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Jetzt beginnt die Hochkonjunktur für den Missbrauch von Umfragen zur Meinungsmache

Dass Umfragen genutzt werden, um Meinung zu machen – das könnte man sich gerade noch vorstellen. Dass Umfragen darauf angelegt werden, dass Umfrage-Ergebnisse zurechtgebogen werden, um Meinung zu machen, das ist schon ein bisschen schwerer zu begreifen. Und schon gar nicht zu rechtfertigen. Das geschieht aber zurzeit mit dem klar erkennbaren Ziel, die Anhänger des BSW zu entmutigen. Umfragen des Umfrageinstituts Forsa zum Beispiel lassen das BSW unter 5 Prozent sinken. Schauen Sie sich mal diese Übersicht über verschiedene Umfragen der letzten Zeit an. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-Umfragen-Wahlkampfes.png]https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241120-Umfragen-Wahlkampfes.png Hier ist der Link zur Quelle dieser Tabelle [https://www.wahlrecht.de/umfragen/]. Zwischenbemerkung: Im Folgenden geht es um Vorgänge in Westdeutschland, also in der alten Bundesrepublik. Jene, die in der alten Bundesrepuplik Wahlkämpfe planten und die Planungen umsetzten, hatten immer schon die Möglichkeit genutzt, Meinungsbefragungen so zurechtzubiegen, dass ein für sie positiver Effekt auf das Wahlverhalten erzielt wurde. Das älteste mir bekannte Beispiel reicht zurück bis zur Bundestagswahl 1965. Bis dahin, also von 1949 bis 1965, gab es immer nur Bundeskanzler von der CDU. Die damalige Konkurrenz, die SPD, hatte sich zwar schon 1949, also zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland West, Hoffnungen gemacht, mitzuregieren. Aber 1949 hatte es nicht geklappt, 1953 nicht, 1957 nicht und auch nicht 1961. Jetzt aber, 1965, so das Ziel und die damalige Stimmung, müsse der Kanzlerwechsel gelingen. Diese Suggestion, anders kann man es wohl kaum ausdrücken, wurde vom damals tonangebenden Meinungsforschungsinstitut, dem Institut Allensbach und seiner Leiterin Elisabeth Noelle-Neumann unterfüttert. – Das Ergebnis sah aber ganz anders aus: die CDU/CSU erreichte 1965 47,6 Prozent der Zweitstimmen, die SPD nur 39,3 Prozent. Und CDU-Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Dufhues ließ mit Rückendeckung von Frau Noelle-Neumann wissen, dass man absichtlich den Eindruck erweckt habe, die Mehrheit der CDU/CSU sei gefährdet, die Kopf-an-Kopf-Propaganda sei eine Wahllist gewesen, um die Bürger an die Urne zu bringen. Über diesen Vorgang habe ich auf den NachDenkSeiten schon einmal berichtet. Siehe hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=76219]; es lohnt sich wegen der jetzt stattfindenden Wiederholung, die damalige Analyse und Beschreibung nachzulesen. Ich will noch von einem weiteren einschlägigen Vorgang berichten: Nach Ende meiner Tätigkeit als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt 1982 war ich unter anderem als Wahlkampfberater tätig. In dieser Funktion war ich beteiligt an der Wahlkampfplanung für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, auch im Jahr 1985. Noch gut erinnere ich mich daran, dass der damalige Landesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter der NRW-SPD, Bodo Hombach, am Ende einer der regelmäßigen Wahlkampfplanungsbesprechungen anmerkte: Er werde sich in Bälde mit dem Leiter des Umfrageinstituts treffen, das für die NRW-SPD arbeite. Wichtiger Gegenstand des Gesprächs sei die Frage, welches Umfrage-Ergebnis die SPD wolle. – Wir mussten nicht lange nachdenken, wir waren uns sofort einig: Das Ergebnis soll signalisieren, dass die Mehrheit der SPD gefährdet ist. Das dann veröffentlichte Umfrageergebnis entsprach unseren Wünschen und die damit verbundene Behauptung, die Mehrheit der SPD sei gefährdet, wirkte. Das Ergebnis: 52,1 Prozent für die NRW-SPD. Schon damals gab es solche und solche Institute. Mit Forsa konnte man rechnen. Siehe dazu auch ein Beitrag [https://www.nachdenkseiten.de/?p=2819] vom Dezember 2007 zum Thema. Was lernen wir daraus für den Umgang mit angeblichen Umfragen zum BSW? Nach den Umfragen der jüngeren Vergangenheit konnte das BSW bei Umfragen zur Bundestagswahl bis zu 10 Prozent, bei Landtagswahlen zweistellige Werte erreichen. Diese Erwartungen wurden durch die tatsächlichen Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Sachsen mit 11,8 Prozent, Thüringen 15,8 Prozent und Brandenburg 13,5 Prozent gestützt. Wäre ich Gegner des Bündnisses Sahra Wagenknecht und für die Strategie zum Umgang mit dem BSW verantwortlich, dann würde ich dem für meine politische Gruppierung arbeitenden Meinungsforschungsinstitut vorschlagen, Ergebnisse von Umfragen zu präsentieren, die das BSW in einer wackligen Position zeigen. Dies zu behaupten, ist angesichts der guten Ergebnisse bei den Landtagswahlen zwar schwierig, aber mit dem Hinweis auf die 6,2 Prozent bei der Europawahl und den Disput in Thüringen kann man ja eine Art Abstiegstrend insinuieren. Die Botschaft an die Wählerinnen und Wähler wäre: Verschenkt eure Stimme nicht an einen unsicheren Kantonisten. Und ich würde diese Behauptung mit neuen Umfrageergebnissen unterfüttern. Die Helfer für diese Strategie würde ich wie aktuell geschehen beispielsweise bei Forsa finden. Dieses Institut hat schon geleistet, wie man an der oben wiedergegebenen Tabelle mit der Forsa-Umfrage vom 19. November sehen kann: Dort sind für das BSW 4 Prozent notiert – weit unterhalb der anderen Notizen zwischen 9 und 6 Prozent. Der Wahlkampf gegen das BSW wird sich jedenfalls des von Forsa publizierten Umfrageergebnisses bedienen. Es wird gestreut werden, wer BSW wähle, verschenke seine Stimme. Wegen der 5-Prozent-Klausel werden 4 Prozent ja nicht mitgezählt. Warum das BSW so eingebrochen sein soll, wie Forsa behauptet, ist schwer zu erklären. Gut, es gab Irritationen wegen Thüringen. Aber dass sich das bundesweit so stark auswirken soll, dass eine Partei, die in drei Bundesländern vor kurzem noch gute zweistellige Werte erreicht hat, jetzt nur noch unter 5 Prozent erzielen soll, ist nicht nachzuvollziehen. Da sind Machenschaften, wie geschildert durchaus nicht neuentdeckte Machenschaften, am Werk. So arbeitet man halt schon über ein halbes Jahrhundert lang mit Umfragen als Mittel der Meinungsmache. Titelbild: stockwerk-fotodesign / Shutterstock

Gestern - 7 min
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Hauptsache Daten! Ein Patient hat gefälligst gläsern zu sein – nicht gesund zu werden

