SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Können Tiere den Tod verstehen? Susana Monsós „Das Schweigen der Schimpansen"

2018 brachte ein Orca-Weibchen nach 17-monatiger Schwangerschaft ein Jungtier zur Welt. Leider überlebte es keine halbe Stunde lang. Was dann folgte, war aus Sicht von Forschern höchst ungewöhnlich: Die Mutter trug ihr totes Kalb nämlich einfach weiter huckepack durchs Meer, über zwei Wochen lang, mehr als 1000 Meilen weit. Viele verfolgten die Tragödie in den Medien, und die spanische Philosophin Susana Monsó glaubt auch zu wissen, warum:  > Wir glaubten, genau zu verstehen, was die Walmutter durchmachte; in ihrem Verhalten spiegelten sich unsere eigenen schmerzlichen Erfahrungen angesichts des Verlusts eines geliebten Menschen. > > > Quelle: Susana Monsó – Das Schweigen der Schimpansen EMPFINDEN TIERE TRAUER?  Können Tiere den Tod verstehen? Können sie wie wir Trauer und Verlust empfinden? Lange wurde Trauer für ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen gehalten. Inzwischen werden immer mehr Fälle bekannt, die diese Ansicht in Frage stellen: Schimpansen in einem Gehege, die sich, wie um Abschied zu nehmen, nach dem Tod eines Gruppenmitglieds still am Zaun aufreihen. Elefanten, die beharrlich die Stoßzähne toter Artgenossen mit sich herumtragen. Delfine, die für ein sterbendes Gruppenmitglied eine Art Floß bilden, um ihm das Atmen zu erleichtern.   Für Susana Monsó stellen sich angesichts solcher Beispiele jedoch viele Fragen. „Das Schweigen der Schimpansen. Wie Tiere den Tod verstehen“ ist ihr kluges, nachdenkliches, vorzüglich lesbares Buch betitelt. In ihm erinnert die Philosophin daran, dass solche Fälle praktisch immer anekdotisch und daher von begrenzter Aussagekraft sind. Zum anderen aber findet die Philosophin es bezeichnend, dass wir uns vor allem für Berichte interessieren, in denen wir uns und unsere Reaktionen auf den Tod wiederzuerkennen glauben – für Monsó ein Beispiel für „emotionalen Anthropozentrismus“. Als wäre der Mensch der Maßstab für den richtigen Umgang mit dem Tod.   ZERSTÖRTE, IRREPARABLE KÖRPER  Dabei glaubt die Autorin durchaus, dass zahlreiche Tierarten über ein „Konzept vom Tod“ verfügen. Nur tue man gut daran, sich daran zu erinnern, dass Tiere beim Anblick eines toten Lebewesens alles Mögliche verspüren können, so Monsó – inklusive Hunger oder Freude. Und vor allem: dass der Tod in der Natur etwas völlig anderes sei als für uns, also kein klinisch-abstraktes Ausnahmeereignis, im Gegenteil.  > Der Tod ist etwas sehr Konkretes und Greifbares, etwas, was man riechen, anfassen und schmecken kann. Die Toten sind keine abwesenden Individuen, sondern vor allem zerstörte und irreparable Körper.  > > > Quelle: Susana Monsó – Das Schweigen der Schimpansen Damit ein Tier überhaupt verstehen könne, dass ein anderes Tier, ob nun ein Artgenosse oder nicht, tot sei, müsse es laut Susana Monsó zwei Dinge erkennen: dass das tote Tier sich nicht mehr so verhält, wie es normalerweise zu erwarten sei. Und dass dieser Zustand unumkehrbar ist. Ameisen zum Beispiel erkennen dies nicht; wenn sie eine tote Arbeiterin aus dem Nest tragen, dann deshalb, weil sie instinktiv auf einen bestimmten Verwesungsgeruch reagieren.  LISTIGES OPOSSUM, ÜBERRASCHTE RÄUBER  Wer beweisen wolle, dass es im Tierreich tatsächlich zumindest eine Art „Minimalkonzept vom Tod“ gebe, sollte sich laut Monsó am besten an Beutegreifer halten: an Tiere also, die genau darauf achten müssen, ob ihre Beute alt, verletzt oder krank ist. Und die sichtbar überrascht sind, wenn ein vermeintlich totes Tier plötzlich wieder quicklebendig ist – wie das Opossum, das das Sich-tot-Stellen regelrecht zur Kunst erhoben hat, inklusive heraushängender Zunge und der Absonderung von Fäulnisgeruch. Ein Verteidigungsmechanismus, der für die Philosophin zumindest eines belegt: dass die Gegenseite, also die Fressfeinde der putzigen Nager, den Unterschied zwischen lebendig und tot nur zu gut kennen. Also ja, Tiere verstehen wohl wirklich den Tod – nur eben anders als wir.

