
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Podcast von Redaktion NachDenkSeiten
Nimm diesen Podcast mit

Mehr als 1 Million Hörer*innen
Du wirst Podimo lieben und damit bist du nicht allein
Mit 4,7 Sternen im App Store bewertet
Alle Folgen
4230 Folgen
Während die Lage in Gaza sich weiter zuspitzt, die Hungerblockade der Bevölkerung täglich neue Opfer fordert und die israelische Regierung die vollständige Zerstörung von Gaza City und die weitere Vertreibung der kompletten restlichen Bevölkerung des Gazastreifens in Camps im Süden des Landes beschlossen hat, mehren sich auch die Aktivitäten und Initiativen, die versuchen, sich schützend vor die palästinensische Zivilbevölkerung zu stellen. Eine der radikalsten Ideen kommt dabei von dem britischen Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Ousman Noor [https://ousmannoor.com/]. Er hat die Initiative Protect Palestine [https://protect-palestine.com/] gegründet, die für ein internationales militärisches Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung und zur Sicherstellung der Hilfslieferungen wirbt. Das Interview führte Maike Gosch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. In diesem zweiten Teil des Interviews mit den NachDenkSeiten spricht Ousman Noor über die Strategie seiner Initiative, die aktuelle internationale Situation, die mangelnde Unterstützung anderer NGOs und die Rolle, die die Global Sumud Flotilla seiner Meinung nach für einen Kipppunkt der pro-palästinensischen Bewegung und den internationalen Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus spielen wird. Den ersten Teil des Interviews können Sie hier nachlesen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137919]. Maike Gosch: Was sind die strategischen Schritte von Protect Palestine, um eine solche militärische Intervention zum Schutz der Bevölkerung in Gaza auf den Weg zu bringen? Und wo stehen wir in diesem Szenario? Ousman Noor: Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Phase, da die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNGA) in etwa einer Woche mit einer hochrangigen Sitzung beginnt. Und es gab einen Versuch Frankreichs, weltweit Unterstützung für eine Stabilisierungstruppe zu mobilisieren, was nach Präsident Macrons Worten ein Schritt in Richtung einer Zweistaatenlösung ist und die Hamas dazu verpflichten würde, alle ihre Waffen abzugeben. Das zeigt, wie das UN-System von mächtigen Staaten kontrolliert und als Instrument benutzt wird, um Unterstützung für etwas zu mobilisieren, an das niemand wirklich glaubt und das niemand als echte Lösung des Problems ansieht. Aber es wird nun in den nächsten Wochen ein ernst zu nehmender Tagesordnungspunkt sein. Selbst ein Staat wie Frankreich erkennt also zumindest an, dass der Völkermord durch irgendeine Form von militärischer Kraft beendet werden muss. Es wird also langsam Mainstream, zumindest die Diskussion darüber, dass der Einsatz von Truppen notwendig ist, um Israel von seinem Vorgehen abzuhalten. Aber wir glauben überhaupt nicht, dass Frankreich als Vermittler glaubwürdig ist, ebenso wenig wie Saudi-Arabien, wenn es um die Rechte des palästinensischen Volkes geht. > „Das Völkerrecht verpflichtet die Israelis zur Räumung“ Ich möchte daran erinnern, dass es im vergangenen Jahr ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs gab, in dem die Besatzung durch Israel für rechtswidrig erklärt und angeordnet wurde, dass die israelischen Siedlungen und Siedler aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen und Ostjerusalem evakuiert werden müssen. Das war ein Gutachten des Weltgerichtshofs, der höchsten internationalen Instanz für Rechtsfragen. Und sie interpretieren das Völkerrecht. Wenn sie also ein Gutachten abgeben, ist es bindend, da sie bestehende Grundsätze des Völkerrechts auslegen. Sie sagten, das Völkerrecht verpflichte die Israelis zur Räumung. