übersehen hat der Akademiker, dass die ‚Schlachtfelder der Ukraine‘ nicht etwa Labore, sondern tödliche Realität sind. Wo der Krieg zum Innovationsbeschleuniger, zur Teststrecke für neue Waffen, insbesondere für militärische Künstliche Intelligenz und die Ukrainer zu lebendigen ‚Dummys‘ mutieren. Menschen als „Training Data“ für Maschinen. Alles nach dem zynischen Motto: „Wir brauchen den Krieg, um Kriege zu optimieren!“ Regime Change Heißt auf Deutsch: Wir basteln uns euer System so zurecht, wie es uns passt. Ob das euch passt oder nicht! (Nennt sich dann „Demokratieförderung“. Oder: „regelbasierte Weltordnung“.) reinspringen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=138003] „Wir sind dann verwickelt, aber das werden wir auch zunehmend in den letzten Jahren. [sic!] Wenn wir sehen, dass wir jetzt der Ukraine dabei helfen, ääh, Produktionen langreichender, weitreichender Drohnen und Raketen bereitzustellen. Auch das wird man in Moskau, ääh, zur Kenntnis nehmen, wenn die dann mal in Moskau oder noch weiter im Hinterland einschlagen. Also, wir sind mittendrin, da reinzuspringen.“ (Wie im Freibad vom Fünf-Meter-Brett.) So Oberst a.D. Ralph Thiele aus dem Urlaubshotel in Siena. Soll wohl heißen: Wir sind ja eh schon längst – indirekt – im Krieg mit Russland. Warum dann nicht endlich Nägel mit Köpfen machen? Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert!“ rumpeln [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/carsten-breuer-general-inspekteur-der-bundeswehr-in-fuenf-jahren-muessen-wir-kriegstuechtig-sein-a-be252f67-1039-43c7-bd92-518e1be958d2] Wenn Generalinspekteur Carsten Breuer verkündet: „Zur Ehrlichkeit gehört auch der Satz: Das wird jetzt noch mal ein bisschen rumpeln – aber im positiven Sinne“, dann liefert er einen Orwell‘schen Sprach-Cluster der Extraklasse. Was sich anhört wie das Geräusch beim Umstellen eines IKEA-Regals, meint realiter Abstimmungsprozesse durchaus nicht reibungsfreier Art zwischen dem Generalinspekteur und seinem Großen Bruder, US-General Christopher Cavoli, dem NATO-Oberbefehlshaber in Europa. Aber weil Breuer die Worte „Ehrlichkeit“ und „im positiven Sinne“ voranstellt, verwandelt er den Konflikt in einen Akt moralischer Integrität: Positives Rumpeln mit ethischem Mehrwert! (vgl. „sich ehrlich machen“) russischer Kriegstreiber Komparativ zum „russischen Widerpart“. (vgl. auch „Bestie“, „Mörder & Killer“, „zweiter Hitler“ etc.) Schlächter [https://www.berliner-zeitung.de/news/biden-nennt-putin-einen-schlaechter-li.219053] „Butcher“ nannte US-Präsident Joe Biden am 26. März 2022 bei einem Treffen mit ukrainischen Flüchtlingen in Warschau seinen russischen Amtskollegen. Too bad for Biden, dass Butscha erst einige Tage später durch die Medien ging! Sonst hätten ihm seine Berater garantiert noch einen Zettel mit „Butcher of Butscha“ zugesteckt. (vgl. „Hurensohn, dummer“) schon heute im Feuer stehen [https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-10/bnd-praesident-reale-gefahr-russland-krieg-andgriff-militaer] „Wir dürfen uns nicht zurücklehnen in der Annahme, ein möglicher russischer Angriff käme frühestens 2029“, warnte Martin Jäger, seines Zeichens neuer Chef des Auslandsgeheimdienstes – und ehemaliger Botschafter in Kiew. Nein, so bequem dürfen wir alle es uns nicht machen, denn: „Wir stehen schon heute im Feuer.“ Der Gegner kenne „keine Rast und Ruhezeiten“. Dann wörtlich: „In Europa herrscht bestenfalls ein eisiger Friede, der punktuell jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen kann.“ – Lieber Herr Jäger, was denn nun: Feuer oder Eis? Kalt oder heiß? Oder kann der BND-Präsident die Welt nur bipolar im oszillierenden Wechselbäder-Dauerstaccato wahrnehmen? Schurken-Gipfel [https://www.bild.de/politik/ausland-und-internationales/warum-putin-getaetschelt-wird-haendchenhalten-beim-schurken-gipfel-68b53766cf33b514cb80dae4] War nicht etwa der „Gipfel der Bösen“ [https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/nordkorea-kim-und-putin-hier-treffen-sich-die-beiden-schurken-fuehrer-85390368.bild.html] vom September 2023 am russischen Weltraumbahnhof Wostotschny oder das „Schurkentreffen“ [https://www.bild.de/politik/ausland/politik-inland/schurken-treffen-in-moskau-heizt-xi-den-krieg-an-oder-weist-er-putin-in-die-schr-83265950.bild.html] vom März desselben Jahres in Moskau, sondern laut BILD auch das – „Reich mir die Flosse, Genosse!“ – „Händchenhalten“ zwischen „Kreml-Diktator Wladimir Putin und Indien-Premier Narenda Modi“ zwei Jahre später im chinesischen Tianjin. Wo sich natürlich auch noch jede Menge anderer Despoten trafen. schurkenhaftes Russland [https://germany.representation.ec.europa.eu/news/von-der-leyen-auf-der-msc-europa-neuer-geopolitischer-landschaft-2025-02-17_de] „Wir müssen klug und mit klarem Blick handeln angesichts dessen, was vor uns liegt: Von einem schurkenhaften Russland an unseren Grenzen bis hin zu Herausforderungen für unsere Souveränität und unsere Sicherheit.“ So Ursula von der Leyen im Stil Schwarzer Pädagogik auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025. – „Schurkenhaft“: das verbale Äquivalent zu „Du bist böse, ich bin gut, also passt auf, was ich mache!