17. sep. 2025 - 4 min
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Weike Wang – Die Ferien | Buchkritik

Keru und Nate sind seit fünf Jahren verheiratet. Sie machen Urlaub am Cape Cod – jene Halbinsel an der Ostküste der USA, in deren Licht Eduard Hopper über dreißig Jahre lang malte und die bei US-Präsidenten seit den Kennedys beliebt ist. Dass das Paar am Cape Cod nur bedingt zur Ruhe kommt, liegt daran, dass sie nacheinander ihre Eltern zu sich eingeladen haben. Und die beäugen ihre Beziehung zum Teil kritisch: Kerus Eltern sind aus China in die USA eingewandert, als sie sechs Jahre alt war. Nates Eltern stammen aus North Carolina. Dass ihr Sohn mit einer Einwanderin zusammen ist, führt zu vielen Fragen, in denen stets Vorurteile mitzuschwingen scheinen. So interessiert sich Nates Mutter mit großer Ausdauer für das Thema Staatsbürgerschaft:  > Er erklärte ihr den Prozess in allen Einzelheiten. Um die US-Staatsbürgerschaft zu erhalten, hatten Keru und ihre Eltern ihre roten chinesischen Pässe abgegeben, und zwar bevor Keru das Teenageralter erreicht hatte. Sie hatten sich einer schriftlichen und mündlichen Prüfung unterzogen, den Treueschwur auf die Fahne geleistet, sich fest die Hände schütteln und gratulieren lassen, Sie befinden sich nun im Land der Freiheit, also das, was Ihre frühere Heimat nicht ist. > > > Quelle: Weike Wang – Die Ferien MIGRATIONSERFAHRUNG UND SOZIALER AUFSTIEG ALS THEMEN  So wie ihre Protagonistin hat auch Weike Wang als junges Mädchen China mit ihren Eltern verlassen. Dass sie in Harvard Chemie studiert und promoviert hat, merkt man ihrem Roman deutlich an. Mit wissenschaftlicher Präzision hält sie Situationen fest, in denen die chinesische und die amerikanische Kultur aufeinanderprallen. Gerade Keru, die in einer Beraterfirma Karriere macht, sitzt zwischen den Stühlen. Ihr ist der soziale Aufstieg zwar gelungen, ihre Herkunft kann sie aber ebenso wenig abschütteln wie die Bilder der einfachen, amerikanischen Familie, die sie im Kopf hat:   > Kerus Eltern konnten sich nicht mehr assimilieren, aber ihre Tochter vielleicht schon. Keru fühlte sich zweierlei Kräften ausgesetzt, dem Druck ihrer Eltern, die sie zur Assimilation drängten, und der Anziehungskraft der sagenumwobenen weißen Familie, in der man als schlimmste Strafe ohne Hackbraten ins Bett geschickt wurde und unter eingespieltem Gelächter hinauf ins Zimmer stapfte, in das wenig später dann doch noch die Mutter kam, mit Schokolade, und einem zur Nacht einen Kuss auf die Stirn drückte. > > > Quelle: Weike Wang – Die Ferien TROCKENER HUMOR UND GENAUER BLICK AUF DIE USA VON HEUTE  Weike Wangs Roman überzeugt nicht nur mit plastisch gezeichneten Figuren, sondern auch mit seinem trocknen Humor und einem genauen Blick auf die gespaltene US-Gesellschaft von heute: So leben Nate und Keru in New York, ihre Eltern aber in ländlichen Gegenden in North Carolina und Minnesota. Dass sich Nate, der als Biologe ausgerechnet zum Verhalten von Fruchtfliegen forscht, von seinen Eltern entfremdet hat, liegt aber nicht nur an den unterschiedlichen Lebenswelten, sondern hängt auch mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 zusammen:  > Dummerweise hatte Keru auch ihre Mutter um Rat gebeten, die Nates Entfremdung von seiner Mutter sofort als impulsiv abgetan hatte. Jungen Menschen fehlt die Perspektive«, sagte sie. Die haben noch nicht gelernt zu leiden. Im schlimmsten Fall ist derjenige, den sie gewählt haben, acht Jahre im Amt. Was ist das schon im Vergleich zu einer ganzen Kindheit unter dem Vorsitzenden Mao? – Irgendwann kam immer die Mao-Karte ins Spiel. Genau wie die Trump-Karte. > > > Quelle: Weike Wang – Die Ferien „Die Ferien“ berührt als Buch, das davon handelt, wie Herkunft den weiteren Lebensweg beeinflusst. Der Roman unterläuft auf geschickte Weise die US-amerikanische Erzählung, dass jeder es allein mit harter Arbeit zu etwas bringen kann. Das wird vor allem in Nates trostlosem Alltag als Juniorprofessor deutlich, der sich mit Beschwerden von Studierenden und endlosen Sitzungen in Ausschüssen herumschlagen muss. Weike Wang hat mit „Die Ferien“ einen Roman vorgelegt, der sich einerseits als unterhaltsame Ferienlektüre anbietet, der andererseits aber auch als lakonisch geschriebenes und schonungsloses Porträt der US-Gesellschaft überzeugt.