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen folgte dem im September 2024 mit einer Resolution, für die, glaube ich, über 130 Staaten gestimmt haben und die den Israelis eine Frist von zwölf Monaten zur Umsetzung gesetzt hat. Diese Frist läuft in zwei Wochen ab. Wenn wir also im Einklang mit dem Völkerrecht und den internationalen diplomatischen Mechanismen stehen wollen, die in internationalen Foren zur Entscheidung solcher Fragen bestehen, dann müssen die Israelis innerhalb von zwei Wochen evakuieren. Richtig? Ich jedenfalls habe keine Anzeichen dafür gesehen, dass sie dies tun werden. Ganz im Gegenteil, das israelische Parlament hat die Westbank zu Judäa und Samaria erklärt, die ihrer Meinung nach Teil Israels sind. Wie sollen wir also das Völkerrecht umsetzen und durchsetzen, wenn es überhaupt keine Staaten gibt, die bereit sind, tatsächlich Durchsetzungsmacht anzuwenden? > „Die härtesten Gegner dieser Kampagne sind nicht die Israelis, sondern die palästinensischen Aktivisten.“ Die Strategie für die Kampagne lautet also erstens: Wir hatten einen langen, mühsamen Kampf, um die Vorbehalte der Menschen gegenüber der Anwendung von Durchsetzungsmacht zu überwinden, das war wirklich schwer. Die härtesten Gegner dieser Kampagne sind nicht die Israelis, sondern die palästinensischen Aktivisten. Ich habe im letzten Jahr Hunderte von Stunden damit verbracht, zu erklären, dass man Durchsetzungsmacht anwenden muss, und diese reflexartige Vorstellung zu überwinden, dass in diesem Fall die Anwendung von Macht zwangsläufig etwas Schlechtes ist. Meine Gesprächspartner konnten die Vorurteile nicht überwinden, die sich durch ihre jahrelange Beschäftigung mit Politik gebildet haben, dass Gewalt bei Interventionen im Nahen Osten etwas Negatives ist, und das aus sehr guten Gründen. Ich sage, dass in diesem Fall das Gegenteil der Fall ist, denn es wäre Gewalt, um Völkermord zu stoppen. Und es wären nicht dieselben Akteure, die wir gewohnt sind, im Nahen Osten zu sehen, wie Großbritannien und die USA. Wir richten uns mit unserer Kampagne an Staaten, die eine Geschichte der Befreiung vom Imperialismus haben. Die Kampagne, die wir durchgeführt haben, richtete sich in erster Linie an die Haager Gruppe für Palästina (Anm. d. Red.: mehr dazu siehe hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136159]), die aus acht Staaten besteht, die Sie vielleicht kennen, und wir haben verschiedene Briefkampagnen und Social-Media-Kampagnen durchgeführt, die sich an sie richteten. > „Wie Sie wahrscheinlich wissen, sieht die Realität jedoch so aus, dass viele dieser Staaten mitschuldig sind oder zumindest schweigen oder nicht bereit sind, etwas zu unternehmen.“ Wir haben unsere Kampagne auch an die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) [https://www.oic-oci.org/] gerichtet, die, glaube ich, 57 Staaten weltweit mit islamischer Bevölkerung umfasst und vor einigen Jahrzehnten als eine Art multilaterales Forum gegründet wurde, um Fragen von gemeinsamem Interesse für islamische Staaten oder Staaten mit islamischer Bevölkerung zu diskutieren. In ihrer Gründungsurkunde verpflichten sie sich politisch, sich für die Befreiung Palästinas von der Besatzung und die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Palästinas einzusetzen. Dies ist tatsächlich in ihrer Gründungsurkunde verankert, worauf sich alle Mitgliedstaaten geeinigt haben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, sieht die Realität jedoch so aus, dass viele dieser Staaten mitschuldig sind oder zumindest schweigen oder nicht bereit sind, etwas zu unternehmen. Also haben wir eine Kampagne gestartet, in der wir ihnen gesagt haben: „Ihr habt euch doch überhaupt zu diesem Zweck gegründet, und wenn nicht jetzt, wann dann?