“ Das Wort ist eine rhetorische Abrissbirne, die jeglichen Dialog plattwalzt und der Eskalationslogik den roten Teppich ausrollt. Alles in feinstem, belehrendem Ton. (Und mit dem Rohrstock hinterm Rücken.) schwerster Kriegsverbrecher unserer Zeit (vielleicht) [https://www.spiegel.de/politik/friedrich-merz-nennt-wladimir-putin-vielleicht-schwersten-kriegsverbrecher-unserer-zeit-a-2c5a0c3a-1695-4080-bf13-3b3705d51c3f] Ist laut Friedrich Merz Wladimir Putin. Vielleicht. (Das schamhafte Feigenblatt hat er freilich noch vorgeschoben.) Kann er sich leisten, denn es ist ja der Rest, der hängen bleibt! semantische Vermeidungsstrategien [https://taz.de/Sprache-in-Zeiten-des-Kriegs-/!6101575/] Vermeidet konsequent der, das Wörtchen „kriegstüchtig“ nun von links rehablilitierende, taz-Chefreporter Peter Unfried. Nein, er legt sogar noch einen drauf: Man spürt in jeder Zeile seine erotische Lust am kribbeligen Tabubruch! (vgl. „verdruckstes und euphemistisches Sprechen“) sich ehrlich machen [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/carsten-breuer-general-inspekteur-der-bundeswehr-in-fuenf-jahren-muessen-wir-kriegstuechtig-sein-a-be252f67-1039-43c7-bd92-518e1be958d2] Es gehe darum, „dass wir uns auf allen Ebenen ehrlich machen“, predigte der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer im Februar 2024 der Welt am Sonntag. Denn: Einige zugesagte Fähigkeiten könne die Bundeswehr der NATO erst später als geplant zur Verfügung stellen. – Breuer (argumentativ virtuos, wie immer) nutzt diese Formulierung, um das Eingeständnis von Versäumnissen in einen öffentlichen Akt – scheinbar – mutiger Selbsterkenntnis zu transformieren. Was dabei raffiniert übergangen wird: Wer sich erst ehrlich machen muss, war es offenbar vorher nicht! Ehrlichkeit als Performance mit Tarnanstrich. (vgl. „rumpeln“) Sinnsuche [https://www.rnd.de/politik/deutsche-freiwillige-im-ukraine-krieg-warum-hanz-und-wizard-ihr-altes-leben-hinter-sich-liessen-T7PCCG4EHZB6FDRJRKHEK2TYSA.html] Obacht, Viktor Frankl! „Bei den meisten von ihnen wird im Gespräch deutlich, dass sie ihr Leben in Deutschland nicht erfüllt hat, dass sie auf der Suche nach einem Sinn gewesen sind“, berichtet das RedaktionsNetzwerk Deutschland im Mai 2025 über sechs junge Aussteiger, die ihn im Ausland nun endlich gefunden haben. – Wie haben sie das geschafft? Yogakurse auf La Gomera? Als digitale Nomaden – heute Reportagen vom Strand in Phuket, morgen über AI-Start-ups in Vancouver, demnächst Feldforschung über Aussteigerprogramme für Sexarbeiterinnen in Nairobi? PowerPoint-Kurse im Slum von Dharavi? Lebensmittelverteilen in Gaza City? – Nein: Sie „sammeln Kampferfahrungen“ in der Ukraine und „sorgen mit der Waffe für Gerechtigkeit“! Ganz wichtig: „Keiner der Männer erweckt den Eindruck, dass er Freude am Töten hat.“ Sie sind nur „ihrem Herzen gefolgt“ und haben nebenbei noch ein „neues Gefühl“ kennengelernt. (Wie es sich anfühlt, einen Menschen zu töten.) Denn, so die Headline des RND-Artikels: „Töten ist notwendig, man muss es halt machen.“ – Kurz: Der Sinn des Lebens ist – Töten! Spannungsfall [https://www.nachdenkseiten.de/?p=139864] Vorstufe zum „Verteidigungsfall“. Sprich: Allerhöchste Eisenbahn, sich mal zu entspannen! sportlich [https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Wir-koennen-nicht-kneifen-und-muessen-eintreten-article25975812.html] „Auch die Ukrainer sind gelegentlich ganz sportlich.“ So wieder mal Ralph Thiele in ntv. Gemeint waren wohl für das globale Sicherheitssystem so brandgefährliche ukrainische Attacken wie die auf Module des russischen Raketenabwehrsystems im Mai letzten Jahres oder das diesjährige „Husarenstück“, die Angriffe auf die strategische Bomberflotte Russlands! – Sprach‘s und „marschierte steil“, nein: „sprang“ selbst „sportlich“ „rein“. In die Ukraine. (Pardon, das war ein alternatives Factum. Der Oberst im Ruhestand hat im Hotelflur von Siena nur gefordert, dass andere Deutsche das demnächst unternehmen, sprich: nicht „kneifen“!) Stachelschwein [https://www.deutschlandfunk.de/interview-wolfgang-ischinger-ex-leiter-muenchner-sicherheitskonf-zur-ukraine-100.html] Rührend drolliges Bild für eine vom Westen bis an die Zähne bewaffnete Ukraine. „Ich habe es großartig gefunden, dass irgendjemand den Begriff des ‚Stachelschweins‘ in die Diskussion geworfen hat. Und ich finde, das ist ein eindrucksvolles Bild. Die Ukraine muss zum ‚militärischen Stachelschwein‘ werden! Der Tiger vermeidet, das Stachelschwein anzugreifen, weil das wehtut.“ So Wolfgang Ischinger im Interview mit dem Deutschlandfunk am 20. August 2025. Zwei Stunden später legte der DLF in Gestalt eines Jean-Marie Magro [https://www.deutschlandfunk.de/europa-heute-komplette-sendung-vom-20-08-100.html] gleich nochmal nach: „In Europa spricht man auch von der ‚Stachelschweinmethode‘. Das heißt: Die Ukraine müsste so ‚stachelig‘ sein, dass ein möglicher Angreifer vor einer Attacke zurückschreckt.