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3501 episodesWer verstehen will, was gespielt wird, sollte dieses Buch lesen, gerade auch, wenn sich inzwischen manches verändert hat. Im amerikanischen Original hieß es tatsächlich „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“. 1997 erstmals in den USA erschienen, kam es 1999 mit einem Vorwort Hans-Dietrich Genschers unter dem Titel „Die einzige Weltmacht“ auf Deutsch heraus, erreichte bei S. Fischer mehrere Auflagen, war bald vergriffen. Jetzt wurde es vom Nomen Verlag wieder auf den Markt gebracht. Eine faszinierende Mischung von strategischem Scharfsinn und geopolitischer Überheblichkeit. Aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Als US-amerikanischer Geostratege ist Zbigniew Brzeziński (1928-2017) nach dem Zweiten Weltkrieg von immensem Einfluss gewesen. Von 1966 bis 1968 war er Wahlkampf-Berater Lyndon B. Johnsons und von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Er war Professor für US-amerikanische Außenpolitik an der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, D.C., Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) in Washington, D.C. und stellvertretender Vorsitzender der National Advisory Task Force von Präsident George Bush senior, zudem Unternehmensberater für mehrere große US-amerikanische und internationale Firmen. Viele seiner geopolitischen Analysen dürften regierungsintern geblieben sein, sodass wir in seinen Buchveröffentlichungen wohl nur die Spitze des Eisbergs sehen. Deren antikommunistische Zielrichtung entsprach US-amerikanischer Politik und hatte zudem einen persönlichen Hintergrund. 1928 in Warschau als Sohn des Diplomaten Tadeusz Brzeziński geboren, hat er aus der Zeit der stalinistischen Säuberungen in seiner Familie tiefe Aversionen mitgebracht. Zudem stammte das Adelsgeschlecht der Brzezińskis aus der Stadt Brzeżany, die 1945 von der Sowjetunion annektiert und der Ukrainischen SSR angegliedert wurde. Wäre der Autor einfach nur ein ideologischer Scharfmacher gewesen, könnte man sich die Lektüre sparen. Erhellend ist sie indes allein schon, weil sie so konsequent der im deutschen Titel benannten Zielrichtung folgt: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“. Erhellend, weil es diesbezüglich eine verbreitete Traumverlorenheit gibt, zumal im Westen Deutschlands, wo die USA nach dem Zweiten Weltkrieg als Schutzmacht und Freiheitsbringer wahrgenommen wurden – gegen den von der UdSSR dominierten Osten, wo der Versuch einer Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeutung letztlich scheiterte. Ein Ende des Kalten Krieges erschien verheißungsvoll. Doch der Traum von einem gemeinsamen europäischen Haus zerschellte für den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow ebenso wie für viele andere Menschen, die sich ein Ende der Konfrontationen in der Welt erhofft hatten. Dass dies jenseits des Atlantiks als Freibrief empfunden wurde, die eigenen Interessen als „einzige Weltmacht“ umso rigider durchzusetzen, ist für Leser der NachDenkSeiten nicht neu. Aber im vorliegenden Buch werden diese weltweiten Hegemoniebestrebungen strategisch und taktisch dermaßen detailliert analysiert, dass ich es immer wieder für verwunderlich hielt, wie sowas an die Öffentlichkeit gekommen ist. Die Ukraine als „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“ Wer zum Beispiel hierzulande noch glaubt, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, von denen der größere den kleineren aus heiterem Himmel überfiel und nun im Sinne von Humanität und Völkerrecht mit allen Mitteln zurückzudrängen ist, sollte dieses Buch lesen. Schon 1997 ist darin die besondere Bedeutung der Ukraine als „ein neuer und wichtiger Raum auf dem europäischen Schachbrett“ hervorgehoben, damit auf dem einst sowjetischen Gebiet kein erneuertes Imperium entstehen könne. Für die USA sei sie „ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Transformation Russlands beitragen würde. „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ [1] Schon 1997, wie gesagt, gab es den Plan einer Ukraine-Front. Die Ausdehnung der EU, so Brzeziński, würde zwar eine europäische Entscheidung sein, für die NATO-Entscheidung indes sei die „Stimme der USA … noch immer maßgebend“. Da würde es bald auch um den Status der Ukraine gehen. [2] Noch ist Jelzin-Zeit, und eine mögliche Anwartschaft Russlands, in westliche Strukturen aufgenommen zu werden, steht im Raum. „Aber was wäre dann mit der Ukraine?“, zweifelt Brzeziński. „Russlands innenpolitische Erholung ist die wesentliche Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung. Aber jede Erholung seines imperialen Potenzials wäre beiden Zielen abträglich.“ [3] Den Zerfall der Sowjetunion sieht der Autor sowohl mit Genugtuung als auch mit einer viel größeren Sensibilität als andere, was die Folgen betrifft. Er hat durchaus eine Antenne für „den historischen Schock, den die Russen erlitten“ und auch für ihre gemeinsame „panslawische Identität“ mit der Ukraine [4]. Er fühlt nach, was der Verlust der Ukraine mit ihren „52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen“, [5] geostrategisch, wirtschaftlich und politisch-emotional bedeutet. Und er gibt russischen Analytikern sogar recht, „dass die USA in ganz Eurasien eine Reorganisation der zwischenstaatlichen Beziehungen anstrebten“ – ohne eine führende Macht, sondern mit vielen einzelnen, die sogar „im Kollektiv den Vereinigten Staaten zwangsläufig unterlegen seien“. [6] Teile und herrsche. Schon spätestens seit 1994 (als Berater Clintons muss er es ja wissen) habe es in den USA eine „zunehmende Tendenz“ gegeben, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen“. [7] Dass dies eine gefährliche Politik war – hier findet sich schon eine vage Ahnung. Wie sie damals von Helmut Kohl unterstützt worden ist, war mir bislang nicht bewusst. „Auch amerikanische Politiker bezeichneten das amerikanisch-ukrainische Verhältnis nun als eine ‚strategische Partnerschaft‘ und bedienten sich dabei bewusst desselben Begriffs, mit denen sie die Beziehungen der USA zu Russland beschrieben hatten.“ [8] Aber „Russland war einfach zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein. Über dieses Kernproblem konnte auch keine vollmundige Partnerschaftsrhetorik hinwegtäuschen.“ [9] Es ist tatsächlich frappierend, mit welcher Offenheit diese absichtsvolle Täuschung hier zugegeben wird und mit welcher Herablassung das geschieht. Wie sich der Ukraine-Konflikt ab 2014 zuspitzen würde, hat Brzeziński wohl dennoch nicht in aller Deutlichkeit vorausgesehen. In einem Artikel für die Washington Post am 3. März 2014 schlägt er eine Doppelstrategie vor: Androhung militärischer Stärke seitens des Westens und gleichzeitig Beschwichtigung, indem man Russland versichert, dass die Ukraine nicht in die NATO hineingezogen würde.