16. sep. 2025 - 4 min
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Gertraud Klemm – Abschied vom Phallozän. Eine Streitschrift

„Es ist das Patriarchat, stupid“: In ihrem 140 Seiten starken Essay stellt Gertraud Klemm die These auf, dass wir nicht im „Anthropozän“, sondern im „Phallozän“ lebten. Umweltzerstörung, Kriege, Rassismus und globale Ungerechtigkeit: All diese Miseren seien das Produkt einer Männerherrschaft, die vor etwa 5000 Jahren begonnen habe. Die Menschheit wäre besser dran, so Klemm, wenn die Frauen das Sagen hätten.  „Eine matriarchalische Gesellschaft wäre auf jeden Fall gerechter, sowohl, was die Geschlechtergerechtigkeit betrifft, als auch, was die Ökonomie betrifft: Es gäbe keine Klassenunterschiede, und es gäbe auch keinen Rassismus oder keine ausbeuterischen Systeme“, meint die Autorin. „Das bezieht sich auch auf die Natur, die respektvoll behandelt wird und nicht benutzt. Und last but not least: Die Spiritualität wäre eine vollkommen andere; die würde keinen transzendenten Gott kennen, es ginge eher um die Einbeziehung der Natur und des Prinzips des Lebens in alltägliche Handlungen.“  NÖTIGE REFORMEN, UM DAS LEBEN VON FRAUEN ZU VERBESSERN   Die Patriarchats-Kritik, wie Gertraud Klemm sie in ihrem erfrischend kämpferischen Buch formuliert, haben andere Autorinnen – Kate Millet und Simone de Beauvoir etwa – auch früher schon artikuliert. In der öffentlichen Diskussion spielt dieser Ansatz dennoch eine marginalisierte Rolle. Das will Klemm mit ihrer Streitschrift ändern. Natürlich weiß die Autorin, dass die Einführung eines Matriarchats im westlichen Konkurrenz-Kapitalismus bis auf weiteres Utopie bleiben muss. Deshalb plädiert sie zugleich für handfeste politische und soziale Reformen – für Reformen, die das Leben von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen nachhaltig verbessern.   IST DER HEUTIGE FEMINISMUS ZU VERKOPFT?  Der heutige Feminismus sei vielfach zu verkopft, kritisiert die Schriftstellerin, akademische Diskussionen über die richtige Platzierung von Gendersternchen sagten der Mehrzahl der Frauen nichts – und brächten ihnen auch nichts in der Tretmühle der täglichen Drei- und Vierfachbelastung.  „Ich glaube wirklich, dass wir uns wieder die Gummistiefel anziehen müssen und die Drecksarbeit angehen müssen. Wir sollten uns auf praktikable Lösungen konzentrieren in der Politik. Da nenne ich als Beispiel gerne, dass wir Verhütungsmittel auf Kasse fordern, dass man dem Schwangerschaftsabbruch endlich aus dem Strafgesetz rausbekommt, dass man sich wirklich endlich anschaut, wie das mit dem gleichen Geld für gleiche Arbeit ist.“  FEMINISTINNEN SOLLTEN SICH NICHT SPALTEN LASSEN  Vor einigen Wochen stand Gertraud Klemm wegen angeblich transfeindlicher Texte im Zentrum einer Cancel-Culture-Affäre, die ihr nicht nur Ärger, sondern auch viel Solidarität – und ein dreiseitiges „Spiegel“-Interview – eingebracht hat. Klemm dazu: „Man kann nicht abstreiten, dass mir das auch genutzt hat. Das gebe ich zu. Aber ich möchte trotzdem dazu sagen, dass es mich sehr gekränkt und geärgert hat.“  Geärgert hat sich Gertraud Klemm nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus politischen Gründen: Babyboomer-Feministinnen wie sie und jüngere Aktivist:innen des Queerfeminismus sollten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, fordert die Autorin:  „Das Abbild, das wir da jetzt quasi symbolisch hergestellt haben, ist fatal. Ich frage mich, was war der Preis? Und was hat es eigentlich zu gewinnen gegeben in der ganzen Sache? Und da gibt’s eigentlich nur Verliererinnen – und eine Menge Gewinner. Das sind dann halt die alten Patriarchen, die sich die Hände reiben und sagen können: Schaut, wir haben es euch ja gesagt: Die halten nicht zusammen, die lassen sich relativ schnell spalten.“  Und Spaltung, findet Gertraud Klemm, ist das Letzte, was feministische Bewegungen brauchen können – zumal in einer Zeit, in der nach Meinung vieler ein neuer männerbündlerischer Faschismus, ein Faschismus 2.0, vor der Tür stehen könnte.