“ – Mit dem ‚Tiger‘ war – eine gewisse Verwirrung der Fauna – der russische ‚Bär‘ gemeint. Und mit ‚Stacheln‘ eine „NATO light“ auf ukrainischem Terrain: Westliche Kampfflugzeuge im Luftraum und Bodentruppen aus NATO-Ländern – zwischen 50.000 und 150.000 Mann. (Pardon: Menschen!) (vgl. „Sicherheitsgarantien“) terroristische Vereinigung [https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/warum-erklaert-die-deutsche-justiz-die-volksrepublik-donezk-zur-auslaendischen-terroristischen-vereinigung/] Neues Wort für „prorussische Separatisten“ in Donezk und Lugansk. (Was es en passant ermöglicht, Menschen, die vor Jahren humanitäre Transporte in den Donbass organisierten, a posteriori zu kriminalisieren.) Im Kosovokrieg 1999 waren die Kämpfer der UÇK allerdings keine „prowestliche Separatisten“, sondern „Freiheitskämpfer“. – Schauen wir nach bei Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/Kosovokrieg]: „Offizielles Hauptziel der NATO war, die Regierung Slobodan Miloševićs zum Rückzug der Armee aus dem Kosovo zu zwingen und so weitere serbische Menschenrechtsverletzungen, wie das zuvor verübte Massaker von Račak, zukünftig zu verhindern.“ Und machen wir ein kleines Experiment: „Offizielles Hauptziel Russlands ist es, die Regierung Wolodymyr Selenskyjs zum Rückzug der Armee aus dem Donbass zu zwingen und so weitere ukrainische Menschenrechtsverletzungen, wie den permanenten Beschuss der Zivilbevölkerung und das am 2. Mai 2014 verübte Massaker von Odessa, zukünftig zu verhindern.“ Alles klar? (wird fortgesetzt) Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge [https://globalbridge.ch/das-woerterbuch-der-kriegstuechtigkeit-xv-raubtier-rumpeln-stachelschwein-und-sinnsuche/]. Alle bisher erschienenen Folgen der Serie „Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit“ von Leo Ensel können Sie in dieser Übersicht finden [https://www.nachdenkseiten.de/?tag=woerterbuch-der-kriegstuechtigkeit] und diese auch einzeln darüber aufrufen. Titelbild: arvitalyaart/shutterstock.com
Landesverrat? Kuscheln mit dem Feind? Hochverrat?
Schwere Geschütze werden derzeit in den Medien aufgefahren. Und die, die sie auffahren, sind die etablierten Parteien: CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke. Sie rufen im Chor: „Schaut da, die von der AfD! Das sind Landesverräter!“ Sie wollen sich tatsächlich nach Russland begeben, um mit den dortigen politischen Verantwortlichen ins Gespräch zu kommen. Und außerdem haben sie es gewagt, ihre Rechte als Abgeordnete zu nutzen. Das klingt aber sehr verdächtig. Von Frank Kemper. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Wer sich diese Vorhaltungen genauer anschaut, wird feststellen, dass die, die am lautesten schreien, diejenigen sind, die am ehesten Grund hätten, Anklagen zu fürchten. Ist es nicht so, dass die SPD unter Kanzler Scholz es klaglos hingenommen hat, wie die US-Regierung mit der Zerstörung von Nord Stream drohte? Und wie sie, kurz nachdem Nord Stream dann tatsächlich in einem bisher nicht gekannten Sabotageakt zerstört wurde, fast apathisch zuschaute und den Eindruck erweckte, als wenn ihr Ermittlungen oder gar die Benennung der Täter alles andere als recht wären? Und ist es nicht Verrat an der Demokratie, wenn eine Neuauszählung verweigert wird, obwohl Tausende von Zählfehlern nachgewiesen wurden? Wenn höchstwahrscheinlich ist, dass der amtierende Kanzler gar keine ausreichende Legitimität hat und die amtierende Bundestagspräsidentin ebenfalls keine ausreichende Legitimität hat? Dann so zu tun, als wenn nichts wäre, beziehungsweise die Konsequenzen auszusitzen – ja, auch das ist nichts anderes als Verrat an unserer Demokratie. Ist es nicht so, dass die jetzige Regierung unter Kanzler Merz keinerlei Bemühungen um eine friedliche Lösung in den Konflikten unserer Zeit erkennen lässt? Ist es aber nicht so, dass sie genau dazu verpflichtet wären? Schreiben nicht das Grundgesetz, die UN-Charta, das Völkerrecht und sogar der NATO-Vertrag vor, dass Konflikte zuallererst diplomatisch gelöst werden müssen und dass der Versuch einer diplomatischen Lösung immer einer militärischen vorzuziehen ist? Wann und wo haben die letzten Regierungen das mal versucht? Ganz im Gegenteil: Sie haben das boykottiert. Ist das nicht eher Landesverrat? Mindestens ist es Verrat am Volk. Und wenn die Grünen im Haushaltsausschuss des Bundestages jetzt Sicherheit für politisch Verantwortliche im Kriegsfall fordern, dann planen sie doch geradezu ihr eigenes Versagen auf Kosten der Bevölkerung. Ist es nicht Landesverrat, wenn die Bundesregierung hinnimmt, dass die EU-Sanktionen der deutschen Wirtschaft das Rückgrat brechen? Ist es nicht ein grober Verstoß gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wenn deutsche Staatsbürger so weit von der EU sanktioniert werden, dass sie quasi ausgebürgert werden beziehungsweise sämtliche Bürgerrechte verlieren – und das angeblich auf dem Boden des Grundgesetzes? Sind nicht solche Leute, die so etwas tun, gerade diejenigen, die einen Frontalangriff auf unsere Grundordnung fahren? Ist es nicht Hochverrat, wenn die günstigen Energiebezugsquellen gekappt werden, um dann um ein Vielfaches teurer einzukaufen? Und ist es nicht die Spitze des Hochverrates, wenn ein Krieg herbeigeredet wird? Ja, wenn er geradezu herbeiprovoziert und erbettelt wird, der eigentlich leicht vermeidbar wäre? Jeder, der nach mehr Waffen schreit, ohne dabei auch zumindest nach mehr Verhandlungen zu schreien, ohne ernsthaft Verhandlungen angeboten, ja, direkt angeleiert zu haben, verstößt gegen unsere grundsätzlichen Werte. Und niemand soll mir erzählen, sie seien für die Ukraine. Das ist gelogen. Sie sind allenfalls für die ukrainische Regierung, oder sollte ich sagen: das Regime? Denn gewählt sind sie ja schon lange nicht mehr. Also ja, es gibt Leute, die gehören auf die Anklagebank. Aber es sind, zumindest in diesem Zusammenhang, nicht die von der AfD. Und um zu diesem Schluss zu kommen, muss man die AfD nicht mögen. Allerdings ist zuzugeben: Je schlimmer die anderen werden, umso mehr verblasst das schreckliche Profil der AfD. Titelbild: claudenakagawa/shutterstock.com