[10] Aber was derlei Versicherungen betraf, waren die Russen doch längst schon gebrannte Kinder. Dass der Ukraine ein NATO-Beitritt schon zwischen 2005 bis 2010 in Aussicht gestellt worden ist, wie hier verlautet, dürfte auch Moskau nicht entgangen sein. Klartext, auch was Deutschland betrifft Man staunt wirklich: Das Buch hätte eigentlich das Zeug zu einem Geheimpapier gehabt, welches keinesfalls politischen Widersachern vor Augen kommen soll. So aber konnte man es sich vielerorts auf der Welt zu Gemüte führen. In russischer Übersetzung kam es 1999 unter dem Titel „Velikaja schachmatnaja doska“ heraus und ist problemlos im Internet nachzulesen. Natürlich ist es faszinierend, sich Weltpolitik als großes Schachspiel vorzustellen. Wie Zbigniew Brzeziński diese intellektuelle Herausforderung genoss, die ihn anderen auch überlegen macht, ist nachzuvollziehen, und man hat beim Lesen daran teil. Doch welche Überheblichkeit, Staaten wie Spielfiguren zu behandeln! Ob Widersacher oder Vasall, sie werden charakterisiert, ob es ihnen so gefällt oder nicht. Armenier und Bulgaren, Chinesen und Esten, Franzosen und Georgier, Inder und Iraner, Japaner und Kasachen, Letten und Mongolen, Österreicher und Polen, Tadschiken und Türken … – aus US-amerikanischer Sicht scheint die Rangordnung unstrittig. Das muss man sich zu Gemüte führen. Wer noch nicht aus dem „American Dream“ erwacht ist, den Brzeziński der „Soft Power“ zuordnet, wer noch irgendwelche transatlantischen Illusionen hegt, der braucht dieses Buch geradezu, um zu Besinnung zu kommen. Die drei Imperative imperialer Geostrategie werden klar benannt: „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass sich die ‚Barbarenvölker‘ nicht zusammenschließen.“ [11] Und wo ist Deutschlands Platz? Auf rund 50 Seiten wird man fündig und muss die Herablassung wohl akzeptieren. „Musterknaben“ im europäischen Brückenkopf werden wir genannt. Weil wir auf „historische Reinigung“ aus sind, wird uns die Aussöhnung mit Polen zugutegehalten. [12] „Selbst Deutschland ließe sich vielleicht dazu verleiten, eine französische Führungsrolle in einem vereinten aber (von Amerika) unabhängigen Europa zu akzeptieren, doch nur, wenn es in Frankreich tatsächlich eine Weltmacht sähe, die Europa die Sicherheit verschaffen könnte, die es selbst nicht gewährleisten kann, wohl aber die USA.“ [13] Was die die Bestrebungen der USA und die unsrigen indes im Grundlegenden trennt, belegt ein weiteres Zitat: „Sich selbst überlassen, laufen die Europäer Gefahr, von ihren sozialen Problemen völlig vereinnahmt zu werden.“ Die Kosten der alle Bereiche erfassenden Ausweitung des sozialstaatlichen Systems, das Eigenverantwortlichkeit kleinschreibt“, würden sich ökonomisch und politisch schädigend auswirken. „Kulturelle Lethargie, eine Kombination von eskapistischem Hedonismus und geistiger Leere“ könnten von „nationalistischen Extremisten oder dogmatischen Ideologen ausgenutzt werden“. [14] Solche Einlassungen gegen das, was vom Sozialstaat noch übrig ist, werden wir in Zukunft wohl noch häufiger zu hören bekommen. „Man kann nur wünschen, dass sich die Einsicht von der Gleichwertigkeit Europas im amerikanischen Denken allgemein durchsetzt“, schreibt Hans-Dietrich Genscher im Vorwort zur deutschen Ausgabe. [15] Fein diplomatisch: Als Vasall ist man Kummer gewohnt. Was würde er heute sagen? Werden die USA unter Trump auf unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen noch weniger Rücksicht nehmen als unter seinen demokratischen Vorgängern? „Ich habe Nord-Stream 1 gestoppt“, gab Trump vor seiner Wahl zum Besten. [16] Inwieweit da etwas Wahres dran ist oder nicht, auf jeden Fall hat Deutschland sich auf lange Sicht durch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland geschadet. Die USA profitieren durch die Lieferung von umweltschädlich gewonnenem Flüssiggas und werden künftig bei der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen noch weniger Skrupel kennen. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern“, stellte schon Zbigniew Brzeziński fest. Zwar fügt er hinzu, dass dies „kein gesunder Zustand“ sei [17], meint aber damit nicht mehr Eigenständigkeit für uns, was innerhalb der EU auch zugegebenermaßen schwierig wäre. Ein „gesunder Zustand“ wäre aus seiner Sicht vielmehr, dass alle im US-Interesse handeln, ohne dass man sie beaufsichtigen müsste. Als Anhänger der US-Demokraten ist der Autor guten Gewissens, für Freiheit und Frieden zu stehen, wie sie die USA aus seiner Sicht für die Welt garantieren könnten, wenn ihr Platz als „einzige Weltmacht“ nicht immer wieder angefochten würde. Dass dies irgendwie geschehen könnte, hat Brzeziński allerdings schon geahnt. Ohne ein „langfristiges Miteinander“ geht es nicht Im Nachwort von 2016 gibt Brzeziński zu, dass „Amerika sowohl im In- als auch im Ausland als geschwächt wahrgenommen“ wird, sich „Russland in die vorderste Linie des Weltgeschehens drängt“ [18] und China sich als „neu entstehende Weltmacht“ [19] entwickelt. „Die einzige Sache, die wirklich niemand will, ist, dass sich Russland und China verbünden.“ [20] Was Donald Trump in Arizona bei einem seiner letzten Wahlkampfauftritte sagte, ist also nicht neu. Dass Russland und China nun im Bunde sind, legt er seinem Vorgänger Biden zur Last. Henry Kissinger (1923-2023) hatte kurz vor seinem Tod gesagt: „Die größte Bedrohung für den Weltfrieden? Das sei eine Konfrontation zwischen den USA und China.