“ Und wir haben sie gewissermaßen dazu gedrängt, militärischen Maßnahmen zuzustimmen. Wir betreiben also eine Art Basismobilisierung und kanalisieren die öffentliche Empörung in konkrete politische Lobbyarbeit, um Ergebnisse zu erzielen. Es ist sehr schwierig, Finanzmittel für diese Art von Arbeit zu bekommen. Ich bin allein und tue, was ich kann. Jetzt haben wir einen Spendenbutton auf unserer Website, und die Leute spenden, was großartig ist, aber wir bekommen keine staatlichen Mittel, keine philanthropischen Mittel, keine Unternehmensmittel. Und es gibt auch eine allgemeine Vorsicht in der palästinensischen Aktivistengemeinschaft, die denkt, dass sie in Schwierigkeiten gerät, wenn sie unsere Lobbyarbeit finanziert, weil wir militärische Intervention fordern, ohne zu erkennen, dass wir eigentlich nur die Umsetzung des Gesetzes fordern. Aber als mir klar wurde, dass wir es mit einem Staat zu tun haben, einer Instanz, die über dem Gesetz steht, wurde mir bewusst, dass man sie nicht aufhalten kann, es sei denn, man setzt Durchsetzungsmacht ein. Es war ein sehr, sehr harter Weg, aber ich hoffe, dass diese Veranstaltung am Samstag [https://protect-palestine.com/workshop] mit brillanten Rednern, die über Glaubwürdigkeit, Integrität und Einfluss verfügen, diese Diskussion in Gang bringen und dazu führen wird, dass die Menschen nun über Boykott, Desinvestition und Sanktionen hinausgehen. BDS ist notwendig, aber man muss auch proaktiv das Töten stoppen. Ich hoffe, dass diese Veranstaltung dazu beitragen wird. Gibt es andere Organisationen, andere NGOs, die Sie unterstützen, oder einflussreiche Personen oder Gremien bei den Vereinten Nationen? Nein, wir erhalten keinerlei Unterstützung von NGOs. Aber ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass wir seit der Ankündigung dieser Veranstaltung weitere Unterstützer gewonnen haben, darunter heute das International Jewish Anti-Zionist Network [https://ijan.org/] (IJAN). Wenn Sie sich unsere anderen Unterstützer ansehen, bin ich wirklich sehr stolz darauf: Es sind Yogastudios, Biobauernhöfe, Wellnesszentren. Was sagt Ihnen das? Dass die Basis, die Bevölkerung uns unterstützt. Das sind Menschen, die in ihrem normalen Leben andere Dinge tun, aber sagen: „Ich kann nicht mit gutem Gewissen mein Leben weiterleben, wenn ich nicht die militärische Intervention unterstütze, um diesen Völkermord zu stoppen.“ Wir machen also Basisarbeit, wir wachsen wirklich von unten nach oben. Und wir haben bereits dadurch verändert, wie Zivilgesellschaft im NGO-Kontext in letzter Zeit funktioniert hat, nämlich häufig von oben nach unten. Ich habe mich an NGOs gewandt, aber keine davon nahm es ernst. Jetzt haben wir jedoch eine gesunde, wachsende Gemeinschaft von Basisaktivisten und -organisationen, und ich denke, wegen dieser kommenden Veranstaltung werden die Leute sagen: „Das sind nicht nur irgendwelche Leute, das ist der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Palästina, Richard Falk, ein jüdischer Amerikaner, der sich hervorragend mit Palästina auskennt. Es ist schwer, jemanden zu finden, der zumindest über die Geschichte des Völkerrechts in Bezug auf Palästina so gut Bescheid weiß wie er. Wir haben Susan Abelhawa, die bekannte US-amerikanisch/palästinensische Autorin und Aktivistin, und einige andere unglaubliche Redner. Ich denke, das ist der Grund, warum sich Organisationen wie IJAN und andere jetzt anschließen. Das war schon immer meine Philosophie: Bei Kampagnen gibt es zwei Vorgehensweisen. Manche Menschen schätzen ein, was realistisch ist, und sagen: „Okay, das ist die Situation, in der ich mich befinde, ich muss innerhalb dieser Situation arbeiten und dort vorankommen, wo ich kann.