Versorgung, Prävention und Systemfehler – Wie Armut das Gesundheitssystem spiegelt. Serie zu Kinderarmut (Teil 3)
Wenn man die Zahlen nebeneinanderlegt, wirkt das deutsche Gesundheitswesen wie ein tragischer Widerspruch: teuer, technisch perfekt – und dennoch sozial ungerecht. Es ist eines der teuersten Systeme der Welt, ausgestattet mit modernster Technik, hohem Fachkräfteanteil und einer Dichte an Arztpraxen, die (zumindest in den Städten) in Europa ihresgleichen sucht – und doch existieren darin Kinder, die zu spät diagnostiziert, zu selten behandelt und zu oft übersehen werden. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die bisherigen Teile dieser Serie finden Sie hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=141366] und hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=141705]. Die in dieser Serie auftretende „Lina“ ist eine fiktive Person – die Lebensumstände und Geschehnisse haben aber einen sehr realen Hintergrund. > Lina[1] gehört zu dieser Gruppe. Ihre Mutter ist gesetzlich versichert, wechselte in den letzten Jahren mehrfach zwischen Krankenkassen, Minijobs und Arbeitslosengeld-II-Bezug. Jedes Mal musste sie neue Anträge stellen, Nachweise erbringen, Fristen einhalten. Sie lernte schnell, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Deutschland zwar formal universal ist, praktisch aber von Zeit, Wissen und Durchhaltevermögen abhängt. Die Zwei-Klassen-Medizin beginnt im Wartezimmer Ein Experiment des RWI Essen und der Cornell University brachte 2020 ans Licht, was viele Eltern längst ahnten: Privat versicherte Kinder erhalten im Schnitt doppelt so schnell einen Facharzttermin wie gesetzlich Versicherte. Zwölf Tage Wartezeit für Privatpatienten gegenüber 25 Tagen für Kassenpatienten – bei identischen Symptomen, identischem Anliegen. Diese strukturelle Bevorzugung ist kein Zufall, sondern folgt einer ökonomischen Logik: Privat Versicherte bringen Praxen höhere Erstattungen, also werden sie bevorzugt behandelt. Für arme Familien, deren Kinder fast ausnahmslos in der gesetzlichen Versicherung sind, bedeutet das faktisch längere Krankheitsverläufe, mehr unbehandelte Beschwerden und höhere Risiken für Chronifizierungen. Besonders drastisch zeigt sich das bei Fachrichtungen mit hoher Nachfrage: Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kieferorthopädie, Logopädie. In manchen Regionen beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz mehr als sechs Monate. Für ein Kind in akuter psychischer Krise ist das eine Ewigkeit. Armut verzögert nicht nur den Zugang zur Versorgung – sie beeinflusst auch ihre Qualität. Untersuchungen zeigen, dass arme Kinder häufiger in Praxen behandelt werden, die über weniger Personal, geringere Ausstattung und schlechtere räumliche Bedingungen verfügen. Medizinische Versorgung ist damit Teil des sozialen Gefälles, nicht dessen Korrektiv. Wenn Prävention zur Privatsache wird Deutschland verfügt über ein umfassendes System an Früherkennungsuntersuchungen (U1–U9), Impfungen, zahnärztlichen Prophylaxen und Schuluntersuchungen. Auf dem Papier ist Prävention flächendeckend, in der Praxis sozial selektiv. Die KiGGS Welle 2 zeigte: Nur rund 74 Prozent der Kinder aus niedrigen Statusgruppen nehmen alle U-Untersuchungen wahr – in der hohen Statusgruppe sind es über 87 Prozent. Die Ursachen sind vielfältig: fehlende Zeit, Scham, sprachliche Barrieren, Unkenntnis über Fristen oder Angst vor Behörden. Oft scheitert Prävention schlicht an den Bedingungen des Alltags. Auch bei Impfungen zeigt sich ein Muster. Insgesamt liegen die Impfquoten in Deutschland zwar hoch, doch sozialräumlich differenziert: In benachteiligten Vierteln finden sich häufiger Impflücken, weil Familien weniger regelmäßig ärztliche Kontakte pflegen. Während in gut situierten Haushalten manchmal impfskeptische Haltungen den Ausschlag geben, sind es in ärmeren Milieus vor allem Informationsdefizite. Zahngesundheit ist ein weiteres Beispiel: Die Studie von Nicole Stasch und anderen über die Karieshäufigkeit bei Schulkindern in Vorarlberg – auf Deutschland übertragbar – zeigte, dass Kinder aus sozial benachteiligten Regionen ein um 75 Prozent höheres Risiko für unbehandelte Karies haben als Gleichaltrige aus wohlhabenden Gegenden. In Deutschland gilt das Gleiche: Trotz insgesamt rückläufiger Kariesraten bleibt der soziale Gradient stabil. Kinder aus armen Familien putzen seltener regelmäßig ihre Zähne, besuchen seltener Zahnärzte und profitieren weniger von Individualprophylaxe-Programmen. Das System der kleinen Schwellen Was aus Sicht der Verwaltung rational wirkt – Nachweise, Terminfristen, Bewilligungen –, bedeutet für viele arme Familien eine kaum zu überwindende Hürde. Die Gesundheitssoziologin Claudia Spahn bezeichnet das als „administrative Exklusion“: Ein System, das auf Eigeninitiative, digitaler Kompetenz und formaler Sprache basiert, schließt jene aus, die all das nicht leisten können. Im Klartext: Wer seine Rechte nicht kennt, verliert sie. Ein verpasster Antrag auf eine Brille oder ein Sprachtherapieplatz, eine Frist, die übersehen wird – und das Kind bleibt ohne Versorgung. > Lina musste monatelang auf eine Ergotherapie warten, die Schule hatte sie wegen motorischer Probleme empfohlen. Doch die Krankenkasse verlangte erst eine ärztliche Überweisung, dann eine Stellungnahme, dann eine Bewilligung. Nach drei Monaten gab die Mutter auf. „Sie sagen immer, sie melden sich“, sagte sie. „Aber das tun sie nicht.