Zum Jahreswechsel bekommt jeder Versicherte eine elektronische Patientenakte aufgedrückt. Nur wer aktiv widerspricht, bleibt verschont und vielleicht unbehelligt. Dem großen Rest verspricht Bundesminister Lauterbach optimale Versorgung und medizinische Innovation, in einem Land, dessen Bevölkerung nicht mehr älter wird und welches das europaweit teuerste Gesundheitssystem beheimatet. Wohin das ganze Geld wohl wandert? Von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Vor fünf Wochen erhielt Karl Lauterbach (SPD) den Big Brother Award in der Kategorie Gesundheit. Den alljährlich durch den Verein Digitalcourage verliehenen „Oskar für Datenkraken“ [https://digitalcourage.de/blog/2024/die-bigbrotherawards-2024] hat er sich mit dem von ihm mitverantworteten Europäischen Gesundheitsdatenraum – European Health Data Space (EHDS) – „verdient“ und dessen nationaler Umsetzung, dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) [https://www.recht.bund.de/bgbl/1/2024/102/VO.html]. Beide Regelwerke erleichtern die Erhebung, den Austausch und die Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für, wie es so schön heißt, „gemeinwohlorientierte Zwecke“ [https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordnungen/guv-20-lp/gesundheitsdatennutzungsgesetz.html]. Der noch amtierende Bundesgesundheitsminister blieb der Preisverleihung in Bielefeld fern und verpasste die „Laudatio“ durch Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise [https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/], früher Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein. Mit den neuen Gesetzen werde ein zentraler Grundsatz der Medizin in Frage gestellt, nämlich die „ärztliche Schweigepflicht“ [https://www.telepolis.de/features/Elektronische-Patientenakte-Big-Brother-Award-fuer-Karl-Lauterbach-9979040.html], befand er, und weiter: „Galt bisher, dass Behandlungsdaten grundsätzlich vertraulich zu behandeln sind, so gilt künftig, dass diese Daten Dritten grundsätzlich zur Verfügung gestellt werden können.“ Weichert zeigte sich desillusioniert. Er sei „lange ein Fan“ von Lauterbach gewesen, doch beim Thema Datenschutz knüpfe dieser „nicht nur voll bei seinem Vorgänger“ Jens Spahn [https://www.nachdenkseiten.de/?p=63919] (CDU) an, „er verschlimmert dessen verfassungswidrige Pläne zur sogenannten Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten sogar“. Ladenhüter Den Verfassungsbruch gibt es demnächst als Kassenleistung. Ein für Deutschland entscheidender Baustein im Rahmen der EU-Digitalisierungsstrategie ist die elektronische Patientenakte (ePA), die im kommenden Jahr „für alle“ eingerichtet werden soll. Was viele nicht wissen: Die ePA existiert bereits seit Januar 2021 auf freiwilliger Basis, also auf aktiven Antrag derer, die das Angebot nutzen wollen. Allerdings ist der Zuspruch statistisch kaum messbar, nach Angaben der Bundesärztekammer hat lediglich „ein Prozent aller“ [https://www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/digitalisierung/digitale-anwendungen/telematikinfrastruktur/epa] rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten zugegriffen. Was ein Datenhüter für die breite Masse werden sollte, ist bisher ein echter Ladenhüter. Warum wohl? Die Macher in Politik, bei Verbänden und in den Reihen der Gesundheitsökonomie behaupten, der bürokratische Aufwand sei einfach zu groß gewesen. Deshalb wird das Prozedere jetzt „vereinfacht“, durch Umstellung auf das mit dem Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen [https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordnungen/guv-20-lp/digig.html] (DigiG) implementierte Opt-out-Modell. Demnach wird für jeden eine ePA eingerichtet, es sei denn, der Betroffene widerspricht dem ausdrücklich. Der Dreh wird die Nutzerzahlen in die Höhe schießen lassen, der verbreitete Hang zur Bequemlichkeit wird es richten. Die Bundesregierung rechnet damit, dass im kommenden Jahr 80 Prozent der Versicherten in das System eingebunden sein werden. Zum Glück zwingen Ob sie davon auch profitieren, steht auf einem anderen Blatt. Die Verantwortlichen jedenfalls tun so, als bringe die ePA nichts als Vorteile und als wäre der Quasi-Automatismus zum Mitmachen das opportune Mittel, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Derzeit werden die Versicherten von ihren Kassen mehr oder weniger umfassend über die anstehenden Änderungen und darüber informiert, wie und zu welchem Grad sie eine Teilnahme ablehnen beziehungsweise begrenzen können. Zur Auswahl stehen mehrere Möglichkeiten [https://www.kbv.de/html/epa.php]: vom Komplettverzicht über bestimmte Zugriffs- und Einstellungsbeschränkungen bis hin zur Absage an eine Verwendung von Daten zu Forschungszwecken. Hierin liegt die eigentliche „Revolution“ der Neuerung. Die in der ePA abgelegten Daten werden der Forschung zur Verfügung gestellt. Akteure, die sie nutzen wollen, stellen einen Antrag an das Forschungsdatenzentrum des Bundes (FDZ), wo sämtliche Informationen gesammelt und gespeichert werden. Dabei soll nicht nur die „unabhängige“ Wissenschaft, etwa in Gestalt der staatlich finanzierten Forschungsinstitute, Zugriff bekommen, sondern prinzipiell auch die kommerzielle Gesundheitswirtschaft, zum Beispiel die großen Pharmakonzerne. Selbstredend soll auch das nur zum Besten der Menschen geschehen, zugunsten der Entwicklung moderner Therapien und Medikamente oder zur Bekämpfung unheilbarer Krankheiten wie Krebs. Technik könnte Leben retten Wollte man all diese Aspekte in der Diktion von Datenschützer Weichert unter „Sekundärnutzung“ fassen – worin bestünde dann der „Primärnutzen“? Die Argumente der Befürworter wirken zunächst überzeugend: Sämtliche Daten, die bisher in einer Praxis, Klinik oder durch sonstige Gesundheitsdienstleister einzeln abgelegt wurden, werden künftig digital gebündelt, um sie bei Bedarf schnell und zielgerichtet abzurufen. Leistungserbringer wie Ärzte, Therapeuten und Apotheker gewinnen einen umfassenden Überblick über die Krankheitsgeschichte ihrer Patienten, um auf dieser Basis die beste Behandlung zu gewährleisten. Beispielsweise können so Mehrfachuntersuchungen vermieden oder in Notfallsituationen falsche Eingriffe verhindert werden. Wenn etwa ein Patient nicht ansprechbar ist, dringend ein Medikament benötigt, aber keine Auskunft über bestehende Arzneimittelallergien geben kann, genügt ein Blick in seine ePA, und der Notarzt bewahrt ihn und sich vor einer mithin fatalen Fehlentscheidung. Im äußersten Fall könnte die Patientenakte also durchaus Leben retten. Solche und andere denkbare Vorzüge sind nicht von der Hand zu weisen. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass das System wirklich reibungslos funktioniert und alle für eine optimale Versorgung erforderlichen Informationen tatsächlich zusammenlaufen und bei Bedarf einsehbar sind. Das allein ist angesichts der technischen Herausforderungen längst nicht ausgemacht (dazu mehr weiter unten). Grenzen seiner Tauglichkeit ergeben sich indes schon aus den (noch) offerierten Entscheidungsfreiheiten der Nutzer, mit welchen Daten sie ihre Akte bestücken und wem sie über welchen Zeitraum Zugang dazu gewähren möchten. Tatsächlich sollen Versicherte die ePA über eine App auf dem Smartphone, Tablet oder PC eigenverantwortlich verwalten können. Zum Beispiel wäre es ihnen überlassen, nur einzelne Dokumente (Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen) oder bestimmte Bereiche wie Orthopädie oder Dermatologie freizugeben, sei es aus Sorge vor Diskriminierungen, zum Beispiel im Fall von Aids-Patienten, oder aus Scham, etwa bei Genitalerkrankungen. Selbstbestimmung ade Diese Eingriffsrechte bergen jedoch Gefahren dahingehend, dass Behandelnde aus der unvollständigen Akte die falschen Schlüsse ziehen und ihnen mitunter über Leben und Tod entscheidende Informationen verborgen bleiben. Damit könnte sich der beschworene Fortschritt durch die ePA ins