“ Für mich hat das nie funktioniert. Der wahre Weg, Menschen zu bewegen, besteht darin, sich eine Situation anzuschauen und zu fragen: „Was ist das Richtige? Kann ich das überprüfen? Ist es wahr? Ist es etwas, an das ich aus Überzeugung glauben kann? Steht es im Einklang mit meinen Prinzipien?“ Und wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann muss man sich für dieses Richtige einsetzen und die Wahrheit sagen. Und genau das habe ich angefangen zu tun, und langsam, ganz langsam, beginnt die Menge, sich in deine Richtung zu bewegen, weil du einen festen Punkt markiert hast. > „Wir müssen es also stoppen. Und das ist mittlerweile keine radikale Aussage mehr.“ Anfangs wollte mir niemand zuhören – ich sage das nicht verbittert –, weil es vielen so radikal erscheint, weil wir so lange einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Erstens, indem wir dachten, dass dies ein Krieg sei. Das ist es nicht, es ist die Auslöschung und Vertreibung eines Volkes. Zweitens, indem wir dachten, dass die UN-Generalversammlung oder die UNO in der Lage wären, dies zu stoppen. Das sind sie nicht. Drittens, indem wir dachten, dass verschiedene Boykotte und Desinvestitionen funktionieren würden. Das tun sie nicht. Wir müssen es also stoppen. Und das ist mittlerweile keine radikale Aussage mehr. Ich glaube, immer mehr Menschen erkennen das. Angesichts der aktuellen Lage in Gaza und der täglichen Nachrichten scheint Ihr Vorhaben der Rettung der Palästinenser in Gaza ein Wettlauf gegen die Zeit zu sein. Außerdem scheinen viele der politischen Schritte, die derzeit von westlichen Staats- und Regierungschefs betrieben werden, absichtlich oder unabsichtlich Verzögerungstaktiken zu sein. Wie sehen Sie den Zeitplan für die nächsten Monate? Es steht ein entscheidender Moment bevor – und das ist nicht die UN-Generalversammlung, sondern die Global Sumud Flotilla [https://globalsumudflotilla.org/] mit Hunderten von Schiffen aus Dutzenden von Staaten, und wir sprechen hier von Zivilisten, die Schiffe und Boote chartern. Der Plan ist, dass im Laufe des Septembers Hunderte von Booten versuchen werden, nach Gaza zu gelangen. Ich denke, das wird ein entscheidender Moment sein für die Möglichkeit, den Völkermord tatsächlich zu stoppen. Denn bei den anderen Schiffen zuvor, von der „Mavi Marmara“ über die „Conscience“ bis zur „Madleen“, handelte es sich jeweils nur um ein Schiff, natürlich mit prominenten Personen an Bord. Aber diesmal werden es Hunderte sein. Das stellt Israel vor ein logistisches Problem: Entweder sie lassen sie durch oder sie müssen wie Piraten die Menschen an Bord entführen und in Haftanstalten bringen, wie sie es mit den anderen gemacht haben. Ich gehe davon aus, dass dies enorme politische und mediale Aufmerksamkeit erregen würde. Denn wir werden Zeugen sein, wie Hunderte von Menschen aus aller Welt versuchen, Menschen – die gerade ausgerottet werden – mit Lebensmitteln zu versorgen, und Israel sie einfach entführt. Und ich glaube, weil es Hunderte sein werden, wird dies hoffentlich das richtige politische Klima für „Protect Palestine“ schaffen – und das ist unser Plan: Eine starke Gemeinschaft, genügend Hebel und genügend Einfluss geschaffen zu haben, um dann zu diesem Zeitpunkt zu Algerien, Tunesien, Spanien, Griechenland und Malta sagen zu können: Schickt jetzt eure Marinen, um den Global-Sumud-Konvoi zu schützen. Und plötzlich, wissen Sie, würde die jetzt noch unrealistische Idee der Befreiung Palästinas realistisch. Noch ist niemand bereit, das zu tun, kein Staat ist dazu bereit. Aber wenn man das Klima hat, das wir bald erleben werden – wenn Tausende von Menschen, jeder einzelne davon gut vernetzte Aktivisten, professionelle Aktivisten, mit Medienkontakten und Netzwerken auf der ganzen Welt eine riesige öffentliche Debatte darüber entfachen, was passiert –, dann haben wir das richtige Klima, um zu sagen: „Das Mindeste, was ihr tun könnt, ist, die Flottille mit eurer Marine zu bewachen.