“ Diese Bürokratisierung trifft besonders jene, die ohnehin überlastet sind. Das Gesundheitssystem reproduziert so ungewollt soziale Unterschiede – nicht durch offenen Ausschluss, sondern durch Erschöpfung. Psychische Versorgung: Die unsichtbare Not Psychische Erkrankungen bei Kindern haben in den letzten Jahren stark zugenommen, nicht erst seit der Pandemie. Doch der Zugang zu Therapie ist ungleich verteilt. Das Deutsche Jugendinstitut berichtete 2025, dass nur 65 Prozent der Kinder mit diagnostizierten psychischen Störungen tatsächlich eine Behandlung erhalten. Die Wartezeiten betragen im Durchschnitt zehn Wochen für ein Erstgespräch und 25 Wochen für den Beginn einer Therapie. Für Kinder wie Lina, deren Symptome nicht spektakulär sind, sondern diffus – Schlafprobleme, Rückzug, Gereiztheit –, bleibt oft nur die Hoffnung auf eine Lehrerin, die aufmerksam genug ist. Doch die Schulsozialarbeit wurde gekürzt, die Klassen sind groß, die Zeit fehlt. Die Kosten dieser Unterversorgung sind langfristig: unbehandelte Depressionen, Schulabbrüche, Suchtverhalten, Arbeitslosigkeit. Psychische Erkrankungen sind kein Randphänomen, sondern ein zentraler Mechanismus sozialer Vererbung. Sie zerstören nicht nur Wohlbefinden, sondern Lernfähigkeit, Bindung, Motivation – jene Fähigkeiten, die eine Gesellschaft für ihre eigene Zukunft braucht. Wenn der Wohnort über die Lebenserwartung entscheidet Die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland ist geografisch sichtbar. Ein Kind, das in Bremen-Osterholz, Dortmund-Nord oder Berlin-Neukölln aufwächst, hat im Durchschnitt eine vier bis sechs Jahre geringere Lebenserwartung als ein Kind aus München-Schwabing oder Hamburg-Blankenese. Solche Unterschiede gab es früher zwischen Ländern, heute existieren sie zwischen Stadtteilen. Medizinisch lässt sich das leicht erklären: Armut bedeutet höhere Belastung durch Feinstaub, schlechtere Luft, weniger Grünflächen, beengtes Wohnen, schlechtere Ernährung. Aber die eigentliche Erklärung ist politisch: Gesundheit folgt der Infrastruktur. Dort, wo Kitas unterbesetzt sind, Schulen verfallen und Nahversorgung fehlt, wächst keine Resilienz – sondern Erschöpfung. > Lina lebt in einem Viertel, das euphemistisch „sozialer Brennpunkt“ heißt. Hier kostet eine Wohnung wenig, aber sie verbraucht Gesundheit: Feuchtigkeit, Schimmel, Lärm, fehlende Spielplätze, unsichere Wege. Was in Bauausschüssen als „Investitionsrückstand“ firmiert, bedeutet im Alltag verkürzte Kindheit. Der Preis des Nichtstuns Die OECD hat mehrfach berechnet, dass jeder in Prävention investierte Euro langfristig das Fünf- bis Zehnfache an Sozial- und Gesundheitskosten spart. Trotzdem macht Prävention in Deutschland nur etwa drei Prozent der Gesundheitsausgaben aus. Das System verdient am Kranken, nicht am Gesunden. Diese ökonomische Schieflage ist kein Betriebsunfall, sondern Struktur: Kassenärzte werden nach Behandlungsfällen bezahlt, nicht nach verhinderten Krankheiten. Präventive Hausbesuche, Ernährungsberatung oder aufsuchende Elternarbeit gelten als „freiwillige Leistungen“ und sind damit haushaltspolitisch jederzeit streichbar. Dabei wäre genau das nötig: niedrigschwellige, kontinuierliche Begleitung – Hausbesuche nach der Geburt, Kita-Gesundheitsprogramme, Schulpsychologinnen, die nicht fünf Schulen gleichzeitig betreuen müssen. Was fehlt, ist nicht Wissen, sondern Wille. Eine stille Selektion Das deutsche Gesundheitswesen hat keine formelle Zugangsbeschränkung. Aber es selektiert leise – durch Zeit, Bürokratie, Sprache und Scham. Diese Selektion beginnt im Wartezimmer und endet oft in der Statistik, die dann nüchtern vermerkt, dass Kinder aus niedrigen Statusgruppen „signifikant häufiger chronisch krank“ sind. In Wahrheit handelt es sich um eine institutionalisierte Form sozialer Diskriminierung – nicht intendiert, aber wirksam. Sie wird von der Politik selten benannt, weil sie nicht an einem Ort greifbar ist, sondern in den Routinen des Alltags: im überfüllten Jugendamt, in der unbesetzten Praxis, im anonymen Callcenter der Krankenkasse. Das Ergebnis ist ein Gesundheitssystem, das Ungleichheit nicht heilt, sondern stabilisiert. Lina erlebt das täglich – in Wartezeiten, in Formularen, in der leisen Botschaft: „Dein Leben zählt, aber nicht so viel wie das der anderen.“ Titelbild: nimito / Shutterstock Quellen 1. Robert Koch-Institut (RKI): Gesund aufwachsen – Welche Bedeutung kommt dem sozialen Status zu? GBE kompakt 1/2015 [https://www.gbe-bund.de/pdf/gbe_kompakt_01_2015_gesund_aufwachsen.pdf]. Berlin: RKI. 2. Kuntz, B., Rattay, P., Poethko-Müller, C. et al.: Soziale Unterschiede im Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse aus KiGGS Welle 2 [https://www.gbe-bund.de/pdf/johm_2018_03_kiggs_welle_2_focus_soziale_untersch_d.pdf]. Journal of Health Monitoring, 3 (3), 2018. Robert Koch-Institut. 