exakte Gegenteil verkehren – zumal dann, wenn Mediziner künftig der ePA blind vertrauen und von bisher üblichen Verfahren zur Abklärung des Zustands ihrer Patienten (Aktenstudium, Absprache mit Kollegen) absehen. Letztlich könnte die ePA ihre Potenziale unter der Bedingung tatsächlich unabhängiger und einzig auf das Patientenwohl kaprizierter Leistungserbringer nur dann zur Entfaltung bringen, wenn sie uneingeschränkt alle Daten allen Behandelnden offenlegt – und medizinische Laien (und das sind die allermeisten) gefälligst die Finger davon lassen müssten. Das hätte indes einen sehr hohen Preis, weil sich so die informationelle Selbstbestimmung der Versicherten komplett erledigen würde. Dagegen wahren die Verantwortlichen mit ihrem (fürs erste) gewählten Modell immerhin noch den Schein, die Menschen blieben irgendwie doch Herr über ihre persönlichen Daten. Das ist natürlich Augenwischerei. Es ist zunächst anzunehmen, dass die allerwenigsten von den individuellen Wahlmöglichkeiten Gebrauch machen und stattdessen den Komplettzugriff gestatten werden. Die ganzen Modalitäten überhaupt zu begreifen, erfordert allerhand Geduld und Reflexionsvermögen, und beides geht heutzutage vielen Bürgern ab (vergleiche dazu den Leitfaden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [https://www.kbv.de/html/69298.php]). Gerade in Fragen des Datenschutzes herrscht in der Bevölkerung eine verbreitete Indifferenz. „Wen interessiert‘s, mit welchen Wehwehchen ich mich herumärgere – außer meinen Arzt.“ „Gute“ und „schlechte“ Risiken Irrtum! Gesundheitsdaten sind heiß begehrt, insbesondere bei Versicherern und in der Pharmaindustrie. Das Wissen darüber, welches Gesundheitsprofil, welche Dispositionen ein Mensch hat, um später vielleicht schwer zu erkranken oder langfristig gesund zu bleiben, entscheidet schon heute darüber, ob eine Assekuranz einen Kunden will oder nicht. Privatversicherungen wählen wie selbstverständlich zwischen „guten“ und „schlechten“ Risiken, wobei Erstere geringere, Letztere höhere Prämien zahlen müssen. Zumindest in Tendenzen gibt es das heute auch bei den gesetzlichen Krankenkassen, unter denen die Beiträge je nach Versichertenstruktur (mehr Junge, mehr Alte) erheblich variieren können. Zwar sollen die Kassen als Anbieter der Akte selbst keinen Zugriff auf die persönlichen ePA-Daten erhalten. Allerdings liegen ihnen ohnehin umfangreiche Informationen in den Abrechnungsdaten vor. Und nach den Regularien des besagten Gesundheitsdatennutzungsgesetzes sind sie neuerdings berechtigt, „in gesetzlich geregelten Fällen (der risikoadaptierten Krebsfrüherkennung oder im Rahmen einer Überprüfung der Arzneimittelsicherheit) auch auf solche Risiken (für die Gesundheit des Versicherten) hinweisen zu können“. Diese Verarbeitung dürfe nur im Interesse der Betroffenen [https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordnungen/guv-20-lp/gesundheitsdatennutzungsgesetz/faq-gesundheitsdatennutzungsgesetz] erfolgen und diene der Patientensicherheit, heißt es seitens des Lauterbach-Ministeriums. „Verarbeitet eine Krankenkasse Daten entgegen den gesetzlichen Vorschriften, droht dem Vorstand ein Bußgeld.“ Fünf Jahre Blackbox Nur wie wäre das nachzuvollziehen? Der Informatiker und Jurist Martin Weigele hat sich den Gesetzesbeschluss genauer angesehen. Darin sei geregelt, dass erst in fünf Jahren „die Zugriffe und die versuchten Zugriffe auf personenbezogene Daten der versicherten Personen beziehbar protokolliert werden“, sagte er im Oktober gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), und weiter: „Dass man so was machen kann, ist absoluter Standard.“ [https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/elektronische-patientenakte-sicherheit-widerspruch-102.html] Aber eben nicht bei der ePA. „Dass anonym irgendwelche Dinge jetzt abgefragt werden können, die in dieser Patientenakte gespeichert werden, und niemand nachvollziehen kann, wer auf diese Daten zugreifen kann bis zum Jahr 2030. Das finde ich schon einen ziemlichen Hammer.“ Wegen dieser und anderer offener Fragen rät Weigele dazu, der Einrichtung einer ePA grundsätzlich zu widersprechen. Er ist nur einer unter vielen Kritikern. Sorgen bereitet diesen auch der Stand der Umsetzung. Die elektronische Patientenakte soll ab Mitte Januar 2025 in ausgewählten Modellregionen getestet werden, um sie dann im März bundesweit auszurollen. Bisher sei jedoch „keines der beiden ePA-Aktensysteme von IBM und RISE – dort, wo die Gesundheitsdaten der Versicherten liegen – von der gematik zugelassen“, schrieb vor zwölf Tagen das Onlineportal Heise. Eigentlich sollten schon Mitte Oktober die Vertrauenswürdige Ausführungsumgebung (VAU) und die beiden Aktensysteme für Tests zur Verfügung stehen. Kollateralnutzen Auch sonst lauert offenbar ein ganzes Rudel an Unwägbarkeiten. So können zum Beispiel Bilddaten in den Formaten JPG und PNG zunächst nicht in die ePA eingestellt werden. Am 15. Januar werde es – wenn überhaupt – nur „dunkelgrüne Schrumpelbananensoftware“ [https://www.heise.de/news/Entwickler-zu-E-Patientenakte-Ab-Januar-dunkelgruene-Schrumpelbananensoftware-10009231.html] in den Praxen und Apotheken geben, zitierte Heise einen IT-Hersteller. Dabei hatten die Ärzte schon im Frühjahr genug Ärger mit der Umstellung auf das sogenannte E-Rezept. Die ePA biete noch viel mehr Möglichkeiten, Praxisabläufe zu behindern, befand das Portal und verwies auf Befürchtungen, mit der sogenannten Innovation drohe demnächst die „digitale Schriftenrolle“. Aber wenn alles so schlecht läuft und vor allem beim Datenschutz so vieles im Argen liegt, warum zieht die Regierung dann nicht die Reißleine? Antwort: Weil die Profiteure des Projekts so mächtig sind und mit den Hufen scharren. Anders ausgedrückt: Der „Primärnutzen“ liegt bei den Pharmakonzernen und privaten Gesundheitsdienstleistern, wogegen mögliche Vorteile für die Patienten bestenfalls als „Kollateralnutzen“ zu betrachten sind. Die Möglichkeit, demnächst zu „Forschungszwecken“ an gewaltige Datensätze von mithin 70 Millionen Versicherten zu gelangen, öffnet bisher unbekannte Profitquellen. Und um medizinischen Fortschritt geht es dabei allenfalls als nette Begleiterscheinung. „Nebenwirkung Tod“ Wer sich seine Illusionen über das Gesundheitssystem in den kapitalistischen Zentren dieser Welt nehmen lassen will, sollte das Buch „Nebenwirkung Tod“ [https://www.buecher.de/artikel/buch/nebenwirkung-tod/36046795/] des inzwischen verstorbenen John Virapen lesen. Der packte darin 2007 als Ex-Topmanager des US-Konzerns Eli Lilly über die Machenschaften seines früheren Arbeitgebers aus. Geschildert wird ein Räderwerk aus Bestechung und Korruption, mit dem Ärzteschaft, Versicherungen und Wissenschaft zu Geschäftszwecken eingespannt wurden. In Stichpunkten: Hochgefährliche Medikamente fanden auf den Markt, nachdem in klinischen Studien etliche Todesfälle zu beklagen, aber systematisch vertuscht worden waren. Trotz selbstmörderischer und amoklaufender Patienten wurden die fraglichen Präparate unter den zugedrückten Augen der Aufsichtsbehörden jahrelang weiter vertrieben. Vermeintlich innovative Produkte waren reine Zufallsfunde, weil sich in