“ [21] Und auch Brzeziński war klug genug, vor einer wirklichen Kollision zurückzuweichen. Amüsant beim Lesen zu beobachten, welchen Zickzack-Kurs er einschlägt: Eben noch siegesgewiss am „Schachbrett“, kommt ihm dann doch zu Bewusstsein, dass es noch andere Spieler gibt, deren Selbstbewusstsein wächst. Umso eindringlicher mahnt er im „Ausblick“ von 2016 Lösungen an – für ein „langfristiges Miteinander aller drei Seiten … China, dem Problem der Zukunft, Russland, dem Unruhestifter der Gegenwart, und den Vereinigten Staaten, der alternden Supermacht, gefangen in den schlechten Gewohnheiten seiner Geschichte“. [22] Ob vor dem Hintergrund einer neu entstehenden multipolaren Weltordnung eine Untersuchung wie die von Brzeziński überholt und somit obsolet geworden wäre? Im Gegenteil! Erstens sind die hier beschriebenen hegemonialen Bestrebungen noch längst nicht vom Tisch – in einer zunehmend krisenhaften Situation unter Präsident Trump könnten sie noch schärfere Formen annehmen – und zweitens bietet das Buch eine Schulung in geostrategischem Denken. In einer Rationalität, die gerade heutigen US-hörigen deutschen „Musterknaben“ (und -schwestern) verloren gegangen ist, sodass sie als Moralapostel international schon nicht mehr ernst genommen werden. Aber: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ [23] – Was Egon Bahr am 3. Dezember 2013 bei einer „Willy-Brandt-Lesewoche“ vor 45 Gymnasiasten in Heidelberg sagte, hätte wohl sogar Brzezińskis Zustimmung gefunden. ---------------------------------------- Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien. Übersetzung Angelika Beck. Vorwort Hans-Dietrich Genscher. Nomen Verlag, 295 S., br., 20 €. Titelbild: zef art/shutterstock.com ---------------------------------------- [«1] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 70 [«2] ebenda, S. 76 [«3] ebenda, S. 78 [«4] ebenda, S. 125 [«5] ebenda, S. 128 [«6] ebenda, S. 143 [«7] ebenda, S. 143 [«8] ebenda, S. 155 [«9] ebenda, S. 144 [«10] washingtonpost.com/opinions/zbigniew-brzezinski-after-putins-aggression-in-ukraine-the-west-must-be-ready-to-respond/2014/03/03/25b3f928-a2f5-11e3-84d4-e59b1709222c_story.html [https://www.washingtonpost.com/opinions/zbigniew-brzezinski-after-putins-aggression-in-ukraine-the-west-must-be-ready-to-respond/2014/03/03/25b3f928-a2f5-11e3-84d4-e59b1709222c_story.html] [«11] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S.62 [«12] ebenda, S. 90 [«13] ebenda, S. 94 [«14] ebenda, S. 104f [«15] ebenda, S. 13 [«16] berliner-zeitung.de/news/donald-trump-nord-stream-2-kreml-reagiert-li.2267990 [https://www.berliner-zeitung.de/news/donald-trump-nord-stream-2-kreml-reagiert-li.2267990] [«17] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 86ff [«18] ebenda, S. 286 [«19] ebenda, S. 288 [«20] businessinsider.de/politik/international-politics/donald-trump-will-russland-von-china-trennen-experten-zweifeln/ [https://www.businessinsider.de/politik/international-politics/donald-trump-will-russland-von-china-trennen-experten-zweifeln/] [«21] welt.de/politik/ausland/article245512784/Kissinger-Ich-bin-uebrigens-nicht-der-Meinung-dass-alle-Schuld-bei-Putin-liegt.html [https://www.welt.de/politik/ausland/article245512784/Kissinger-Ich-bin-uebrigens-nicht-der-Meinung-dass-alle-Schuld-bei-Putin-liegt.html] [«22] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 289 [«23] schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen [https://schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen] [https://vg01.met.vgwort.de/na/c7364477f4d244cf9ac9e639e1a6ada0]
Im zu Ende gehenden Jahr wurden bundesweit 23 Kliniken für immer zugemacht – mindestens. 90 weitere sind akut in ihrer Existenz bedroht. Dramatisch ist der Schwund bei der Geburtshilfe. In 30 Jahren haben sich die Kapazitäten mehr als halbiert. Der Gesundheitsminister will gegensteuern, mit „Kompetenzverbünden“, während seine Krankenhausreform die Versorgungslandschaft um Hunderte Standorte lichten soll. Eine Weihnachtsgeschichte, die im Straßengraben endet. Von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Man stelle sich Karl Lauterbach (SPD) als Frau vor – Karlotta –, der es vergönnt wäre, ein Kind zu empfangen. Dann der Tag der Niederkunft, die Fruchtblase geplatzt, alles muss schnell gehen. Aber: keine Geburtsklinik weit und breit. Karlotta, von Wehen gekrümmt auf der Rückbank des Autos wimmernd, am Steuer ihr Gatte – nennen wir ihn Josef –, schweißgebadet und am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das Krankenhaus vor Ort: vor zwei Jahren dichtgemacht. Das in der nächsten Kreisstadt: kein Kreißsaal. Das übernächste, 50 Kilometer weg: Personalmangel. Man ahnt, wie die Sache ausgeht … Noch sind sie eine Seltenheit: Notgeburten auf halber Strecke zum Hospital. Vor fast einem Jahr zum Beispiel gebar eine Frau ihr Baby auf dem Seitenstreifen der Autobahn 99 bei München, unter Mithilfe ihres Mannes, „glücklicherweise Arzt“ [https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/muenchen-a99-geburt-ebersberg-autobahn-1.6317468], der kurzerhand als Hebamme einsprang. Oder im Sommer 2023 in Norddeutschland: Weil gleich vier Standorte in Bremen sie nicht aufnehmen konnten, wurde eine Frau in den Wehen ins fast 80 Kilometer entfernte Vechta [https://taz.de/Verlegungen-von-werdenden-Muettern/!5950088/] verfrachtet, wo die Geburt schließlich erfolgreich vonstattenging. Kreißsäle im Schwund Die Dinge enden nicht immer so glimpflich. Dabei werden sich solche Fälle häufen. Am Mittwoch machte das „Bündnis Klinikrettung“ im Rahmen einer Videokonferenz neue Zahlen zum allgemeinen Kliniksterben [https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2024/11/1_Bilanz-Krankenhausschliessungen2024_Buendnis-Klinikrettung.pdf] publik. 2024 gingen in bis dato 23 Häusern für immer die Lichter aus, und noch ist das Jahr nicht vorbei. Dazu wurde vielerorts der Betrieb einzelner Fachabteilungen eingestellt – darunter allein 13 Geburtshilfestationen, ein Bereich, „der schon seit Jahren dramatisch ausgedünnt worden ist“, wie es seitens der Initiative heißt. So habe sich die Anzahl der Kreißsäle „in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert“, nur noch ein Drittel der Krankenhäuser könne Gebärende versorgen. Offensichtlich rentiert es sich nicht mehr, Kinder zur Welt zu bringen – für ein sogenanntes Gesundheitssystem, das einzig entlang betriebswirtschaftlicher Parameter tickt. Wirft die Babystation keinen Gewinn ab oder macht sie gar Verluste, dann wird abgewickelt, dann hat es sich ausgewickelt. So einfach ist das. Der Bundesgesundheitsminister nahm dieser Tage Empfehlungen für eine Reform der Geburtshilfe durch die Regierungskommission Krankenhäuser in Empfang. Richten sollen es demnach „perinatalmedizinische Kompetenzverbünde“ [https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/155723/Gutachten-sieht-Kompetenzverbuende-fuer-bessere-Geburtshilfe-vor], um so die Betreuung von Schwangeren, insbesondere Risikopatientinnen zu verbessern und Komplikationen bei der Geburt zu reduzieren. Das klingt innovativ, wird aber den massiven Kahlschlag in der Breite der Versorgungslandschaft nicht wettmachen. Wo kein Kreißsaal mehr ist, wird auch kein neuer dadurch entstehen, dass sich einzelne Standorte zusammenschließen. Bestenfalls wird der Schwund gebremst. Kahlschlag politisch gewollt Dabei ist die Lage schon jetzt dramatisch, wie Lauterbach selbst einräumen musste. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland im Schnitt drei von 1.000 Lebendgeborenen gestorben. Damit rangiert die eigentlich so reiche BRD unter dem EU-Mittel hinter einer ganzen Reihe anderer europäischer Staaten. „Das ist bestürzend. Wir haben wenige Kinder, und diese Kinder sollten sicher und gut geboren werden“, bekundete Lauterbach. Und was unternimmt er? Mit seiner „großen Krankenhausreform“ drohen nicht nur Hunderte mehr Kliniken von der Landkarte zu verschwinden, davon freilich auch solche mit Geburtsstation. Die Flurbereinigung ist sogar ausdrücklich gewollt. Erst vor einem Monat hatte Lauterbach der Bild wieder gesagt: „Es ist ganz klar, dass wir in zehn Jahren spätestens ein paar Hundert Krankenhäuser weniger haben werden“ [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krankenhausreform-karl-lauterbach-erwartet-klinik-sterben-in-den-naechsten-zehn-jahren-a-76d34216-38a0-46be-8feb-bd2e2a073391], weil „dafür haben wir nicht den medizinischen Bedarf“. Nach einer durch sein Ministerium selbst in Auftrag gegebenen Analyse könnten in Zukunft nicht weniger als 358 Krankenhäuser zu sogenannten Level-1i-Standorten [https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/143653/Krankenhausreform-Rund-350-Kliniken-koennten-dem] degradiert werden, die „stationäre Leistungen der interdisziplinären Grundversorgung wohnortnah mit ambulanten fachärztlichen Leistungen als auch mit medizinisch-pflegerischen Leistungen“ verbinden sollen. Für Kritiker wären das faktisch keine Krankenhäuser mehr beziehungsweise stünden sie ganz oben auf der Abschussliste. Der Minister findet das alles prima, denn „jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten“ [https://x.com/Karl_Lauterbach/status/1135874165599285249], wie er 2019 freimütig bekannte, als er noch SPD-Abgeordneter war. Investoren überversorgt Tatsächlich sind „jeder“ ein paar wenige einschlägige Gesundheitsökonomen, die als Lobbyisten der großen Klinikkonzerne seit Jahr und Tag das Lied von der „Überversorgung“ singen. Dabei wird hierzulande tatsächlich „überversorgt“, etwa in Gestalt jährlich Zigtausender medizinisch zweifelhafter, aber lukrativer Hüft-, Kniegelenks- und Wirbelsäulenoperation. „Da sind wir tatsächlich mehrfache Weltmeister“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=89282], befand der ehemalige Chefarzt Thomas Strohschneider im Interview mit den NachDenkSeiten zu seinem Buch „Krankenhaus im Ausverkauf“. Echte Unterversorgung zeigt sich dagegen dann, wenn es gefährlich wird, wenn Ärzte und Kliniken nicht mehr wohnortnah zu erreichen sind, am Mangel an Betten, Ärzten, Pflegerinnen, Medikamenten – alles Kennzeichen des deutschen Gesundheitswesens. Es geht um die Grundsatzfrage: Sollen Krankenhäuser Profitmaximierungsanstalten sein? Dann stimmt die Rechnung der Neoliberalen, dass ein breit aufgestelltes System zu „teuer“ und „ineffektiv“ ist, weil es die Umverteilung zugunsten der Big Player hemmt. Oder sollen Krankenhäuser den Menschen dienen und flächendeckend Kapazitäten vorhalten, die viel Geld kosten können und müssen, aber keine Investoren reich machen? Lauterbach hatte seine Wahl spätestens 2003 mit den in seiner Mitverantwortung eingeführten Fallpauschalen (Diagnosis Related Group – DRG) getroffen, womit die Kommerzialisierung und Privatisierung der Krankenhäuser maßgeblich vorangetrieben wurde. Die DRGs bescheren vor allem großen und spezialisierten Häusern Gewinne, während sie den kleinen die Substanz rauben. Die Konsequenz: 40 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser gehören inzwischen privaten Trägern, 31,5 Prozent gemeinnützigen und nur noch 28,5 Prozent der öffentlichen Hand. 1991 verwaltete der Staat noch fast die Hälfte aller Kliniken. Kalte Flurbereinigung Die nun geplante sachte Abkehr vom DRG-System, ergänzt durch flankierende Vorhaltepauschalen, ist kaum mehr als eine Beruhigungspille, die von der mit noch mehr Wucht forcierten Zentralisierung zum Vorteil der Platzhirsche ablenken soll. Kernstück der Pläne ist eine stärkere medizinische Spezialisierung. Vor allem kleinere Häuser sollen in Zukunft weniger Leistungen anbieten und größere Eingriffe den Großen überlassen. Das wird die Pleitewelle, insbesondere in ländlichen Regionen, noch befeuern. Wirklich glaubhaft wirken deshalb auch die Einlassungen des Ministers nicht, mit seiner Reform der Dynamik Einhalt gebieten zu wollen. Ihn stört angeblich, dass der Aderlass so ungeordnet vonstatten geht, während er lieber nach Plan plattmachen will. Seinen „Kummer“ muss man ihm trotzdem nicht abnehmen. Was sollte er dagegen haben, dass sich die Arbeit einstweilen wie von selbst erledigt? Nach den am Mittwoch vorgelegten Zahlen wurden in den zurückliegenden fünf Jahren bundesweit über 90 Kliniken dichtgemacht. 2023 bildete den vorläufigen Höhepunkt mit 25 Abwicklungen. 2024 waren es bisher zwei weniger. Leidtragende sind neben der örtlichen Bevölkerung insgesamt 5.000 Beschäftigte, wobei der Großteil der Arbeitsplätze in der Regel wegfällt und nur in „manchen Fällen“ eine Alternative vor Ort Abhilfe schafft. Eigentlich verspricht Lauterbach für alle geschlossenen Häuser Ersatzlösungen, sogar mit qualitativen Verbesserungen in der Breite. Das „Bündnis Klinikrettung“ hatte dies zu Jahresanfang durch Recherchen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=114200] widerlegt. „Bei 77 Prozent der untersuchten Schließungen gingen die Betten vollständig verloren, nur in fünf Prozent der Fälle wurden alle Betten erhalten – aber nicht vor Ort.“ In einem Drittel der Fälle sei die Versorgung „komplett“ weggefallen. Nach diesem Muster geht es weiter. Auf kurze Sicht stünden allein 90 weitere Standorte „akut“ auf der Kippe, warnten die Aktivisten. Reform auf der Kippe Auch die Bürger haben ihre Wahl getroffen. In einer durch die Aktivisten beim Civey-Institut in Auftrag gegebenen Umfrage plädieren über 85 Prozent der Teilnehmer für eine gemeinnützige Ausrichtung [https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2024/11/Pressekonferenz_KHVVG_20.10.24_Pressemappe.pdf] von Krankenhäusern. Nur knapp sechs Prozent befürworten die Gewinnorientierung. Zugleich rechnen mehr als 62 Prozent mit weiteren Verschlechterungen bei der medizinischen Versorgung infolge der Lauterbach-Reform. Lediglich 13,6 Prozent erwarten eine Verbesserung. Der Gesundheitsminister wird die Ergebnisse tunlichst übersehen. Zumal er fürchten muss, dass seinem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), dem Kern seiner Klinikreform, kurz vorm Zieleinlauf die Luft ausgeht. Nach dem Bruch der Ampel fehlen plötzlich die nötigen Mehrheiten in Bund und Ländern, und die Union droht offen damit, die Vorlage scheitern