3. Lampert, T., Prütz, F., Rommel, A., Kuntz, B.: Soziale Unterschiede in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse aus KiGGS Welle 2. Journal of Health Monitoring [https://www.rki.de/DE/Aktuelles/Publikationen/Journal-of-Health-Monitoring/GBEDownloadsJ/Focus/JoHM_04_2018_Soziale_Unterschiede_Inanspruchnahme_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile&v=2], 3 (4), 2018. Robert Koch-Institut. 4. Biesalski, H. K.: Ernährungsarmut bei Kindern [https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/pdf/10.1055/a-1553-3202.pdf] – Ursachen, Folgen, COVID-19. Aktuelle Ernährungsmedizin, 46 (2021), 317–332. Georg Thieme Verlag, Stuttgart. DOI: 10.1055/a-1553-3202 5. Castiglioni, L.: Armut gefährdet die psychische Gesundheit. [https://www.dji.de/ueber-uns/themen/psychische-gesundheit/armut-gefaehrdet-die-psychische-gesundheit.html] Deutsches Jugendinstitut (DJI), Themenportal Psychische Gesundheit, 2025. 6. Röhling, M. et al.: Diabetes- und kardiovaskuläre Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter [https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-1960-1587.pdf] – Ein 12-Jahres-Follow-up. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 148 (2023), e1–e7. DOI: 10.1055/a-1960-1587 7. Stasch, N., Ganahl, K., Geiger, H.: Soziale Ungleichheit in der Zahngesundheit von Kindern [https://doi.org/10.1007/s11553-021-00929-7] – Behandlungsbedürftige Karies der 6- bis 12-jährigen Volksschulkinder in Vorarlberg (Österreich) in Bezug zu regionalen sozioökonomischen Determinanten und Migration. Prävention und Gesundheitsförderung, 18 (2023), 87–92. Springer Medizin Verlag. DOI: 10.1007/s11553-021-00929-7 8. RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung / Cornell University: Cream Skimming by Health Care Providers and Inequality in Health Care Access [https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0167268121002146?via%253Dihub] – Evidence From a Randomized Field Experiment. Journal of Economic Behavior & Organization Paper #188, 2021. 9. Bregenz/aks Gesundheit GmbH: Kinder von Grund auf gegen Armut sichern [https://www.kas.de/documents/d/guest/kinder-von-auf-grund-auf-gegen-armut-sichern] – Ursachen, Auswirkungen, Auswege. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., 2023. 10. Walper, S., Ulrich, C., Kindler, H. (Hrsg.): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken [https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull134_d/DJI_1_24_Impulse_web.pdf] – Ergebnisse und Perspektiven aus der Forschung des DJI. Deutsches Jugendinstitut, München 2023. ---------------------------------------- [«1] Lina ist eine fiktive Person, die Lebensumstände und Geschehnisse haben einen realen Hintergrund.
„Friedensratschlag“: Um die Welt zu retten, muss die Menschheit das Militär abschütteln
Der bundesweite Friedensratschlag am 8. und 9. November mit über 500 Teilnehmern beinhaltete teils heftige Debatten über Auswege aus den Eskalationsspiralen, die der Militarismus auslöst. Die Veranstaltung war eine wichtige Vorbereitung auf die Aktionen der Friedensbewegung im Jahr der geplanten Stationierung nuklearfähiger US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Von Bernhard Trautvetter. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Der Friedensratschlag ist wie jedes Jahr das wichtigste Forum zur Verständigung von Kräften der Friedensbewegung mit befreundeten Spektren. Hier folgt auf der Basis von Mitschriften ein erster Bericht: Ingar Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung wandte sich gegen die Militarisierung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft mit ihren Rekordsprüngen an den Börsen bringt Arbeitsplatzverluste, da die Rüstungsproduktion besonders hoch automatisiert ist. Rüstung ist toter Konsum, da die Kriegswaffen nach dem Verkauf an den Staat nur herumliegen, außer sie kommen in einem Krieg zum Einsatz. Um die damit verbundene Ressourcenvernichtung zu legitimieren, zeichnet die Militärlobby wie in den Zeiten vor den großen Kriegen der Vergangenheit ein möglichst bedrohliches Feindbild, das sie mit ständig neuen Gefahrennarrativen dramatisiert. Die Schuldenaufnahme, die für den Staat mit der Hochrüstung verbunden ist, macht ihn abhängiger vom Finanzkapital, das aus seinem Rendite-Interesse heraus Forderungen an den Schuldner (den Staat) richtet, der die Interessen des Kapitals bedient, und das zum Nachteil der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung. Das Schüren von Angst vor dem dämonisierten Feind lenkt die Sorgen infolge einer wachsenden Perspektivlosigkeit der Jugend sowie der Not vieler Familien auf den schuldigen Feind im Osten. Hier ein Kern-Zitat aus Ingar Soltys Rede: > „Insofern die USA den hochgradig monopolisierten Weltmarkt für Rüstungsgüter dominieren – die fünf größten Rüstungskonzerne der Welt sind alles US-amerikanische –, bedeuten die Hochrüstungsmaßnahmen letzten Endes, dass die europäischen Arbeiterklassen mit ihren Steuergeldern die Profite von Raytheon, Lockheed-Martin, Boeing und Co. und die Dividende-Ausschüttungen an deren Aktionäre finanzieren. Sie bedeuten, dass die europäischen Staaten, ja alle US-Verbündeten, ein militärkeynesianisches Rüstungsprogramm finanzieren, aber nicht für sich selbst, sondern in weiten Teilen für die USA. Wirtschaftspolitisch betrachtet könnte man genauso gut Milliardensummen ohne Gegenleistung an Donald Trump überweisen.