15. sep. 2025 - 4 min
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Gefangen in den Schrecken der Zeitgeschichte

Zwei Dinge spielen im Familienleben von Karl und Rita eine ganz besondere Rolle: der Keller und ihr VW-Bus. Im Keller suchen sie mit ihren Töchtern Martha und Olivia Schutz vor dem Angriff von Feinden, namentlich den Russen. Im VW-Bulli dagegen suchen sie das Weite, er gestattet ihnen die Flucht aus der von Angst erfüllten Enge ans Meer.  IN DEN KÖPFEN IST DER KRIEG NOCH NICHT ZUENDE  Zwar ist der Zweite Weltkrieg längst vorbei, man schreibt die sechziger Jahre, aber die Ängste, die Karl aus dem Krieg mitgebracht hat, sind noch lebendig und er hat Frau und Töchter damit angesteckt. Als transgenerationale Traumata sind solche „Gefühlserbschaften", wie Sigmund Freud das nannte, zunehmend ins öffentliche Bewusstsein getreten. Von einem solchen Fall handelt Lina Schwenks Debütroman „Blinde Geister". Wenn die Großmutter namens Fritzchen zu Besuch kommt, wird auch die Enkelin Olivia von den Schrecken der Vergangenheit in Bann geschlagen.  > Mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzuhören. Sie erzählt von früher, vom Krieg, von etwas so Grausamem, das ihr wirklich passiert ist. Als Familie etwas war, das verging. Ich greife ihre Hand und halte mich fest.  > > > Quelle: Lina Schwenk – Blinde Geister FAMILIÄRE NÄHE HAUTNAH BESCHRIEBEN  Das kleine Ensemble von Romanfiguren ist eine Familie im fortwährenden Ausnahmezustand. Umso näher rücken sie zusammen, halten sich aneinander fest, streicheln sich, suchen die körperliche Nähe und es ist diese Nähe, die den Erzählstil bestimmt. Wie in mikroskopischer Vergrößerung arbeitet die Autorin die Berührungen, Gesten, das ganze Feingewebe des familiären Miteinanders heraus.  PARAMILITÄRISCHE ÜBUNGEN IM TURNUNTERRICHT  Eingerahmt von Prolog und Epilog, die den zwischen Todesangst und Lebenslust schwankenden Befindlichkeiten der Eltern gewidmet sind, blickt die Tochter Olivia zurück auf die Stationen ihres eigenen Lebenslaufs: Von den Stunden im Keller während politischer Krisenzeiten, von dem Lehrer, der den Turnunterricht in paramilitärische Übungen verwandelte, über ihre Zeit in der Psychiatrie bis hin zur Ehe mit Paul, aus der die Tochter Ava hervorging, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ihrerseits mit den aktuellsten Kriegsängsten konfrontiert wird. In ihrem Beruf als Krankenschwester sind für Olivia die alten Zwangsvorstellungen fast schon zu einer alltäglichen Phantasie geworden.  > In letzter Zeit macht es mir am meisten Spaß, im Krankenhaus über die Gänge zu streichen, als wäre ich in einem Lazarett. Ich stelle mir vor, ich sei die letzte verbliebene Schwester, die Alliierten nahten, und ich müsste meine Patienten in einen versteckten Keller bringen. > > > Quelle: Lina Schwenk – Blinde Geister WAS DER STRESS VON KRIEG UND KRISEN ANRICHTET  Die subjektive Erzählperspektive der psychisch labilen Olivia, die erst langsam im Leben Tritt findet, bestimmt den größten Teil des Romans. Der damit verbundene Verzicht auf auktoriale oder begriffliche Deutungen des Geschehens erzeugt eine intensive, beklemmende Atmosphäre, wirkt aber nicht immer leicht durchschaubar. Als individuelle Fallgeschichte einer traumatischen Belastungsstörung funktioniert das sehr gut. Mit einem kollektiven Stimmungsbild der Nachkriegsjahrzehnte darf man das allerdings nicht verwechseln. Ganz gewiss aber erinnert „Blinde Geister" eindringlich daran, was der zeithistorische Stress von Krieg und Krisen in den Seelen der Menschen anrichten kann, damals wie heute.