zu lassen. Am heutigen Freitag befasst sich der Bundesrat mit dem Regelwerk. Mehrere Länder haben Widerstand angekündigt und wollen den Vermittlungsausschuss anrufen, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und wohl auch Bayern [https://www.br.de/nachrichten/bayern/laesst-bayern-die-krankenhausreform-im-bundesrat-scheitern,UUggJ8J]. Für Spannung ist gesorgt. Gesundheit für alle Müsste das Gesetz noch einmal zur Inspektion, will CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nicht mehr mitmachen. „Die Vorstellung, dass man sich auf Basis eines verkorksten Lauterbach-Gesetzes auf Reparaturmaßnahmen einigen könnte, die das Gesetz zustimmungsfähig machen, halte ich für nicht realistisch“ [https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/155776/Union-will-Krankenhausreform-scheitern-lassen], äußerte er sich zu Wochenbeginn. Bei den Klinikrettern wächst deshalb die Zuversicht. „Stoppen Sie Lauterbachs Blindflug, schicken Sie das KHVVG zur Nachbesserung in den Vermittlungsausschuss“, heißt es in einem Appell mehrerer gesundheitspolitischer Verbände an die Landesregierungen. „Das KHVVG in der derzeitigen Form darf nicht in Kraft treten!“, betonte Arndt Dohmen, Sprecher vom Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“, bei besagtem Pressetermin am Mittwoch. > „Was wir brauchen, ist eine Strukturreform, die für die Zukunft ermöglicht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: eine für alle Menschen gut erreichbare, durch Kooperation aller Akteure qualitativ hochwertige und nicht ökonomischem Zwang unterworfene stationäre Behandlung für alle Menschen, egal wo sie wohnen und wie sie versichert sind.“ Das klingt fast wie Weihnachten. Müsste Karlotta nicht gerade im Straßengraben gebären, würde sie das bestimmt unterschreiben … Titelbild: Katharina Greve[http://vg07.met.vgwort.de/na/712843b65d044736934278a26d77cf2c]
Trotz des hoch entwickelten Talents der Spurenbeseitigung bei Korruptionsskandalen im Land kommen immer wieder Skandale ans Licht, und das gegenwärtig „am laufenden Band“. Ein bekanntes Beispiel der Spurenbeseitigung war die „Kasse B“ der Rechtspartei PP. Aus der bezog nach Enthüllungen von Luis Bárcenas, lange Zeit Schatzmeister dieser Partei, die gesamte Führungsriege der Rechtspartei, der Regierungschef Mariano Rajoy eingeschlossen, jahrelang ein zweites Gehalt – aus Korruptionsgeldern. Von Eckart Leiser. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Damals tauchte ein Zettel in den Medien auf mit einer von Bárcenas erstellten handschriftlichen Liste der Empfänger, einer davon mit der Abkürzung „M. Rajoy“. Wer das wohl war? Aus derselben Kasse von Bestechungsgeldern wurde seinerzeit der Millionen teure Umbau der Madrider Parteizentrale finanziert. Als Bárcenas dann während der Ermittlungen gegen ihn Datenträger mit weiteren Beweisen vorlegen wollte, war es zu spät: Sein Büro in der Zentrale der Volkspartei war „gesäubert“ worden: alle Datenträger vernichtet. Und eine in seinem Privatbereich aufbewahrte Kopie hatten Einbrecher entwendet. Geradezu filmreif. Am Ende wurde Bárcenas zu zwei Jahren Haft verurteilt – wegen illegaler Finanzierung des Umbaus der Parteizentrale. Er blieb der Einzige in diesem Skandal, der ein Gefängnis betrat. Nach einigen ruhigeren Jahren kommen die Korruptionsskandale zurzeit aber zurück, und zwar „Schlag auf Schlag“. Dieser Tage wurde Eduardo Zaplana, Ex-Regierungschef der autonomen Region Valencia und später Minister sowie Regierungssprecher in Madrid unter José María Aznar, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte über 20 Millionen Euro Bestechungsgelder angesammelt, die dann in Steueroasen wie Andorra und Panama geparkt wurden. Wegen seines Gesundheitszustands wird ihm wohl die Haft erspart bleiben. Aber auch aktive Politiker sind dabei: Jüngst kam heraus, dass José Luis Ábalos, Minister für Entwicklung und später für Verkehr unter dem sozialistischen Regierungschef Pedro Sánchez, sich von einem Unternehmer aushalten ließ, dem er an den vorgeschriebenen Wegen vorbei – so der Verdacht – Aufträge zugeschanzt hatte. In diesem Fall hatte Pedro Sánchez seinen Minister anlässlich sich mehrender Ungereimtheiten schon vor drei Jahren entlassen. Ähnliche Skandale gibt es in der Rechtsregierung der autonomen Region Galicien. Diese hat dem Bruder der „rechten Hand“ des Regierungschefs Alfonso Rueda ohne Ausschreibung 272 kleinere Aufträge zugeschanzt. Ein ähnlicher Fall – bisher nur ein Verdachtsfall – findet sich in Andalusien. Das dortige Gesundheitssystem vermeidet Ausschreibungen, etwa beim Einkauf von Medikamenten, indem es die Einkäufe auf Beträge von weniger als 30.000 Euro stückelt – eine Größenordnung, bei der Ausschreibungen nicht vorgeschrieben sind: Ein Auftrag über 300.000 Euro wird so in zehn Aufträge von 30.000 Euro zerlegt, und das immer an die gleichen Pharmakonzerne wie Pfizer, Roche, Sanofi usw. Der Effekt: Bei diesen Größenordnungen ist das in Spanien übliche Aushandeln von Rabatten nicht möglich – eine für die Pharmakonzerne also vorteilhafte Praxis. Wie weit die Einkäufer an diesem Vorteil beteiligt werden, ist bisher unbekannt. Die Rechtsprechung spricht hier von Gesetzesbeugung. Schließlich die Autonome Region Madrid: Hier hat Alberto González Amador, Lebenspartner der Regierungschefin Isabel Ayuso, die sich gern als spanische Version von Marine Le Pen gebärdet, Pech gehabt: Die Steuerfahndung fand heraus, dass er für seine Geschäfte mit überteuertem medizinischen Pandemie-Material mehr als 350.000 Euro an Steuern hinterzogen hat. Nebenbei gesagt lebt er mit Isabel Ayuso in einem Luxus-Chalet in Madrid, von dem man nicht weiß, wem es gehört. Und der „Führer“ der faschistischen Partei Vox, Santiago Abascal, bedient sich anscheinend persönlich aus einer von ihm gegründeten Stiftung, die aus Parteigeldern finanziert wird. Es gibt aber auch Parteien ohne Korruptionsskandale, etwa Podemos oder die katalanische „Republikanische Linke“. Dies sind allerdings die Parteien, die permanent von „Lawfare“-Richtern wie Manuel García Castellón verfolgt werden, etwa auf der Suche nach ihrer Finanzierung aus Venezuela, Iran oder Russland. Man könnte meinen, alle Parteien seien jetzt damit beschäftigt, ihre „Korruptionswunden“ zu lecken. Weit gefehlt: Der Chef der Rechtspartei, Alberto Núnez Feijóo, fordert wegen des „Falls Ábalos“ den Rücktritt der Regierung. Pedro Sánchez wiederum hält das für blanken Zynismus seitens einer Partei, „die von „A“ (Ayuso) bis „Z“ (Zaplana) für jeden Buchstaben des Alphabets einen Korruptionsskandal hat“. Übrigens darf bei alledem nicht vergessen werden, dass der abgetretene spanische König Juan Carlos I, eine Art Verkörperung der Korruption, das Vorbild für all diese Skandale liefert. Er hatte seine Exzesse nicht nur mit einem umfangreichen Geldwäscheapparat finanziert, sondern – wie unlängst bekannt wurde – sich die an seine langjährige Geliebte Bárbara Rey gezahlten Schweigegelder aus der Staatskasse bezahlen lassen. So what? Titelbild: oxinoxi/shutterstock.com