“ Das bringt die Diskussion zum ersten Mal dahin, wo wir sie brauchen, nämlich dahin, wo die Staaten dieses Fass überhaupt aufmachen und sagen: „Stimmt, wir sollten unsere Marine einsetzen, um die Flotte zu schützen.“ Und dann haben Sie das Militär, dann ist es eine militärische Intervention. Von da an wird unser Engagement noch wichtiger, denn dann werden andere Staaten lautstark Widerstand leisten. Trump wird mit Sanktionen drohen. Die Deutschen werden verwirrt sein, der deutsche Staat wird einfach die israelische Propaganda wiederholen, und wir brauchen diese Koalition, diese Kampagne, die wir aufgebaut haben, um in diesem Moment die Wahrheit zu sagen und zu sagen: „Ja, die militärische Intervention hat die Blockade durchbrochen.“ Stellen Sie sich die Jubelstürme und die Freude in der gesamten internationalen pro-palästinensischen Aktivistengemeinschaft und in der gesamten arabischen Welt vor, wenn die Nachricht kommt, dass die Sumud die Blockade durchbrochen hat – etwas, was noch nie zuvor gelungen ist. Ich glaube – ich habe ja vor Kurzem zehn Monate in Jordanien verbracht –, dann wird sich die Stimmung, die derzeit von purem Defätismus und der Gewissheit der eigenen Vernichtung geprägt ist, plötzlich ändern, und ich glaube, dass sich dann echte Aussichten für politische Bewegungen ergeben werden, die tatsächlich das Ende der Besatzung und der Apartheid herbeiführen können. Vielen Dank für dieses Gespräch. Titelbild: lev radin / Shutterstock und Ousman Noor[https://vg09.met.vgwort.de/na/38a5814df8574d13a72a3a299bab9a12] Mehr zum Thema: Gipfeltreffen der Haager Gruppe: Sechs Maßnahmen, um den Völkermord in Palästina zu stoppen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136159] Der Globale Süden gegen Waffenlieferungen an Israel [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137472]

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) verschleppt – mittlerweile gesetzeswidrig – die Veröffentlichung wichtiger Studiendaten. Das enorme öffentliche Interesse an einer Freigabe der Daten und zahlreiche weitere Alarmsignale, u.a. eine Antwort des Instituts vom 8. August 2025, veranlassten Rechtsanwältin Dr. Meyer-Hesselbarth zu diesem Schritt. Von Bastian Barucker. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die Anwältin Dr. Meyer-Hesselbarth hat am 10. August 2025 ein Eilverfahren beim Verwaltungsgericht Darmstadt gegen das Paul-Ehrlich-Institut eingeleitet (AZ: 6 L 3105/25.DA). Sie möchte mit ihrem Eilantrag erreichen, dass die vollständigen Rohdaten der SafeVac2.0-App [https://www.pei.de/DE/newsroom/hp-meldungen/2020/201222-safevac-app-smartphone-befragung-vertraeglichkeit-covid-19-impfstoffe.html] nunmehr unverzüglich vom PEI zugänglich gemacht werden müssen. Die Sache hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte: Seit Anfang April 2022 ist mit dem gleichen Ziel ein Klageverfahren (Hauptsacheverfahren) beim Verwaltungsgericht Darmstadt gegen das PEI anhängig (Az: 6 K 716/22.DA). Nach rund 40 Monaten Verfahrensdauer und trotz einer Verzögerungsrüge vom März 2025 gibt es in diesem Verfahren bis heute keinen Termin, so Meyer-Hesselbarth. Eine Anfrage des Journalisten Norbert Häring bei der Pressestelle des Gerichts vom 26. Juni 2025 ergab, „dass derzeit aufgrund einer Vielzahl vordringlich zu bearbeitender Klage- und Eilverfahren nicht absehbar ist, wann mit einer Terminierung des betreffenden Verfahrens gerechnet werden kann“. Diese Bewertung der Dringlichkeit seitens des Gerichts erstaune sie sehr, sagt Meyer-Hesselbarth. Denn die „Bedeutung der SafeVac2.0-Daten ist so groß, dass ein Abwarten auf eine gerichtliche Hauptsacheentscheidung in unbestimmter Zukunft unter keinen Umständen weiter in Betracht