Studien Nebenwirkungen plötzlich als vermarktungsfähig herausstellten (Fettabbau). Schon existente Wirkstoffe wurden minimal – etwa durch Veränderung nur eines Moleküls und ohne jeden Zusatznutzen – aufgepeppt, um ein neues Patent zu ergattern, das jahrelang die Kasse klingeln ließ. Laut Virapen waren dies keine singulären Ausrutscher, sondern das gängige Geschäftsmodell der gesamten Branche. Diese streiche ihre Gewinne nicht damit ein, Menschen gesund zu machen, sondern sie krank zu machen und zu erhalten, lautete sein Fazit. Die NachDenkSeiten hatten jüngst über Vorwürfe gegen Eli Lilly berichtet, das Unternehmen habe sich seine Entscheidung zur Ansiedlung im rheinland-pfälzischen Alzey [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123185] durch ein Gesetz der Ampelregierung vergelten lassen, das ihm das Geldverdienen leichter macht. Das würde ins Bild passen. Nach Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verschlingt das deutsche Gesundheitssystem mit Pro-Kopf-Ausgaben von 5.300 Euro und damit 50 Prozent über dem EU-Schnitt [https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-11/lebenserwartung-oecd-eu-deutschland-gesundheit-ausgaben] europaweit das meiste Geld. Zugleich ist die Lebenserwartung seiner Bevölkerung mit im Mittel 81,2 Jahren erstmals unter das EU-Mittel gerutscht. Daraus lässt sich schließen: Die Ausgaben landen über das übliche Maß hinaus als Profite bei Klinikkonzernen, Pharmaunternehmen und sonstigen Gesundheitsdienstleistern, ohne jeden Mehrwert für die Volksgesundheit – im Gegenteil. Gruß von der Dystopie Trotzdem braucht die Republik angeblich noch mehr Innovation und bekommt sie prompt, dank ePA. Bei der geballten Lobbymacht der Industrie nimmt es auch nicht wunder, wenn die beim FDZ lagernden Datenschätze ziemlich lausig gesichert werden. Die künftig zu Forschungszwecken vergebenen Daten sollen laut Gesetz lediglich pseudonymisiert und nicht anonymisiert werden. Fachleute beklagen, damit ließen sich die Informationen mit bloß geringem Aufwand der zugehörigen Einzelperson zuordnen. Außerdem müssen die Empfänger den Nachweis, wie und wofür sie die Daten verwendet haben, erst nach zwei Jahren nachliefern. Für den Fall eines Datenmissbrauchs droht der Gesetzgeber mit dem Wurf von Wattebällchen: Dann wäre ein Nutzungsverbot von maximal zwei Jahren fällig. Die Risiken seien beträchtlich, warnte Datenschützer Weichert in seiner „Lobrede“ [https://bigbrotherawards.de/2024/bundesgesundheitsminister-karl-lauterbach] auf Lauterbach. Die Daten könnten in die Hände von Adresshändlern gelangen und die Krankenkassen versucht sein, Patienten hinter dem Rücken ihrer Ärzte zu günstigeren Therapien zu überreden. Man könne den Bogen auch „ins Dystopische“ spannen: „Wer kann künftig ausschließen, dass Versicherungsunternehmen oder Arbeitgeber aus solchen Daten ablesen, wer zum Beispiel wegen einer Depression behandelt wurde oder einen spezifischen Gendefekt hat?“ Zudem käme die Infrastruktur für die Datenbereitstellung vom Staat, „die Profite kommen der Industrie zugute“. Die Betroffenen würden „weder informiert, geschweige denn gefragt“. Zum Abschluss grüßte Weichert den Abwesenden mit einem Zwinkern: „Herzlichen Glückwunsch, Gesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach.“ Man möchte hinzufügen: „Und bleiben Sie gesund!“ Titelbild: Nan_Got/shutterstock.com[http://vg07.met.vgwort.de/na/52deaf875e734f20be88cceaf974dab5]

Gestern - 19 min
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Stimmen aus Ungarn: Pershing, Tomahawk, ATACMS – Wo bleiben diesmal die Massenproteste?

Washington hat dem ukrainischen Militär die Erlaubnis erteilt, Langstreckenraketen auf Ziele tief im russischen Staatsgebiet abzuschießen. Die Entscheidung kommt wenig überraschend, nachdem das Pentagon im Sommer die Eskalation auf eine neue Stufe gehoben hat, indem es ankündigte, ab 2026, also nach den 1980er-Jahren, wieder Raketen unter US-Kommando in Deutschland zu stationieren, die tief in Russland einschlagen können. Beide Entscheidungen bedrohen die Sicherheit Europas und bringen die Aussicht auf einen Atomkrieg näher. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, warum es heute in Europa keinen ähnlichen Protest wie gegen die Stationierung der Pershings gibt. Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Joe Biden hat der Ukraine die Erlaubnis erteilt, unter bestimmten Einschränkungen eine US-Langstreckenwaffe, das ATACMS-Raketensystem, auf russischem Territorium einzusetzen. Wie die New York Times berichtet, hat der US-Präsident diesen gefährlichen Schritt angesichts der Präsenz nordkoreanischer Truppen in Russland in der Region Kursk unternommen. Biden soll die Stationierung von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern in dem Gebiet damit gerechtfertigt haben, dass die ukrainischen Streitkräfte sich auf russischem Boden verteidigen können und gleichzeitig eine Botschaft an das nordkoreanische Regime senden, keine weiteren Truppen zu entsenden. Darüber hinaus war die Entscheidung der USA vermutlich auch dadurch motiviert, den Ukrainern bei künftigen russisch-ukrainischen Friedensgesprächen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen. Bisher war die Regierung Biden strikt dagegen, dass die Ukraine russisches Territorium mit ihrem ATACMS-Überschallraketensystem angreift. Die Ukraine bemüht sich seit Monaten um eine Genehmigung für den Einsatz der Raketen, mit dem Argument, dass die Waffe es ihr ermöglichen würde, „Ziele zu beschädigen, die die Kriegsmaschinerie des Kremls schwächen könnten“. Anfang dieses Jahres bat Kiew Washington, der Ukraine ATACMS-Raketensysteme zur Verfügung zu stellen, und im August darum, dass die ukrainischen Streitkräfte diese in Kursk einsetzen können. Wolodymyr Selenskyj kann also behaupten, dass einer der Punkte seines sogenannten Siegesplans erfüllt wurde. Das könnte für eine Weile verhindern, dass die Moral der ukrainischen Armee weiter geschwächt wird, und der Schritt der USA könnte die Briten und Franzosen sowie im Falle eines Wahlsieges der CDU auch die Deutschen zu einer ähnlichen Entscheidung veranlassen. Zwei Monate vor dem Abgang Joe Bidens und dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump, der damit gedroht hat, die Hilfe für die Ukraine zu kürzen, markiert die Entscheidung einen wichtigen Wandel in der Haltung der USA. Der Schritt Bidens wurde gerade wegen Trumps Sieg erwartet. Der scheidende Präsident ist an nichts mehr gebunden, und wenn nicht zu seinen Vorstellungen, so passt sie doch in das Narrativ derer, die hinter ihm stehen. Außerdem kann er möglicherweise eine Situation schaffen, die bei einer überhaupt nicht auszuschließenden Eskalation den Handlungsspielraum des Nachfolgers einengt und es schwieriger macht, den Konflikt einzufrieren und einen Waffenstillstand mit starken Kompromissen für die Ukraine zu vereinbaren. Doch die Entscheidung ist nach Ansicht vieler Experten nicht ohne Präzedenzfall. Wie Anatol Lieven in einem Beitrag darlegt, wurde sie im Wesentlichen dadurch ausgelöst, dass Deutschland zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren zugestimmt hat, dass Washington