14. sep. 2025 - 4 min
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Wahnsinn und Trieb

Schon in den ersten Zeilen, in den ersten Sätzen ist sie da: Die Stimmung, die diesen erstaunlichen Roman trägt. Der Tonfall, der in einer Mischung aus Märchenhaftigkeit und einprägsamen Bildern seine ganz eigene Welt erschafft; ein Szenario, das etwas Unheimliches entfaltet, minimal über der Wirklichkeit zu schweben scheint und trotzdem fest eingebettet ist in den historischen Kontext: > Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den er bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird. > Es war der Tag der drei Könige – der Wald schluckte das letzte trübblaue Licht. Das Zimmer, in dem der Junge geboren wurde, lag im Westflügel des Waldschlosses, gleich neben dem blaugestrichenen, das nie jemand betrat. > > > Quelle: Nelio Biedermann - Lázár ROMAN MIT AUTOBIOGRAFISCHEM HINTERGRUND Es ist der 6. Januar 1900. Der Beginn eines von Ideologien beherrschten Jahrhunderts, das auch das Adelsgeschlecht der ungarischen Familie Lázár in den Griff nehmen und zersprengen wird. Davon, unter anderem, erzählt Nelio Biedermann über vier Generationen bis ins Jahr 1956. Der Stammsitz der Lázárs, ein abgelegenes Schloss rund 200 Kilometer von Budapest entfernt, wird von der Weltgeschichte immer einen Tick später erfasst als die großen Zentren. Das liegt auch daran, das Baron Sándor, Lajos‘ Vater, in seinem Snobismus die Zeitungen aus der Hauptstadt kommen lässt und den Nachrichten immer einen Tag hinterherhängt. Ein kleines, sprechendes Detail, wie so viele in diesem Roman. „Lázár“ ist ein Buch mit autobiografischem Hintergrund. Nelio Biedermann entstammt der österreich-ungarischen Adelsfamilie Biedermann von Turon. Seine Großeltern haben, wie Lajos‘ Sohn Pista und seine Frau Eva im Roman, nach dem gescheiterten Aufstand 1956 die Flucht ergriffen. Biedermann hat für seinen Roman Zeitzeugen befragen können, wie er erzählt: „Ich hatte das Glück, meinen Großonkel in Budapest über die Zeit, in der der Roman spielt, ausfragen zu können. Er ist selbst noch in einem Schloss aufgewachsen und hat die Enteignung am eigenen Leib miterlebt. Durch ihn konnte ich das Gefühl für diese Zeit erlangen und wusste, was die Figuren damals gegessen, wie sie sich gekleidet und gesprochen und worüber sie sich Sorgen gemacht haben.“ ANKLÄNGEN AN DIE GROSSEN ROMANCIERS DES 20. JAHRHUNDERTS Diese Authentizität ist eine der großen Stärken des Romans. Die andere ist seine geschmeidige Sprache, die gesättigt ist mit Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts, an Thomas Mann [https://www.swr.de/swrkultur/wissen/archivradio/thomas-mann-feiert-1945-deutsche-kapitulation-und-spricht-von-befreiung-100.html], an Marcel Proust [https://www.swr.de/swrkultur/literatur/sehnsucht-und-begehren-der-weltliterat-marcel-proust-swr2-forum-2022-11-16-100.html] oder auch an Joseph Roth, der in seinen Romanen das habsburgische Reich in aller Pracht noch einmal hat auferstehen lassen, um es dann lustvoll in den Untergang zu führen. „Lázár“ hat nichts Anbiederndes und auch nichts Großspuriges. Biedermann ist kein Autor, der sein Können ausstellen will. Vielmehr dienen ihm die Vorbilder als produktive Elemente, um einen eigenen Stil zu entwickeln: „Ich bewundere Proust und Thomas Mann für ihren makellosen, fließenden Ton und habe versucht, das irgendwie auch zu erreichen. Ich habe mir meine Texte, bevor ich sie abgetippt habe, - ich schreibe alles von Hand - , immer laut vorgelesen, um möglichst nahe an diesen Ton heranzukommen. Gleichzeitig war es mir aber wichtig, dass die Perspektive, aus der ich auf diese Zeit blicke, eine moderne ist. Dass also der Ton zwar klassisch sein kann, die Perspektive aber eine heutige bleibt.