“ Michael von der Schulenburg (BSW-Abgeordneter im EU-Parlament, Diplomat mit OSZE- und UNO-Erfahrung) verdeutlichte die globale Schädlichkeit der NATO schon ohne Kriegshandlungen damit, dass die NATO-Staaten mit nicht einmal 10 Prozent der Weltbevölkerung deutlich mehr als die Hälfte der Weltrüstungsausgaben mit verursachen. Die NATO-Lobby arbeitet dabei mit doppelten Standards und Feindbild-Narrativen. Sie tut dies auch, um ihre gefährliche Strategie nach außen hin zu legitimieren. So hat sie Gegner, gegen die NATO-Staaten auf dem Balkan, in Libyen, im Irak und in Russland vorgehen, immer wieder mit einer Gut-Böse-/Schwarz-Weiß-Propaganda als Dämonen gekennzeichnet, gegen die sie – so die Propaganda – im Interesse des Rechts vorzugehen haben. Helga Baumgarten berichtete aus Jerusalem und kritisierte den Siedlerkolonialismus, der Palästinenser rechtloser und gewaltsamer Willkür aussetzt. Sie berichtete vom kürzlichen Gaza-Tribunal in Istanbul; in diesem Zusammenhang zitierte sie Bertrand Russel mit den Worten, wenn sie das Gesetz zum Schweigen bringen, hat unser Gewissen die Aufgabe, zum Tribunal für die Verbrechen zu werden. Sie fand für die Gesetzesbrüche klare Begriffe: Systematische Unterbrechung der Nahrungsversorgung und der Wasserzufuhr, Zerstörung der Wohngebiete, der Gesundheitsversorgung, der Bildung, der gesamten Lebenskultur der Bevölkerung; systematische Verfolgung und Ermordung von Journalisten, die über diese Verbrechen aufklären. Wer Israels Regierung in der Situation stützt, unterstützt Verbrechen, er wird wissentlich zum indirekten Mitttäter. Die Straflosigkeit gegenüber Willkür, Entrechtung und Gewalt wird nur enden, wenn die Solidaritätsbewegung die Verfolgung und das Ende der Gesetzlosigkeit erzwingt. Die Gewerkschafterin Ulrike Eifler aus Würzburg (IG Metall) erläuterte, dass erst eine in den Gewerkschaften breit verankerte Friedensbewegung die notwendigen Erfolge erzielen kann. Wie stark Friedensfragen mit der Sozialpolitik zusammenhängen, das kann man gut an der Offensive gegen den Sozialstaat ablesen, die den Widerstand gegen die Hochrüstung lähmen soll. Die Kombination aus Maßnahmen zur Kriegsvorbereitung und Angriffen auf Gewerkschaften sowie auf gewerkschaftliche Rechte, das hat eine lange Tradition: Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die Hochrüstung mit Sozialabbau und mit der Diskreditierung von Friedenskräften verbunden. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden zuerst die Gewerkschaften verboten und dann folgte die Militarisierung. Die Wirtschaftskrise, die zum sogenannten ›Schwarzen Freitag‹ führte, zog eine Rekordrüstung in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg nach sich. Militarisierung ist auch mit einer Rechtsentwicklung verbunden, wie man auch an den Worten des CSU-Politikers Manfred Weber nachvollziehen kann, der einforderte, dass ein Umschalten auf Kriegswirtschaft ‚notfalls mit Stimmen von rechts‘ beschlossen werden müsse. Die Tarnung der Hochrüstung im schuldenfinanzierten sogenannten 500-Milliarden-‚Sonderfonds‘ als Investitionsprogramm für „Infrastruktur“ soll auch den gewerkschaftlichen Widerstand präventiv abwenden. Unterirdische Lazarette und panzertaugliche Brücken dienen allerdings in erster Linie der Kriegsvorbereitung und nicht den Menschen. Sie sollen schon früh an die Tötungsmaschinerie gewöhnt werden, was zu solchen Projekten führt, wie der Herstellung von Handgranaten-Attrappen, damit junge Bürger damit Krieg üben können. Diese Programme werden auf Kosten der Infrastruktur aufgelegt, mit dem Resultat, dass Arbeitslose zur Not zu Jobs im Bereich der Militarisierung greifen, um irgendwie doch über die Runden zu kommen. Die Planung von über 150 Milliarden Euro für den Militäretat in vier Jahren ist ein Angriff auf die Interessen der Menschen und der Gewerkschaften in diesem Land. Die Werbung für den Dienst an der Waffe ist eine weitere Verletzung der Lebensinteressen der Menschen. Arbeitslose, die in der Krisenlage einen schlechten Job ablehnen, müssen mit dem kompletten Entzug von Bürgergeld rechnen. Die damit verbundene Einschüchterung schwächt die Kampfkraft der Gewerkschaften weiter. Die Friedenskräfte sind in einer Interessengemeinschaft mit den Gewerkschaften, sie stehen vor der Aufgabe, die Gewerkschaften in die Abwehr der Angriffe des militärisch-industriellen Komplexes möglichst federführend einzubeziehen. Der langjährige Friedensaktivist Reiner Braun warnte vor der immer massiveren Hetze gegen die Friedensbewegung, mit der die Menschen in unserem Land in einen Krieg gegen Russland gedrängt werden. Er forderte den Aufbau einer Friedensordnung in gemeinsamer Sicherheit, die nicht gegen, sondern nur mit Russland und auch China aufgebaut werden muss. Er warnte vor antidemokratischen Entwicklungen in die Richtung eines neuen Faschismus als Ergebnis der Militarisierung. Er verwies darauf, dass die Kriegsstrategie der USA und damit auch von NATO-Partnern nicht alleine auf Europa begrenzt ist. Er forderte auf zur Solidarität mit Venezuela und Kuba, die