ab 2026 drei Typen von US-Raketen auf seinem Territorium unter US-Kommando stationieren darf: den Marschflugkörper Tomahawk Block 4 mit einer Reichweite von etwas mehr als 1.000 Meilen (ca. 1.600 Kilometer), die Standard Missile-6 (SM-6) mit einer Reichweite von 370 Kilometern, die vor allem der Luftverteidigung dient, und die noch in der Entwicklung befindliche Long-Range Hypersonic Weapon LRHP (auch „Dark Eagle“ genannt) mit einer Reichweite von mehr als 2.900 Kilometern. Zwei dieser Raketen werden in der Lage sein, tief in Russland einzudringen und Moskau zu treffen. Die Stationierung von Tomahawks und LRHP verstößt gegen den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987, der die Stationierung von bodengestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern verbietet. Die Trump-Administration ist jedoch 2019 aus dem INF-Vertrag ausgetreten, und Russland hat daraufhin seine Einhaltung ausgesetzt. Die Regierung Biden hat keinen Versuch unternommen, über eine Rückkehr zu diesem Vertrag zu verhandeln. Sowohl die Trump- als auch die Obama-Administration haben behauptet, dass Russlands ballistische SRBM-Rakete Iskander (nuklearfähig, aber nicht nuklear bestückt) mit einer angeblichen Reichweite von weniger als 500 Kilometern (innerhalb der Grenzen des INF-Vertrags), die in Kaliningrad stationiert ist (ein isoliertes Gebiet in der Ostsee, angrenzend an Polen und Litauen, 526 Kilometer von Berlin entfernt), in Wirklichkeit eine größere Reichweite hat und somit gegen den Vertrag verstößt. Es ist außerdem nicht ausgeschlossen, dass die Stationierung der Tomahawks von Washington für ein zukünftiges Abkommen mit Russland wie bei den Pershings vorgesehen ist, aber in der Zwischenzeit schaffen sie erhebliche Unsicherheit. Der einzige erklärbare Zweck der Stationierung von Tomahawk-Raketen in Deutschland ist laut Lieven das Angebot, diese im Rahmen eines neuen Abkommens mit Russland zur Reduzierung der Atomwaffen wieder abzugeben. Dies war auch das einzige positive Ergebnis der Stationierung von Pershing-II-Raketen in Westdeutschland in den 1980er-Jahren. Die Entscheidung über die Stationierung der Pershings im Jahr 1979 war nämlich von der Ankündigung begleitet, dass ein Abkommen ausgehandelt werden würde. Die jetzige Entscheidung wurde nicht von einer solchen Erklärung begleitet, und die gesamte Entwicklung der Rüstungskontrollvereinbarungen in den letzten zehn Jahren ging in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einem unkontrollierten Wettrüsten. Die Vereinigten Staaten haben die Vereinbarungen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität aufgekündigt, was die Sicherheit Europas auf erkennbare Weise geschwächt hat. Wenn man dann noch bedenkt, dass vor den Toren Europas Krieg herrscht und Washington unter diesen Umständen zulässt, dass tief liegendes russisches Territorium von US-Langstreckenraketen angegriffen wird, dann gibt es Grund zur Sorge. Die US-Amerikaner brauchen sich natürlich keine Sorgen über eine mögliche Eskalation der Situation zu machen, da russische Mittelstreckenraketen zwar Deutschland, nicht aber die Vereinigten Staaten treffen könnten. In solchen Situationen – oder besser gesagt, um sie zu verhindern – wäre die strategische Autonomie Europas vonnöten. Es scheint jedoch, dass die gegenwärtigen europäischen Eliten höchstens darüber reden. Straßenproteste oder der Rückgang der Popularität könnte die Politiker dazu zwingen, diese Autonomie herbeizuführen. Dieser Beitrag ist zuerst im ungarischen Original auf Moszkvater erschienen [https://moszkvater.com/pershing-tomahawk-atacms/]. Titelbild: Shutterstock / Mike Mareen Mehr zum Thema: Kremlsprecher Peskow im Interview: Dialogmöglichkeiten mit Russland, die Wahl Trumps und der Krieg in der Ukraine [https://www.nachdenkseiten.de/?p=124749] Politische Elite Russlands ohne Illusionen über US-Präsident Trump [https://www.nachdenkseiten.de/?p=124614] Stimmen aus Ungarn: Die EU-Eliten sind im Kriegsfieber – doch wer soll eigentlich Europa verteidigen? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116856] Stimmen aus Ungarn: Was ist das wahre Ziel der NATO? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=113723] [https://vg04.met.vgwort.de/na/9c4b05cdba314579be14d4a74c5ad685]

19. Nov. 2024 - 8 min
episode Web Summit in Lissabon: Wenn „Alternativmedien“ auf „Leitmedien“ treffen … artwork
Web Summit in Lissabon: Wenn „Alternativmedien“ auf „Leitmedien“ treffen …

Letzte Woche fand in Lissabon der Web Summit (WS), eine alljährliche Technologie-Konferenz statt, intern auch als „Davos der Tech-Branche“ benannt, mit über 70.000 Teilnehmern aus 160 Ländern. Am Rande kam es auf Initiative eines der Mitgründer von WS zu einer denkwürdigen Zusammenkunft. Rund 15 hochrangige Vertreter von internationalen Leitmedien aus den USA, England und Deutschland trafen auf Journalisten von „Alternativmedien“, um über das Thema „Desinformation“ und „Faktencheck“ zu diskutieren. Die NachDenkSeiten waren als einziges deutsches „Alternativ“-Medium eingeladen. Die Diskussion verlief zwischen produktiv und hitzig, angespannt. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Einleitende Anmerkung zum Verständnis über die Art der folgenden Berichterstattung: Die zwei aufeinanderfolgenden Paneldiskussionen zwischen Vertretern von Leit- und Alternativmedien im Rahmen des Web Summit in Lissabon, über die im weiteren Verlauf dieses Artikels berichtet wird, fanden unter der sogenannten „Chatham House Rule“ (Chatham-Haus-Regel) statt, die die Weitergabe von Inhalten vertraulicher Gespräche an Dritte regelt. Diese Regel lautet: „Bei Veranstaltungen, die unter die Chatham-House-Regel fallen, ist den Teilnehmern die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Rednern oder anderen Teilnehmern preisgegeben werden dürfen.“ Es kann also nur in der Art, wie etwa auch über Bilderberg-Treffen geschrieben wird, bei dem übrigens auch die Chatham-Haus-Regel gilt, darüber berichtet werden. Am Rande des Web Summits … Im Rahmen des Web Summit in Lissabon, bei dem in diesem Jahr auch die Whistleblowerin Chelsea Manning zu Gast war [https://www.cnbc.com/2024/11/14/wikileaks-whistleblower-chelsea-manning-says-censorship-is-still-a-dominant-threat.html], trafen bekannte Journalisten aus dem Feld der Mainstream-Presse und Vertreter von Alternativmedien in der portugiesischen Hauptstadt zusammen. In zwei aufeinanderfolgenden Diskussionsrunden wurden die derzeit wohl heikelsten Themen der modernen Medienwelt diskutiert. Die vorgegebenen Titel der beiden nichtöffentlichen Zusammenkünfte lauteten: 1. „Misinformation“ a moral panic or a real crisis? („Fehlinformationen“ – moralische Panik oder echte Krise?) 