kommt“. Die SafeVac2.0-App [https://www.pei.de/DE/newsroom/hp-meldungen/2020/201222-safevac-app-smartphone-befragung-vertraeglichkeit-covid-19-impfstoffe.html] ist eine Anwender-App, mit der das Paul-Ehrlich-Institut ab dem Beginn der Covid19-Impfkampagne aktiv die per Handy-App registrierten Teilnehmer befragte und so Daten über Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe erfasst hat. Sämtliche Daten wurden über die SafeVac2.0-App anonym erhoben, so dass datenschutzrechtliche Gründe einer Zugänglichmachung der Studiendaten offensichtlich nicht im Wege stehen. Obwohl der Abschlussbericht zur SafeVac2.0-Studie längst fertiggestellt sein müsste, hält sich das PEI auffallend bedeckt. Bis heute, also mehr als 20 Monate nach Beendigung der Studie mit knapp 740.000 Teilnehmern, möchte das PEI nicht mitteilen, wann mit einer Veröffentlichung der Studiendaten gerechnet werden darf. Auf eine Anfrage im Bundestag zur Gesamtzahl der Verdachtsfälle in der SafeVac2.0-App antwortete das PEI nicht bzw. ausweichend, indem es die Zahl der von einer schwerwiegenden Nebenwirkung betroffenen Teilnehmer dieser Studie (3.506 Personen) nannte. Eine Presseanfrage, die ich mit sehr ähnlicher Fragestellung im Juni 2025 an das PEI gerichtet hatte, wurde bis heute in der Sache nicht beantwortet. Mittlerweile läuft wegen dieser Anfrage ein presserechtliches Eilverfahren – ebenfalls beim Verwaltungsgericht in Darmstadt. Spielt das PEI „auf Zeit“ und verzögert die Veröffentlichung ggf. unliebsamer Studienergebnisse? Eine solche Bewertung drängt sich bei einem Blick in die Begründung zu dem Eilantrag der Anwältin Meyer-Hesselbarth geradezu auf. So wurde die vom PEI öffentlich mitgeteilte Erweiterung der Studie um die sogenannte Booster-Impfung (3. Dosis) regelwidrig nicht angemeldet. Sie führte zu einer „Verlängerung“ der Studienphase um immerhin neun Monate auf insgesamt ca. 21 Monate, d. h. bis zum 30.09.2022, obwohl die Boosterimpfkampagne per Mitte März 2022 praktisch abgeschlossen war. „Man hätte die SafeVac2.0-Erhebung bei sachgerechter Vorgehensweise spätestens zum Ende des 1. Quartals 2022 schließen müssen“, so Meyer-Hesselbarth. Immer wieder hatte das PEI selbst in der Öffentlichkeit betont, dass eine zeitnahe Erhebung und Auswertung weiterer Daten im Rahmen der sogenannten Post-marketing-Surveillance wichtig sei. Mittlerweile tritt immer deutlicher zutage, dass das PEI diesen Verlautbarungen keine Taten folgen ließ: Bereits öffentlich bekannt ist der Umstand, dass bis heute die Auswertung der GKV-Daten [GKV: Gesetzliche Krankenversicherung] nach § 13 Abs. 5 IfSG seitens des PEI nicht erfolgt ist. Hinzu kommt jetzt die Nichtveröffentlichung des Berichts zur SafeVac2.0-Studie innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist. Selbst wenn die 9-monatige Verlängerung zugunsten des PEI einberechnet wird, stellt die bisher nicht erfolgte Veröffentlichung des Abschlussberichts einen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz dar (§ 67 Abs. 6 S. 7 und S. 8 i. V. m. § 42b Abs. 2 S. 1 AMG). Der in der Arzneimittelentwicklung tätige Pharmakologe Dr. Christian Wolf stimmt diesbezüglich der Einschätzung von Dr. Meyer-Hesselbarth zu. Er kommentiert die Verspätung auf der Plattform X dergestalt, dass insoweit „in der Tat ein gesicherter Regelverstoß vorliegt“. Zum selben Ergebnis kam auch Prof. Kekulé in einem Focus-online-Beitrag vom 24. Juli 2025. In diesem Beitrag wies er zugleich auf die relativ hohe und alarmierende Quote von 0,5 Prozent der SafeVac2.0-Teilnehmer mit einer schwerwiegenden Nebenwirkung hin, die als Verdachtsfälle gemeldet worden waren (also jeder 210. Teilnehmer). Kekulé forderte die Gesundheitsministerin Nina Warken vor diesem Hintergrund auf, endlich für eine Veröffentlichung der SafeVac2.0-Daten zu sorgen. Er wiederholte diese Forderung in einem am 7. August 2025 ausgestrahlten Interview gegenüber dem MDR. Angesichts der bereits bestehenden öffentlichen Verunsicherung und eines dringenden Informationsinteresses hatte ich in einer Nachfrage Mitte Juli 2025 das PEI nochmals um konkrete Beantwortung folgender Frage gebeten: „Trifft es zu, dass das Paul-Ehrlich-Institut 56.545 Verdachtsfallmeldungen für Nebenwirkungen (adverse event reports) für Teilnehmer der SafeVac2.0 App an Eudravigilance [europäische Datenbank zu Nebenwirkungsverdachtsfällen] übermittelt hat?