
Die Marquise von O...
Podcast von Gerold Paul
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Der Eindruck entsteht, dass die Familie von G. den vermeintlichen Retter schon vergessen hat, der Erfüllung ihrer Dankespflichten zumindest nur zögerlich und oberflächlich nachkommt. Dieser Verdacht wird am Ende der vorliegenden Passage bestätigt, wenn es heißt, dass die Marquise den russischen Offizier nach der Tat nicht persönlich aufgesucht habe und ihn nach Monaten „vergessen konnte“ (Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. Hamburger Lesehefte Verlag: Husum 2018, S. 7). Der oberflächlichen Erinnerung an die vermeintlich verhinderte Vergewaltigung der Tochter stehen die durch ein Postamt überlieferten vermeintlich letzten Worte des Grafen diametral entgegen, drücken sie doch dessen tiefes Bedürfnis aus, etwas Ungenanntes im eigenen, durch eine feindliche Kugel auf dem Schlachtfeld herbeigeführten Tod wiedergutzumachen.

Mit dem Gespräch zwischen dem Kommandanten der eroberten Zitadelle und dem General der feindlichen Truppen erreicht die Frage nach der Darstellung des Krieges eine neue Stufe. Die Kriegshandlungen sind unterbrochen, man steht einander Rede und Antwort, wohlgemerkt unter den Offizieren. Zivile Formen halten Einzug, bürgerliche Rechte und Anstand – aber wenn die Offiziere wirklich so tugendhaft wären, wie der Text an dieser Stelle vorgibt, warum streut der Erzähler derlei Ehrenbezeigungen mitten in die Darstellung von Gewaltverbrechen und Kriegsakten ein?

Kennt der russische Offizier, durch die Vergewaltigung seiner Ehre verlustig gegangen, keine anderen Motive als die, diese Ehre wiederherzustellen, und kämpft nur aus diesen Gründen wie um sein Leben darum – „die Naturen der Asiaten mit Schaudern erfüllend“ (Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. Hamburger Lesehefte Verlag: Husum 2018, S. 5), die Zitadelle wieder instand zu setzen? In dieser Folge geht es um die kritisch-subversive Darstellung des militärischen Heldenklischees.

Einige Schwierigkeiten bereitet die Frage nach dem Thema dieser Passage, die den berühmten Gedankenstrich enthält. Indem der russische Offizier erscheint, um die Marquise vor der Vergewaltigung zu retten, erscheint er ihr wie ein „Engel des Himmels“, als ein „Ehrenmann“. Auch der Leser soll den Eindruck bekommen, dass es um meine Frage der Ehre geht – bis die Figur in ihr Gegenteil umschlägt.

Interpretation der Anfangs der Novelle von Heinrich von Kleist | Wiederholung des Unterrichtsstoffes in abgekürzter Form | NRW-Abitur 2020/21 | Textgrundlage: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O.... Hamburger Lesehefte Verlag: [1808] 2018