2. Fact-checking and trust in media (Faktencheck und Vertrauen in die Medien) Etwas Kontext … Das Treffen fand vor dem Hintergrund der Kontroversen um den Mitbegründer des Web Summit, den irischen CEO Paddy Cosgrave, statt, der erst kürzlich in seine Funktion als Vorstandsvorsitzender des WS zurückgekehrt war, nachdem er 2023 nach kritischen Äußerungen über Israels Vorgehen in Gaza zurücktreten musste. Zuvor hatten sich aus Protest gegen dessen Äußerungen große Technologiekonzerne wie Intel, Siemens, Google, Amazon und Meta vom WS 2023 zurückgezogen, ebenso hatte Robert Habeck damals seinen geplanten Besuch der Konferenz abgesagt. Cosgraves Rückkehr auf die Bühne und Leitung der Tech-Konferenz wurde von den genannten Tech-Vertretern in diesem Jahr sehr genau unter die Lupe genommen. Der Auslöser für seinen kurzfristig erzwungenen Rücktritt 2023 war übrigens dieser Tweet: > „Ich bin schockiert über die Rhetorik und die Handlungen so vieler westlicher Staats- und Regierungschefs, mit Ausnahme insbesondere der irischen Regierung, die ausnahmsweise einmal das Richtige tut. Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen, auch wenn sie von Verbündeten begangen werden, und sie sollten als das bezeichnet werden, was sie sind.“ > I’m shocked at the rhetoric and actions of so many Western leaders & governments, with the exception in particular of Ireland’s government, who for once are doing the right thing. War crimes are war crimes even when committed by allies, and should be called out for what they are. > > — Paddy Cosgrave (@paddycosgrave) October 13, 2023 [https://twitter.com/paddycosgrave/status/1712790539844612553?ref_src=twsrc%5Etfw] Es war diese am eigenen Leib erlebte Cancel-Erfahrung, die den irischen CEO dazu motivierte, Medienvertreter aus unterschiedlichen Lagern im Rahmen des Web Summit zusammenzubringen. Ein in diesen Zeiten wohl relativ einmaliges Format, welches allerdings auf beiden Seiten durch Journalisten aus den USA und England dominiert wurde, ergänzt um drei deutsche Journalisten. Vertreter aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder auch Süd- und Osteuropa fehlten völlig. Let’s start … Ein hochrangiger Vertreter einer deutschen Rundfunkanstalt erklärte gleich bei seinem Eingangsstatement nach der allgemeinen Vorstellungsrunde, dass man hier ja unter Westlern sei und die eigentlichen Probleme der Pressefreiheit eher in autoritären Staaten wie Russland und China zu suchen seien. Als konkretes Beispiel verwies die Person dann darauf, dass ja etwa der deutsche Auslandssender Deutsche Welle (DW) im Februar 2022 vom Kreml mit einem Sendeverbot belegt worden sei. Darauf folgte die Nachfrage, ob es nicht etwas widersprüchlich sei, die Schließung der DW zu beklagen, aber gleichzeitig nicht zu erwähnen, dass diesem Schritt das Verbot von RT in Deutschland vorausgegangen war und ob dieses Verbot wiederum gutgeheißen würde. Die Erwiderung lautete, man habe die Schließung von RT in Deutschland nicht befürwortet und sich eine andere Lösung erhofft. Diese Haltung hätte man auch so kommuniziert. Daran schloss sich unmittelbar ein weiterer Diskussionspunkt an, eingeleitet durch die Frage, wieso die sogenannten Faktenchecks die Tendenz hätten, „immer nur nach unten zu treten“. Gemeint war damit, dass Faktenchecks sich beinahe ausnahmslos nur gegen viral gegangene X-Tweets von privaten Nutzern oder Veröffentlichungen kleinerer Online-Portale richten, aber so gut wie kein Fall bekannt ist, in dem sich private Faktenchecker oder staatlich finanzierte (im deutschen Fall z.B. Correctiv und DW) mit Veröffentlichungen großer Medienhäuser oder Nachrichtenagenturen auseinandersetzen würden. Als konkretes Beispiel wurde angesprochen, dass etwa ein aktueller Faktencheck der DW („Faktencheck: Verstößt NATO-Präsenz gegen 2+4-Vertrag?“ [https://www.dw.com/de/faktencheck-verstößt-nato-präsenz-in-rostock-gegen-zwei-plus-vier-vertrag/a-70512246]) die Darstellung eines viralen Tweets, dass es sich bei dem neuen maritim-taktischen Hauptquartier in Rostock um ein NATO-Hauptquartier handeln würde, als „falsch“ bezeichnet, aber die identische Betitelung bei Tagesschau, SPIEGEL, dem eigenen polnischen DW-Ableger und fast allen anderen Leitmedien völlig unangetastet ließ. Hier wurde zunächst von den Leitmedien-Vertretern immer wieder betont, man hätte keine Agenda (ein Vorwurf, der zu diesem Zeitpunkt gar nicht erhoben worden war), um im späteren Verlauf aber durchaus einzugestehen, dass das Ausklammern der großen Medienhäuser tatsächlich ein relevanter Kritikpunkt bei der Natur der derzeitigen Faktenchecks sei. Dabei kam in der weiteren Diskussion heraus, dass es bei der Faktencheck-Produktion eine relevante Rolle spielt, ob die entsprechende Faktenprüfung auch gut geklickt wird, und erfahrungsgemäß die Deklarierung als „falsch“ klicktechnisch vielversprechender sei als abwägende Bewertungen wie „teilweise…“, „fehlender Kontext“ oder gar „richtig“. Dies, das wurde durchaus selbstkritisch eingeräumt, könne zu einem gewissen „bias“ bei der Vorauswahl der zu faktcheckenden Themen führen. Ein Teilnehmer mit Sitz in London brachte den Aspekt in die Diskussion ein, dass ausgerechnet bei Faktenchecks oft die jüngsten, unerfahrensten und am schlechtesten bezahlten Journalisten der Redaktionen zum Einsatz kommen. Diese Beobachtung wurde länderübergreifend bestätigt. Vor diesem Hintergrund sei noch erwähnt, dass die Fauxpas des ARD-Faktenfinders Pascal Siggelkow (man denke etwa an seine legendäre Falschübersetzung „Sprengstoff in Pflanzenform“) auch schon bei den anglo-amerikanischen Kollegen die Runde gemacht hatten und für entsprechende Lacher und Kopfschütteln sorgten. Es wird hitzig … Bis zu diesem Punkt war die Diskussion leidenschaftlich, aber durchaus produktiv verlaufen. Dies sollte sich ändern, sobald der Begriff „Zensur“ in die Debatte eingebracht wurde und die Teilnehmer über die Rolle von Plattformen bei der Kontrolle von Berichterstattung debattierten. Uneinigkeit herrschte insbesondere über die Bewertung der Twitter-Files [https://www.nachdenkseiten.de/?p=117818], einer Reihe interner Mitteilungen, die Ende 2022 nach der Übernahme durch Elon Musk veröffentlicht worden waren. Einige Teilnehmer argumentierten, dass die Dateien Beweise für eine systemische Zensur lieferten, die von staatlichen und unternehmerischen Interessen beeinflusst sei. Ein Teilnehmer bezeichnete dies als „Zensur-Industrie-Komplex“. Andere taten die Twitter-Dateien wiederum als „nichts“ („nothing burger“) ab und deuteten an, dass die Enthüllungen übertrieben seien und es an stichhaltigen Beweisen für ein wirkliches Fehlverhalten oder gar Zensur fehle. Die Debatte offenbarte eine tiefe Kluft in der Frage, wie solche Enthüllungen zu interpretieren seien und inwieweit private Unternehmen für die Moderation und Unterdrückung von Inhalten zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die Diskussion wurde interessanterweise besonders hitzig und kontrovers geführt, als es um die Frage ging, ob Journalisten Informationen von Regierungen oder suprastaatlichen Institutionen wie etwa der WHO unhinterfragt übernehmen sollten oder ob auch diese im Interesse der Transparenz hinterfragt werden sollten. Die aufschlussreiche Antwort eines Leitmedien-Vertreters: Er hätte für einen Faktencheck zwei oder drei Stunden Zeit, es sei völlig illusorisch und nicht zielführend, in so einem Rahmen auch noch anzufangen, Berichte oder Statistiken der WHO oder des Gesundheitsministeriums zu hinterfragen, dies seien schließlich „good faith institutions“ (dies kann man am ehesten noch mit „vertrauenswürdige