“ Am 8. August traf dazu eine erstaunliche Antwort des PEI ein. Das PEI wich der gestellten Frage erneut aus und bestätigte nur, dass „alle gemeldeten unerwünschten Ereignisse, die gemäß § 4 Absatz 13 Arzneimittelgesetz (AMG) als schwerwiegend eingestuft wurden, innerhalb von 15 Tagen als schwerwiegendes unerwünschtes Ereignis aus einer klinischen Studie an die Eudravigilance-Datenbank der EMA berichtet wurden“. Im Übrigen führte das Institut zum wiederholten Male aus: „Alle Verdachtsfälle mit nicht-schwerwiegenden Ereignissen werden mit Abschluss der Auswertung der klinischen Studie [Markierung durch den Autor] an die Eudravigilance-Datenbank der EMA berichtet.“ Diese Antwort ist aus gleich drei Gründen erstaunlich: Erstens behauptet das PEI damit, gegen die gesetzliche Meldefrist verstoßen zu haben und Meldungen für 4 bis 4 ½ Jahre ggf. liegengelassen zu haben. § 62 Abs. 3 S. 1 AMG fordert, dass die nicht schwerwiegenden Verdachtsfälle innerhalb von 90 Tagen zu Eudravigilance weitergeleitet werden. Zweitens hatte das PEI im Juni 2021 dem ZDF gegenüber geäußert, dass es „die Daten der SafeVac2.0-Nutzer selbstverständlich wie alle anderen Verdachtsfallmeldungen bearbeitet“. Diese Aussage wurde vom ZDF im Nachgang zu einem kritischen Bericht mit dem Titel „Paul-Ehrlich-Institut überlastet – Das Datendesaster“ wiedergegeben. Sie ist zwar nicht mehr online abrufbar, befindet sich jedoch in der Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens beim Verwaltungsgericht Darmstadt. [https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/2025-08-24_16-16.png]https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/2025-08-24_16-16.png Drittens: Das PEI hatte dem Verwaltungsgericht Darmstadt zum Az. 6 K 716/22.DA unmissverständlich mitgeteilt, die Verdachtsfälle für SafeVac2.0-Teilnehmer wie andere Verdachtsfälle auch bearbeitet zu haben: > „Den sich aus § 62 Absatz 2 und 3 AMG ergebenen Verpflichtungen ist die Beklagte selbstverständlich auch bezüglich solcher Verdachtsfälle von Nebenwirkungen nachgekommen, die im Rahmen der SafeVac-App übermittelt wurden, gerade weil dies ihrer gesetzlichen Verpflichtung entspricht. Diese Informationen sind damit insbesondere in der europäischen UAW-Datenbank EudraVigilance enthalten und sind in die fortlaufende Risikobewertung und -überwachung der Covid-Impfstoffe einbezogen. In diesem Kontext ist auch das von der Klägerin herangezogene Zitat gegenüber dem ZDF heute einzuordnen, wo es heißt, dass die Daten der SafeVac-Nutzer ‚selbstverständlich‘ wie alle anderen Verdachtsfallmeldungen bearbeitet werden. Die Klägerin unterliegt einer Fehlinterpretation, wenn sie hieraus schließt, dass die Auswertungen aus der Pharmakovigilanz und die aus der SafeVac-Studie identisch seien. Nochmals sei in aller Deutlichkeit klargestellt: Die Beklagte ist verpflichtet alle Daten, die ihr über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen gemeldet werden zu erfassen und an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten. Dabei ist es völlig unerheblich, ob diese Meldungen aus dem Spontan-Meldesystem oder einer wissenschaftlichen Studie generiert werden.