“ EIN ROMAN, DER SPASS MACHT „Lázár“ ist ein Roman, der großen Spaß macht. Sauber konstruiert, den großen erzählerischen Bogen schlagend, aber im Detail voll von Szenen, die lange nachwirken. Da ist Mária, Lajos‘ unglückliche Mutter, die sich bereits früh das Leben nimmt. Da ist Sándor, das Familienoberhaupt, erstarrt in der Vergangenheit, das sich allmählich zu Tode trinkt. Da sind vor allem aber die Zeitläufte, von denen die Familie Lázár mitgerissen wird – der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, der Nationalsozialismus, der Kommunismus, die Zwangsenteignung, die Demütigungen. Mal ist man Täter, mal Opfer, oft auch beides zugleich. IMRE: DIE LIEBLINGSFIGUR DES AUTORS Opportunismus, Dünkel, Trieb und Dekadenz ziehen sich als Leitmotive durch den Roman. Die schillerndste Figur ist Lajos‘ als verrückt geltender Onkel Imre, der im Waldschloss in einem abgeschlossenen Zimmer vor sich hinlebt. Der Wald, die Unheimlichkeit, das Gespenstische haben Imre in sich eingesogen. Imre hat seine schauerromantischen Lektüren ernst, allzu ernst genommen und ist über die Literatur in den Wahnsinn abgeglitten: > Das erste Nachtstück war eine Erzählung, die den Titel Der Sandmann trug. Imre las sie im Schein der Lampe, die auf dem Tischchen neben seinem Bett stand, in einem Zug durch. Als er das Buch neben die Lampe legte, fiel ihm auf, dass seine Hand zitterte, dann, dass auch sein Arm sich unruhig hin und her bewegte, und schließlich, dass sein ganzer Körper bebte. Den Blick auf den schwarzen Einband des Buchs geheftet, wartete er darauf, dass der Anfall verebbte. > > > Quelle: Nelio Biedermann - Lázár KLARSICHT TROTZ WAHNSINN Der wahnsinnige Imre, der nur selten auftaucht, ist im Grunde der unbestechliche und klare Beobachter des Jahrhunderts. Biedermann rückt das tobende Jahrhundert durch den Filter des vermeintlich Wahnsinnigen immer wieder dezent in ein neues Licht. Der Autor selbst sagt über Imre: „Imre ist auch meine Lieblingsfigur, was sicher daran liegt, dass er trotz seiner Verrücktheit und seiner Sensibilität die meisten anderen Figuren überdauert und eigentlich immer das Richtige zu tun versucht und sich den Verstrickungen, in die sich die anderen Figuren begeben, entzieht und trotz seinem Wahn eine sehr starke Klarsicht erlangt.“ „LÁZÁR“ IST EINE GROSSE LITERARISCHE LEISTUNG Ja, „Lázár“ ist ein in sich perfektes kleines Wunderwerk. Das enorm frühreife Buch eines jungen Schriftstellers, der nie eine Schreibschule besucht und stattdessen viel gelesen und viel verstanden hat. Man wird die Uhr danach stellen können, wann die ersten Kritiken den Roman als triviale Adels-Soap-Opera abkanzeln werden. Das ist schlicht Unsinn: „Lázár“ ist eine große literarische Leistung.

12. sep. 2025 - 6 min
Enkelt å finne frem nye favoritter og lett å navigere seg gjennom innholdet i appen
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