Institutionen“ übersetzen). Danach verließ besagte Person mit hochrotem Kopf die Diskussion. Es kam auch zu einem Disput darüber, wie mit den Äußerungen von Donald Trump umgegangen werden sollte. Ein Teilnehmer fragte, wie die Medien über eine Person berichten sollten, deren Aussagen häufig die traditionellen Standards der Berichterstattung infrage stellen. Während einige dafür plädierten, Trumps Behauptungen rigoros auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, warnten andere davor, dass die Konzentration auf jedes seiner Worte das Risiko berge, Fehlinformationen zu verstärken. Ein freier Journalist verwies im weiteren Verlauf auf das kanadische Notstandsgesetz, das während der Trucker-Proteste in Ottawa im Jahr 2022 zur Sperrung von Bankkonten führte, als Beispiel für die Macht des Staates, Narrative zu beeinflussen oder zu unterdrücken, wobei Medien und Social-Media-Plattformen laut diesem eine unrühmliche und staatstragende Rolle bei der Einhegung der damaligen Truckerproteste gepielt hätten. Auf der anderen Seite argumentierte ein in New York ansässiger Tech-Redakteur, dass solche Kritiken Gefahr liefen, den Grad an Koordinierung in Redaktionen überzubewerten, und wies darauf hin, dass Mainstream-Medien, selbst bei sich überschneidenden Ansichten, aus einer Vielzahl von Motiven heraus agieren und daher nie eine „gemeinsame Agenda“ vertreten könnten. Dem widersprachen andere Teilnehmer mit Verweis auf die sehr einseitige Berichterstattung im Themenkontext der Corona-Krise. Ein weiterer Leitmedien-Vertreter wies den Vorwurf der medialen Einseitigkeit zu Themen um Covid-19 zunächst vehement zurück, nur um dann kurz danach einzuräumen, dass seine Kinder ihn regelmäßig befragt und kritisiert hätten, wieso sein Sender so einseitig berichte und nur gewisse Experten zu Wort kommen ließe. Er habe diesen Vorwurf gegenüber seinen Kindern immer vehement bestritten, müsse aber in der Rückschau „vielleicht“ doch einräumen, dass es vereinzelt zu solchen Tendenzen gekommen sei. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich dieser Ansatz, rund je ein Dutzend Journalisten von alternativen und Mainstream-Medien, und in beiden Fällen auch in einer breiten politischen Streuung (von klassisch links, über linksliberal bis rechtskonservativ) in einem offenen Diskussionsformat zusammenzubringen, ausgezahlt und auf beiden Seiten Vorbehalte und Blasenbildung aufgebrochen hat. Wie wichtig und für die Erneuerung der Medien unabdingbar dieser Versuch des Aufbrechens der Blasen ist, wurde einem gleich im Anschluss an die Diskussion vor Augen geführt. Denn unmittelbar im Anschluss an die geschilderte Diskussion gab es eine öffentliche Veranstaltung auf dem Web Summit, in welcher der NPR-Redakteur Bobby Allyn die zwei New-York-Times-Reporter Kate Conger und Ryan Mac zum Thema „Hat Elon Musk Twitter zerstört?“ [https://websummit.com/sessions/lis24/3bf42cab-d203-4c09-ab50-8ac0b9b79f48/did-elon-musk-destroy-twitter/] befragte. Das war für die Zuhörer ungefähr so erkenntnisreich, als wenn DLF-Moderator Christian Schmitt die Spiegel-Kolumnisten Sascha Lobo und Margarete Stokowski zu deren Haltung zu Donald Trump befragt hätte. [https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/241119-Web-Summit-Screen1.png] Titelbild: Web Summit [https://websummit.com] Mehr zum Thema: Brandrede: „Die Mainstream-Presse liegt im Sterben: Niemand wird Ihnen jemals wieder zuhören!“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=96954] Die Massenmedien als Konsensfabrik für die Gesellschaft [https://www.nachdenkseiten.de/?p=110117] „Gleichgerichtete Leitmedien?“ Ein Vortrag von Florian Warweg beim Linken Forum Paderborn [https://www.nachdenkseiten.de/?p=90340] Vortrag von Florian Warweg bei Attac Dortmund: „Medien: Vierte Gewalt oder Meinungsmacher?“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=101250] „Medienfreiheitsgesetz“ – Ursula von der Leyen sichert sich Oberaufsicht über alle Medien in der EU [https://www.nachdenkseiten.de/?p=108537] Die Twitter Files und der Censorship Industrial Complex: So geht Zensur heute [https://www.nachdenkseiten.de/?p=117818] [https://vg07.met.vgwort.de/na/bba9146d64b94483a44b7dc732d1debf]

19. Nov. 2024 - 13 min
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OMV gegen Gazprom: Wie sich Österreich energiepolitisch selbst schadet

Am 13. November 2024 verurteilte ein Schiedsgericht „unter den Regeln der Internationalen Handelskammer“[1 [https://www.nachdenkseiten.de/?p=124956#foot_1]] – wie es auf der Homepage des österreichischen Energiekonzerns OMV heißt – den russischen Gasriesen Gazprom zu einer Geldstrafe von 230 Millionen Euro plus Zinsen. Noch am selben Tag verkündete der Vorstand der OMV, diese Summe mit aktuell offenen Forderungen verrechnen zu wollen. Für Gazprom kommt dies nicht in Frage, weshalb der russische Konzern am 16. November die Gaslieferung an die OMV einstellte. Von Hannes Hofbauer. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Was von Weitem so aussieht wie ein ganz normaler Gerichtsstreit unter kapitalstarken Konzernen, ist tatsächlich Ausfluss einer langfristig vorbereiteten Provokation des größten österreichischen, teilverstaatlichten Betriebes gegen Russland. Auf diese Weise will Wien einen bis 2040 gültigen Liefer- und Abnahmevertrag für russisches Erdgas nach Österreich und eine 57-jährige Energiepartnerschaft zwischen den beiden Ländern beenden. Die OMV-Klage vor dem Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer war mutwillig geplant und selbstbeschädigend ausgeführt. SMV seit 1945, Sowjetgas seit 1968 Im Jahr 1968 schloss Österreich als erster westlicher Staat einen Erdgasliefervertrag mit der Sowjetunion ab. Als Drehscheibe dafür diente die Lagerstätte Baumgarten an der March. Der direkt an der slowakischen Grenze gelegene Ort eignete sich besonders dafür, weil in der Gegend schon zuvor Erdöl und Erdgas – freilich in weit geringerem Umfang – gefördert wurden. Von Baumgarten baute man 1974 Leitungen nach Italien, 1980 in die Bundesrepublik Deutschland und 1996 nach Ungarn. Die österreichisch-sowjetische Energiepartnerschaft reicht indes noch viel weiter in die Vergangenheit zurück. Nach 1945 übernahm Moskau entsprechend der Potsdamer Verträge, wonach deutsches Eigentum zwecks Reparationen beschlagnahmt werden durfte, kleine Energieförderstellen in Ostösterreich und baute diese zu einem Großbetrieb unter dem Namen Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV) aus. Nach dem Abzug der alliierten Truppen ging der Betrieb in die Hände der verstaatlichten Industrie über und wurde zur Österreichischen Mineralölverwaltung. Aus der SMV wurde die OMV. Diese ist auch heute noch im teilstaatlichen Besitz: 31,5 Prozent an der Aktiengesellschaft werden vom Staat Österreich gehalten, 24,9 Prozent vom Scheichtum Abu Dhabi. Anfang Juni 2018 unterzeichneten Gazprom-Chef Alexej Miller und OMV-Chef Rainer Seele zum 50. Jahrestag der sowjetisch/russisch-österreichischen Energiepartnerschaft eine Verlängerung des seit 1968 bestehenden Gasliefervertrages. Im Beisein von Russlands Präsident Wladimir Putin und Österreichs Kanzler Sebastian Kurz gestaltete sich die schlichte Zeremonie der Unterschriftsleistung als Festakt. Die neue Vereinbarung, die neben der Lieferverpflichtung auch eine Abnahmeverpflichtung enthielt, gilt bis zum Jahr 2040, was beiden Partnern eine langfristige Planungssicherheit garantierte. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Querschüsse aus EU-Kreisen gegen die Vertragsverlängerung, befand man sich doch in Brüssel bereits seit 2014 in einem kleinen Wirtschaftskrieg mit Russland. EU-Mitgliedsstaaten war es verboten, Erdöl- und Erdgasfördertechnologien nach Russland zu exportieren, der Rohstoff selbst war allerdings von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen noch nicht betroffen. Mit dem großen Wirtschaftskrieg gegen Russland, den die USA und die EU nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine vom Zaun gebrochen haben, geriet auch der österreichisch-russische Gasvertrag zunehmend unter Druck. Als Erstes bekam dies OMV-Chef Rainer Seele zu spüren. Der aus Deutschland stammende Manager ist für seinen Pragmatismus bekannt und wehrte sich immer wieder gegen moralisch aufgeladene antirussische Politikerstimmen. Als Präsident der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer stand er für einen fortgesetzten wirtschaftlichen Austausch zwischen Ost und West. Gleichzeitig mit seinem Vertragsende als OMV-Chef sprach ihm die Jahreshauptversammlung des Konzerns im Jahr 2022 mehrheitlich das Misstrauen aus. Die Vertreter des Staates und die Aktionäre aus Abu Dhabi weigerten sich in einem international absolut unüblichen Vorgang, ihren Konzernchef zu entlasten. Damit schlossen sie sich der Empfehlung der „International Shareholder Services“ – einer Stimmrechtsberatergesellschaft (was es nicht alles gibt auf dieser Welt) – an. Der Vorwurf lautete auf Missachtung von Compliance-Regeln, genannt wurde z.B. ein Sponsorenvertrag mit dem russischen Fußballclub Zenit Sankt Petersburg. Doch im Visier standen vor allem die Lieferverträge mit Gazprom. Nach einem Jahr heftigsten Gerangels sprach die nächste OMV-Hauptversammlung dem bereits ausgeschiedenen Rainer Seele im Juni 2023 nachträglich doch noch das Vertrauen aus und entlastete ihn. Österreich bezog zuletzt 85 Prozent seines Gases aus Russland. Koste es, was es wolle: Raus aus russischem Gas Der antirussische Kampf verlagerte sich in der Folge auf die Gerichtssäle – oder genauer: auf diverse internationale Schiedsgerichte. Im Januar 2023 reichte die OMV bei einem Schiedsgericht in Stockholm Klage gegen Gazprom ein, weil der russische Konzern seine Gasliefermengen nach Deutschland gedrosselt und kurzfristig eingestellt hatte. Österreich war zu keinem Zeitpunkt davon betroffen. Der Streitwert belief sich auf 575 Millionen Euro. Im April 2024 konnte Gazprom mittels eines Schiedsgerichts in Sankt Petersburg diese Klage erfolgreich zurückweisen. Die Lieferschwierigkeiten, so der russische Konzern, hätten mit der Sanktionspolitik der Europäischen Union zu tun und können Gazprom nicht angelastet werden. Tatsächlich hatte Brüssel Ende Februar 2022 als Reaktion auf den Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine mit einem Rundumschlag gegen die russische Wirtschaft gleich mehrere Sanktionspakete geschnürt, unter anderem das Einfrieren von 300 Milliarden US-Dollar an russischen Zentralbankgeldern und den Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System. Bereits zuvor hatte die deutsche Bundesregierung die Inbetriebnahme der fertiggestellten Nord-Stream-2-Pipeline mit bürokratischen Manövern verhindert. Russland sah sich wirtschaftlich an die Wand gedrängt und meldete seinerseits – um den Druck auf Deutschland und die EU zu erhöhen – Schwierigkeiten beim Transport von Gas durch Nord Stream 1. Ein – echter oder fingierter? – Turbinenschaden führte dazu, dass nur mehr 60 Prozent des vertraglich vereinbarten Gases in Deutschland ankamen, später waren es nur noch 40 Prozent. Die Reparatur der Siemens-Turbine konnte nur am Standort in Kanada durchgeführt werden, was dazu führte, dass Ottawa nach erfolgter Reparatur die Ausfuhr nach Russland verweigerte – Turbinen standen auf der kanadischen Sanktionsliste. Nachdem der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck eine Sonderausfuhrgenehmigung erstritten hatte, ließen die russischen Zollpapiere auf sich warten. Auf diese Art und Weise ging der Kampf um russische Energie für Deutschland noch bis zum 26. September 2022, als eine Marine-Einheit – mutmaßlich aus den USA – mit der Sprengung von drei der vier Nord-Stream-Röhren der deutsch-russischen Energiepartnerschaft ein Ende setzte. Am 13. November 2024 sprach ein Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer der OMV 230 Millionen Euro plus Zinsen als Schadensersatz für die erlittenen Ausfälle am deutschen Gasmarkt im Jahr 2022 zu. Das ist zum einen bemerkenswert, weil zu diesem Zeitpunkt die Sanktionsmaschine gegen Russland voll angelaufen war und sich dieses Schiedsgericht dessen freilich bewusst war, den „Fall“ jedoch so behandelte, als wäre er in wirtschaftlichen Friedenszeiten erfolgt. Zum anderen betrifft der Lieferausfall in Deutschland den österreichischen Markt in keiner Weise; und auch der langjährige, bis 2040 laufende Liefervertrag ist davon nicht tangiert. Umso unverständlicher ist es, dass die Chefetage der OMV am Tag nach dem Urteilsspruch des Schiedsgerichts verkündete, die 230 Millionen Euro mit zukünftigen Gaslieferungen nach Österreich verrechnen zu wollen. Dieses Vorgehen wird nur dann verständlich, wenn man es bewusst darauf angelegt hat, die österreichisch-russische Energiepartnerschaft auf diese Weise zu torpedieren. Und genau das ist die Rationalität hinter dem provokativen Vorgehen der neuen OMV-Riege und der hinter ihr stehenden Regierung als Eigentümervertreterin. Drei Tage später, am 16. November 2024, stellte Gazprom die Gaslieferung an die OMV ein. Damit hat Letztere ein Argument in der Hand, dass Russland den bis 2040 geltenden Vertrag gebrochen hätte, was wohl der Sinn der ganzen Klageflut gewesen ist. Die OMV setzt in Zukunft – ihrer eigenen Philosophie, möglichst nachhaltig und CO2-arm wirtschaften zu wollen, widersprechend – auf LNG-Gas aus den USA. Dieses soll über italienische Häfen die Alpen hinaufgepumpt werden, um dann wieder östlich von Wien in den Speicher Baumgarten zu fließen. Auch ist die Rede davon, dass sich bereits Zwischenhändler finden, die russisches Gas – als aserbaidschanisches umetikettiert – über die seit 1968 bestehende Pipeline nach Österreich bringen. Derzeit rechnen Kalkulanten für das kommende Jahr mit Preiserhöhungen von 20 Prozent, was von Politik und OMV zur Kenntnis genommen wird. Das muss einem, so ihr Tenor, der Kampf gegen Russland schon wert sein. Titelbild: Photofex_AUT/shutterstock.com Von Hannes Hofbauer ist zuletzt erschienen: Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland (Promedia Verlag) ---------------------------------------- [«1] Die „Internationale Handelskammer“ ist eine nichtstaatliche Organisation mit Sitz in Paris, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde.

19. Nov. 2024 - 11 min
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