Das Urteil sorgte deutschlandweit für Empörung: Im Oktober sprach ein US-Militärgericht, trotz abgelegten Geständnisses, einen US-Soldaten frei, der im rheinland-pfälzischen Wittlich einen deutschen Staatsbürger mit mehreren Messerstichen getötet hatte. Jetzt nahm das Ganze nach einer Anfrage des Landtagsabgeordneten Andreas Hartenfels (BSW) eine interessante Wendung. In Reaktion erklärte der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin, „die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens“ auf den Prüfstand stellen zu wollen. Die NachDenkSeiten wollten wissen, ob die Bundesregierung die Einschätzung aus Mainz teilt und plant, diese dabei zu unterstützen. Zudem kam die Frage auf, wieso das Zusatzabkommen, welches das Post- und Fernmeldegeheimnis aufhebt und bis heute den USA den Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung erlaubt – und damit verfassungswidrig ist – nicht aufgekündigt wird. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Im August 2023 war der deutsche Staatsbürger Micha O. auf einer Kirmes im rheinland-pfälzischen Wittlich mit einer Gruppe von betrunkenen US-Soldaten in Streit geraten. Im weiteren Verlauf wurde Micha O. mit mehreren Messerstichen getötet. Der beschuldigte US-Soldat legte bereits am nächsten Tag gegenüber deutschen und US-Ermittlern ein Geständnis [https://www.sol.de/news-trier/blaulicht-trier/sohn-auf-wittlicher-kirmes-erstochen-wie-die-familie-von-micha-%E2%9C%9D28-leidet,545431.html] ab und beschrieb dabei detailliert die Tatwaffe und nannte auch den genauen Ort, wo er die Tatwaffe in den Fluss Lieser in Wittlich geworfen hatte. Doch trotz dieses Geständnisses sprach ihn eine Jury des US-Militärgerichts auf der US-Luftwaffenbasis Spangdahlem frei. Eine Urteilsbegründung erfolgte nicht. Auch eine Nebenklage der Eltern des getöteten deutschen Staatsbürgers war in diesem Rahmen ebenso wenig möglich wie eine Berufung. Peter Fritzen, der Leitende Oberstaatsanwalt in Trier, erklärte diesbezüglich gegenüber Medienvertretern: > „Hier ist nicht bekannt, auf welche Tatsachen das US-Militärgericht seine Entscheidung gestützt hat und warum es die Auffassung vertreten hat, die Aussage sei nicht freiwillig gewesen.“ Der Fall wurde gemäß dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, ein Abkommen, das nur für Deutschland und kein anderes NATO-Land gilt, wenige Tage nach der Tat an die US-Behörden übergeben. Familie des Opfers: „Wir werden nicht aufgeben“ Die Familie des Opfers will sich damit nicht abfinden. Im Gespräch mit den NachDenkSeiten erklärte der Vater von Micha O., dass sie bereit seien, „bis zum Schluss zu gehen“. Sie hätten bereits zahlreiche Politiker angeschrieben und den Petitionsausschuss des Bundestages um eine Prüfung des Falls gebeten. Auch ein Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werde derzeit von ihnen geprüft sowie mögliche rechtliche Schritte in den USA. Für den 24. November hat die Familie und ein Unterstützerkreis zu einer weiteren Demonstration an der Air Base Spangdahlem unter dem Motto „Justice for Micha“ (Gerechtigkeit für Micha) aufgerufen. An einer ersten Protestkundgebung am 18. Oktober hatten rund 700 Personen teilgenommen. BSW-Abgeordneter fragt nach und Justizminister reagiert Vor diesem Hintergrund stellte der Landtagsabgeordnete Andreas Hartenfels (seit Januar 2024 BSW-Mitglied) eine Kleine Anfrage an das zuständige Justizministerium in Mainz. In dieser fragte er unter anderem nach, warum die Staatsanwaltschaft Trier den Fall an die US-Militärjustiz abgegeben hatte, ob die Landesregierung an der Entscheidung beteiligt war und wie diese den Freispruch des US-Soldaten trotz vorliegendem Geständnis bewertet: [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen1.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen1.jpg Auf die Frage nach der Bewertung des Urteils kündigte der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin in seiner Antwort [https://dokumente.landtag.rlp.de/landtag/drucksachen/10865-18.pdf] vom 11. November an, „die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens“ auf den Prüfstand zu stellen: > „Die Landesregierung wird die Strafverfolgung im konkreten Verfahren allerdings zum Anlass nehmen, etwaigen Handlungsbedarf im Hinblick auf die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens zu prüfen.“ [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen2.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen2.jpg [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen3.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen3.jpg Ist das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut verfassungswidrig? Das Zusatzabkommen [https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Fges%2Fnato_tszuabk%2Fcont%2Fnato_tszuabk.htm&anchor=Y-100-G-NATO_TSZUABK] zum NATO-Truppenstatut und die damit verbundene „geheime Note“ trat 1963 in Kraft und hebt unter anderem das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses in Deutschland auf und erlaubt den USA einen Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung. Der zweite Teil des Satzes ist bewusst im Präsens gehalten. Denn der Freiburger Historiker Josef Foschepoth fand zu Beginn der 2000er-Jahre bei einer Archivrecherche im Auswärtigen Amt geheime Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und den Westalliierten. Seine Erkenntnisse fasste der Historiker in seinem 2012 erschienenen Buch “Überwachtes Deutschland” zusammen und weist darin nach, dass die von den Westalliierten mit den damaligen Bonner Regierungen getroffenen geheimen Vereinbarungen, die insbesondere den US-Geheimdiensten freie Hand in der Bundesrepublik einräumten, zum großen Teil bis heute gültig sind. Im Zuge der vom Whistleblower Edward Snowden enthüllten Überwachungspraktiken der Vereinigten Staaten und auch Großbritanniens in Deutschland erhielten Foschepoths Forschungsergebnisse neue Relevanz und Aufmerksamkeit. Dies führte zu aus heutiger Perspektive erstaunlich kritischen Artikeln und Interviews zum Thema eingeschränkte deutsche Souveränität gegenüber den USA in den Leitmedien. Exemplarisch sei auf das Interview in der Süddeutschen Zeitung (SZ) von Juli 2013 unter dem Titel „Die NSA darf in Deutschland alles machen“ [https://www.sueddeutsche.de/politik/historiker-foschepoth-ueber-us-ueberwachung-die-nsa-darf-in-deutschland-alles-machen-1.1717216] sowie den Artikel in der FAZ „Amerika darf Deutsche abhören“ [https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/geheimdienst-affaere-amerika-darf-deutsche-abhoeren-12273496.html] verwiesen. In den diesbezüglichen SZ-Beiträgen zum Thema fallen zum Beispiel Sätze wie: > „In diesem Sonderrecht spiegeln sich nach wie vor Sieger- und Besatzungsrecht wider.