im Visier der globalen Kriegsstrategie der USA liegen. Diese Strategie bricht mehrfach internationales Recht, auch durch die Aufrechterhaltung der Sanktionen und Blockaden gegen Kuba, mit denen die USA die erdrückende Mehrheit der UNO übergehen, die diese imperiale Politik als völkerrechtswidrig geißelt. Die Stationierung neuer US-Raketen in Deutschland ist für den Zeitraum ab September 2026 geplant. Mit diesen Offensivsystemen, über deren Einsatz alleine die USA entscheiden – und nicht das Stationierungsland – gerät Deutschland im Konflikt- und Kriegsfall ins Visier der russischen Militärs; diese Waffen können Silos und Kommandozentralen Russlands in einem Erstschlag und Enthauptungsschlag ausschalten, sodass Russland sich im Kriegsfall gezwungen sehen kann, seine Raketen vorbeugend gegen die US-Raketen einzusetzen, ehe diese Russland enthaupten. Anfang Juni 2026 findet in Ankara der nächste NATO-Gipfel statt. Allein die Tatsache, dass die NATO in der Türkei tagt, die mit kriegerischen Maßnahmen in Kurdengebieten auch in Nachbarstaaten Völkerrecht bricht [https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-will-laut-erdogan-krieg-gegen-kurden-in-syrien-und-im-irak-bald-beenden-a-e3d49094-1926-4b83-9bcf-c11afd19b9e7], zeigt, wie wenig das propagierte Selbstbild von der NATO als Verteidiger des Rechts wert ist. Wir sind gefordert, größtmögliche Friedensdemonstrationen gegen die Militarisierung Europas und die Kriegsvorbereitungen durchzuführen, lokal vor Ort, in unserem Land und in der EU, sowie am NATO-Hauptquartier in Brüssel. Der Frieden, für den wir uns engagieren, verbindet Internationalismus mit Solidarität. Christoph von Lieven von ICAN betonte, dass die soziale Frage mit der Militarisierung zusammenhängt. Die Warnung etwa von Generalinspekteur Breuer, man müsse mit einem Angriff Russlands 2029 rechnen, hält er für unverantwortlich. Was die Öffentlichkeit über die Planungen der Militärs erfährt, sei nur die Spitze des Eisbergs. Ein Krieg mit Russland würde sich nicht auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA, ereignen, sondern in Europa. Hier haben die USA ultraschnelle und hochpräzise Mittelstreckenraketen, sodass ein kriegerisches Szenario leicht in ein nukleares Inferno übergehen würde. Die Kriegstüchtigkeit steht gegen das Friedensgebot des Grundgesetzes. Eine Friedenspolitik muss mehr sein als die Kritik an Einzelmaßnahmen. Das System der Gewalt hat Ursachen in der Konkurrenz- und Wachstumslogik des Kapitalismus. Wir müssen mit dem Naheliegenden anfangen, etwa mit der Forderung nach Erfüllung des Atomwaffenverbotsvertrages und der UNO-Charta. Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, erinnerte an Immanuel Kants Forderung, die Menschen brauchen Mut zur Mündigkeit. Dieser Mut steht heute gegen den Kriegskonformismus. Wir brauchen auch eine klare Sprache – etwa Begriffe wie der vom ‚Klimakollaps‘ in der Ökologiedebatte ist zu schwach. Wir müssen den Kollaps des Erdsystems abwenden. Niemand kann valide vorhersagen, was etwa eine Erderhitzung auf drei Grad plus gegenüber 1979 für den Lebensraum der Menschheit regional und global bedeutet. Die armen Länder werden als erste betroffen sein. Und Gebiete in den Industriestaaten, wo ungewöhnliche Wetterereignisse Katastrophen hervorrufen können, werden möglichst schnell einfach wieder hergestellt. Die mit all diesen Entwicklungen verbundene Destabilisierung steigert Konflikte bis zur Kriegsgefahr. Die Erderhitzung von 1,9 Grad plus ist bereits Realität. Wer heute noch von 1,5 Grad spricht, verharmlost. Konservativer Nationalismus und grüner Neoliberalismus werden die erwähnten Probleme nicht lösen. Die Veränderungen bewirken im System der Thermoströme Umwälzungen von unvorhersehbaren Ausmaßen und Ausformungen. Die Dummheit eines Systems, das vor allem die Linearität von Wachstum zum Programm hat, kann sich die Menschheit nicht mehr leisten. Während planetarische Krisen verschärft werden, bleiben gemeinsame Aktionen von zivilgesellschaftlichen Akteuren die Ausnahme. Wir brauchen eine globale Gemeinsamkeit statt der Konfrontation der Abschreckungsstrategie. Wir brauchen eine Strategie der Bewahrung des Lebensraumes der Menschheit, die Abrüstung und Diplomatie, das Völkerrecht im Sinn einer Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit etabliert. Ohne eine dadurch mögliche globale Kooperation sind die globalen Probleme nicht lösbar. Die Welt braucht Gemeinsamkeit statt Konfrontation. Ohne eine strukturelle Veränderung des Systems ist die Welt nicht zu retten. Die nichtlinearen Prozesse vor uns liegender Kipp-Punkte, die sich gegenseitig durchdringen, sind nur mit eine Kraftanstrengung bewältigbar, die mit dem Mut zur Mündigkeit beginnt. Wir müssen sehen und sagen, was ist. Und wir haben da anzusetzen, wo die Gefahr aktuell und wo die Aussicht auf Aktivierung von Widerstand am größten ist. Das zu klären, wird auch wieder 2026 Aufgabe der Friedensbewegung sein. Die Atomrüstung, die Vormachts-Strategie der NATO und die Kriegsvorbereitung inklusive der erneuten Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland wird dabei eine herausragende Aufgabe beim Auf- und Ausbau von Friedensstrukturen sein. Titelbild: Drakuliren / Shutterstock
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