“ > „Truppenstatut, Verwaltungsvereinbarung und geheime Note überdauerten auch die Wiedervereinigung, sie gelten bis zum heutigen Tage weiter.“ > „Die Bundesregierung hat inzwischen zugegeben, dass die Verwaltungsvereinbarung von 1968 noch in Kraft ist.“ [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen4.jpg]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-NATO-Truppen-Screen4.jpg Auch dieser Passus würde es heute wohl nicht mehr in dieser Form in die SZ schaffen: > „Letztlich ist es nun Sache der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, den nötigen Druck zu erzeugen, der in der Lage ist, die beschädigte Verfassung, die teils schlimmen gesetzlichen Regelungen und Paragrafen, nicht zuletzt die noch geltenden deutsch-alliierten geheimen Vereinbarungen zu ändern beziehungsweise abzuschaffen. Dazu muss die Politik aber erst einmal bereit sein.“ Zuvor hatte bereits der Medienanwalt Markus Kompa das Thema in dem Onlineportal Telepolis aufgegriffen [https://www.telepolis.de/features/Abhoeren-im-Adenauer-Deutschland-und-in-Neuland-3399486.html] gehabt sowie der ehemalige Nachrichtenredakteur der Tagesschau (und heute vehementer Kritiker derselbigen) Volker Bräutigam in der Zeitschrift Ossietzky [https://www.sopos.org/aufsaetze/527f599ab8116/1.phtml.html]. Vor diesem skizzierten Hintergrund mutet es geradezu bizarr an, dass die Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann auf die Frage, wieso die Bundesregierung bisher dieses Zusatzabkommen noch nicht aufgekündigt hat, antwortet: > „Dafür sehen wir keinen Grund.“ Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 20. November 2024 Frage Warweg Wir hatten ja bereits vor drei Wochen das Thema, dass ein US-Militärgericht im Oktober einen US-Soldaten trotz abgelegten Geständnisses freigesprochen hatte, der einen deutschen Staatsbürger in Wittlich mit mehreren Messerstichen getötet hatte. Jetzt hat am 11. November vor diesem Hintergrund der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin erklärt, die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens zu prüfen. Da würde mich interessieren: Teilt denn die Bundesregierung die Einschätzung aus Mainz, dass es angesichts dieses Skandalurteils des US-Militärgerichts notwendig sei, sowohl das NATO-Truppenstatut als auch das entsprechende Zusatzabkommen auf den Prüfstand zu stellen? Und wenn ja, plant man, den rheinland-pfälzischen Justizminister bei diesem Vorhaben zu unterstützen? Dr. Fuchs (BMJ) Ich kann an dieser Stelle weder ausländische Urteile kommentieren noch haben wir eine Meinung zu diesem Vorgang. Insofern kann ich Ihnen dazu nichts mitteilen. Zusatzfrage Warweg Dann in dem Zusammenhang vielleicht noch eine generelle Verständnisfrage: Jetzt gilt dieses Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, das auch im aktuellen Fall eine zentrale Rolle spielt. Viele Staatsrechtler sehen das als verfassungswidrig, weil es das Grundrecht auf Unverletzlichkeit, das Post- und Fernmeldegeheimnis, aufhebt und bis heute den USA einen Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung erlaubt. Da würde mich grundsätzlich interessieren, wieso die Bundesregierung bisher dieses Zusatzabkommen noch nicht aufgekündigt hat. Vizeregierungssprecher Hoffmann Dafür sehen wir keinen Grund. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 20.11.2024 Mehr zum Thema: Die „Sonderregel“ im NATO-Truppenstatut bei Straftaten von US-Soldaten auf deutschem Boden [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123989] Verteidigungsministerium und NATO verstricken sich in immer mehr Widersprüche zu CTF BALTIC in Rostock [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123602] Eröffnung des neuen Hauptquartiers für die NATO in Rostock: „Vereint stehen wir, vereint kämpfen wir“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123508] Pistorius diffamiert NDS und kann Frage nach Rechtsgrundlage für NATO-Soldaten nicht beantworten [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123444] Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrags? Pistorius eröffnet NATO-Hauptquartier in Rostock [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123122] [https://vg07.met.vgwort.de/na/530c7c51a5cd4413a304ca6d77b1c7ec]
Deutsche Politiker und Journalisten reden aktuell die Gefahr eines Atomkriegs klein, um den verlorenen Ukrainekrieg noch in die Länge zu ziehen. Russische Drohungen mit Atomwaffen sollen hier nicht verteidigt werden – aber die deutsche Diplomatie wäre verpflichtet, diese Gefahren ernst zu nehmen, um Schaden von den Bürgern abzuwenden. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Dienstag die seit Monaten angekündigte Verschärfung der russischen Atomdoktrin in Kraft gesetzt, wie die Tagesschau berichtet [https://www.tagesschau.de/ausland/europa/lawrow-drohung-atomdoktrin-100.html]. Das Dokument zähle Bedrohungsszenarien auf, in denen Russland zu Atomwaffen greifen könnte. Neu sei unter anderem, dass Moskau die Aggression eines nichtnuklearen Staates, der aber von Atommächten unterstützt wird, als gemeinsamen Angriff auf Russland wertet. Das richte sich gegen die Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich, so der Artikel, in dem sich weitere Details zur Sache finden. In dieser brisanten Situation hat sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) laut Medienberichten [https://liveblog.zdf.de/aktuelles-zum-ukraine-konflikt/147448/] „unbeeindruckt“ von Russlands geänderter Atomwaffendoktrin gezeigt. Putin spiele mit der Angst, dies sei seit Beginn des Ukraine-Kriegs immer wieder deutlich geworden, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mehrerer europäischer Außenminister in Warschau. Dann sagte sie, wie so oft in stilistisch und inhaltlich unangemessener Weise: > „Wir lassen uns nicht einschüchtern, egal, was immer wieder Neues herumposaunt wird.“ Es geht aber in dieser Frage um Leben und Tod – und nicht um Haltungsnoten. Es geht also nicht darum, den Eindruck zu erwecken, dass einen solche Drohungen nicht beunruhigen würden – wen solche Drohungen nicht beunruhigen, der ist an verantwortlicher Stelle völlig fehl am Platze. Statt eine unangemessene Unberührtheit von den beunruhigenden russischen Reaktionen zur Schau zu tragen, müsste jetzt (ganz im Gegenteil) vom ideologischen Ross heruntergestiegen und mit (möglicherweise unspektakulärer) Diplomatie der kleinen Schritte auf einen Waffenstillstand hingearbeitet werden. Die Behauptung „Wenn Putin in der Ukraine nicht verliert, dann macht er einfach weiter“ – sie ist nichts weiter als eine nicht belegte Behauptung. Russland wäre sogar – entgegen vieler Darstellungen – noch immer bereit, etwa Energie an Deutschland zu liefern, wenn die deutsche Regierung daran Interesse zeigen würde, wie es etwa in diesem aktuellen Bericht der TASS heißt [https://tass.com/politics/1873149]. Dass dieses Interesse von deutscher Seite nicht gezeigt wird, richtet sich direkt gegen die Interessen der Bürger hierzulande. Atomwaffeneinsatz ist nicht zu rechtfertigen In diesem Text soll keine moralische Verteidigung eines möglichen russischen Einsatzes von Atomwaffen vorgenommen werden. Ein solcher Einsatz ist meiner Meinung nach moralisch nicht zu rechtfertigen, egal wie dramatisch oder blumig die Rechtfertigungen vorher oder hinterher klingen mögen. Darum soll hier nicht die moralische Dimension eines möglichen Einsatzes debattiert werden, sondern allein, wie die deutsche Politik einen Beitrag dazu leisten kann, dass er nicht stattfindet – auch wenn dafür Abstriche bei der eigenen Ideologie und bei manchen eigenen moralischen Vorstellungen gemacht werden müssen. Auch ein Atomschlag „als Verteidigung“ ist meiner Meinung nach nicht zu rechtfertigen: Ich würde als Präsident mein Land eher von feindlichen Mächten besetzen lassen, als die Welt mit Atomraketen in Schutt und Asche zu legen. Ich glaube aber, dass wohl nur wenige Staatschefs dieser Welt so handeln würden. Darum muss man mit der theoretischen Möglichkeit eines (aus Sicht Russlands) „verteidigenden“ Atomschlags umgehen – moralische Feststellungen sind hier irrelevante Worthülsen. Zum Prinzip der Atomdoktrin Noch ein Wort zum Prinzip der Atomdoktrin: Das „Gleichgewicht des Schreckens“ und Drohungen mit atomaren Reaktionen sind einerseits eine schwer zu akzeptierende Realität. Andererseits haben Atomdoktrin aber durchaus einen Sinn – nämlich für potenzielle Gegner die Schwelle für „militärische Abenteuer“ sehr hoch zu legen. Diese hohe Schwelle hat möglicherweise schon zahlreiche Kriege verhindern können. Diese Schwelle kann auch eine politische Krücke für „Zauderer“ wie Kanzler Scholz sein, weil er sich in seiner „Mäßigung“ auf unkontrollierbare Gefahren berufen kann. Dem „Gleichgewicht des Schreckens“ nun den Schrecken auszureden, wie es in diesem Artikel geschildert wird, ist darum verantwortungslos und kann Kriegstreiberei stützen. Die Appelle, die russischen Sicherheitsbedenken und die daraus folgenden russischen Drohungen ernst zu nehmen, haben nichts mit einem „Einknicken“ vor Russland oder mit einer Anhängerschaft von militärischen Lösungen zu tun. Sie folgen stattdessen der Akzeptanz einer unleugbaren und grausamen Realität, die über Deutschland, Europa und die Welt hineinzubrechen droht und deren Abwendung das oberste Ziel der deutschen Diplomatie sein sollte. Die Abwesenheit von einem gesunden Selbsterhaltungstrieb in der deutschen Politik und in der Folge die Weigerung etwa des grün geführten Außenministeriums, im Sinne der Bürger gefährliche Eskalationen zu vermeiden, die zudem das proklamierte Ziel verfehlen („Russland ruinieren“) – sie sind nur noch als irrational und gefährlich zu bezeichnen. Motiviert wird dieses Verhalten mutmaßlich vor allem durch den Willen, wirtschaftliche und militärische US-Interessen zu bedienen. „Putin blufft“ Es gibt zahlreiche weitere verantwortungslose Stimmen aus Medien und Politik, die das Risiko eines Atomkriegs verniedlichen wollen oder Russlands aktuelle Äußerungen damit entkräften wollen, dass sie „nicht neu“ oder nicht ernst zu nehmen seien. Exemplarisch sollen hier Artikel im Spiegel betrachtet werden. In einem aktuellen Beitrag, den Thomas Röper hier besprochen hat [https://anti-spiegel.ru/2024/wenn-der-spiegel-ueber-russlands-geaenderte-nukleardoktrin-berichtet/], bemüht sich das Magazin um Entdramatisierung: > „Dass Russland mit Atomschlägen oder einem Weltkrieg droht, ist nicht neu. Putin hatte im Zuge seines Angriffskrieges gegen das Nachbarland immer wieder mit Nuklearwaffen gedroht und das Arsenal in erhöhte Bereitschaft versetzt. Vor dem Hintergrund der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine diskutierte Russland seit Längerem eine Änderung seiner Atomdoktrin.“ Bereits Ende August hatte der Spiegel unter dem Titel „Wladimir Putin und seine Schauermärchen von den roten Linien“ [https://www.spiegel.de/ausland/russlands-krieg-in-der-ukraine-die-wahrheit-ueber-wladimir-putins-angebliche-rote-linie-a-45561b98-732b-4b60-8cbe-3ca56cf72863] Verniedlichung betrieben. Die Autorin Ann-Dorit Boy, die laut Spiegel [https://www.spiegel.de/impressum/autor-edc56915-0001-0003-0000-000000012320] auch „Public Information Officer bei UN OCHA in Kiew“ war, schreibt: > „Die Erkenntnis, dass Putins Drohungen leer sind, ist nicht neu. Der Kreml hat in seinem Krieg gegen die Ukraine [https://www.spiegel.de/thema/ukraine/] schon viele angeblich rote Linien gezogen. Militärhilfe von Drittstaaten sollte tabu sein, später Angriffe auf die Brücke zur Halbinsel Krim, die Lieferung von weitreichenden Raketen und Marschflugkörpern und F-16-Kampfjets. Alle diese Linien sind überschritten worden. Passiert ist nichts.“ So geht das dann weiter: „Putin blufft“, man frage sich, wo Putins echte rote Linie eigentlich verlaufe, es sei höchste Zeit, dass der Westen aufhöre, „den Ukrainern aus Angst die Hände hinter dem Rücken zusammenzubinden“, statt Putins vermeintliche rote Linien zu respektieren, müsse man ihn „in die Schranken weisen“. Diese Propaganda kann gar nicht verlieren So klingt gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Mit solchen Positionen kann man auch kaum verlieren: Wenn Russland weiterhin auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet, haben diese Stimmen „recht gehabt“. Und wenn russische Atombomben in Deutschland einschlagen sollten, wird keiner mehr fragen, wer es (vorsätzlich) versäumt hat, diese katastrophale Zuspitzung zu verhindern. Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock[https://vg05.met.vgwort.de/na/eb643083392642f6a28f543ff5f4eb19]
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