“ Doch damit nicht genug. Das PEI schrieb mir auf meine Presseanfrage am 8. August 2025 zudem, die konkrete Zahl der Verdachtsfälle für SafeVac2.0-Teilnehmer könne nicht mehr ohne Weiteres eruiert werden: > „Die Zahl der Verdachtsfallmeldungen kann rückwirkend nicht mehr ohne Weiteres eruiert werden, denn wenn das Paul-Ehrlich-Institut ein Follow-up an die EMA sendet, erscheint bei einer Recherche in der Datenbank des Paul Ehrlich-Instituts nur noch die aktuelle Version des entsprechenden Falls.“ Auf die Idee, in die zur Registrierung von Verdachtsfällen eigens vorgesehene Datenbank Eudravigilance zu sehen, kommt beim PEI offenbar niemand. Oder um es mit den völlig zutreffenden Worten des Vorsitzenden Richters eines Verwaltungsgerichts (der anonym bleiben möchte) zu sagen: „Was machen eigentlich die Mitarbeiter des PEI beruflich? Es gibt zwei Dinge, die einen sprachlos machen: 1. wie das PEI agiert und 2. dass es keinen zu interessieren scheint, weder die Presse, noch die Justiz, noch sonst wen.“ Das Kernanliegen des Informationsfreiheitsgesetzes – mittels Informationszugangs eine wirksame Kontrolle des behördlichen Handelns zu erreichen und ggf. Missstände aufzudecken – notfalls mit Hilfe der Gerichte, wurde in der gegebenen Konstellation bisher weit verfehlt. Diese Feststellung veranlasste Meyer-Hesselbarth nun zu dem Eilantrag. Die zuletzt bruchstückhaft bekannt gewordenen Informationen, so Meyer-Hesselbarth, „lassen die massive Besorgnis aufkommen, dass die Bundesrepublik Deutschland, die zugunsten der Impfstoffhersteller die Haftung für Impfschäden übernommen hat, in selbstbegünstigender Art und Weise die SafeVac2.0-Daten dauerhaft unterdrücken möchte“. Es liegt jetzt in der Hand des Gerichts, darüber zu entscheiden, ob anhaltende Rechtsbrüche des Paul-Ehrlich-Instituts bis auf Weiteres hinzunehmen oder unverzüglich abzustellen sind. Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Martin Schwab, Jura-Professor an der Universität Bielefeld, zu dessen Forschungsschwerpunkten seit fünf Jahren die Rechtsfragen rund um die Corona-Krise gehören, kann über das Verhalten des PEI nur noch mit dem Kopf schütteln und teilt auf Anfrage mit: > „Schon in dem Prozess um die Pflicht von Bundeswehrsoldaten zur Duldung der COVID-Impfung, der im Sommer 2022 vor dem Bundesverwaltungsgericht geführt wurde und an dem ich als Prozessbevollmächtigter beteiligt war, wurde deutlich, dass die Chargenprüfung im Hause PEI eine reine Alibi-Veranstaltung ist und dass das PEI mit der Nachverfolgung der unzähligen Impfkomplikationen überhaupt nicht hinterherkommt.“ Schwab habe, wie er weiter ausführt, schon damals nicht nachvollziehen können, warum das Bundesverwaltungsgericht dem PEI die eklatanten Versäumnisse habe durchgehen lassen können, die in diesem Prozess zutage getreten seien: > „Eigentlich hätte dieser Prozess bereits das Ende der COVID-Impfkampagne einläuten müssen. Jetzt schreiben wir das Jahr 2025 und ich werde nach wie vor den Eindruck nicht los, dass das offensichtliche Überwachungsversagen des PEI und die dort unternommenen Vertuschungsversuche von den Gerichten weiterhin gedeckt werden.“ Und wenn die medizinische Katastrophe dann doch nicht mehr zu leugnen sei, werde sie von den Gerichten auch noch kleingeredet. Schwab berichtet insoweit von einem Impfschadensprozess vor dem OLG Frankfurt, wo die 1.223 Verdachtstodesfälle, die Pfizer allein für Januar und Februar meldete, als „unauffällig“ abgetan werden (Beschluss vom 29. April 2025 – 23 W 25/24). Schwab bereitet diese Entwicklung große Sorgen: > „Wenn die Menschen den Eindruck gewinnen, dass der Staat mit der Pharmaindustrie unter einer Decke steckt und die Gerichte im günstigsten Fall wegschauen, im schlimmsten Fall aber die Aufklärung aktiv behindern, nimmt das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz schwersten Schaden.“ Titelbild: nitpicker/shutterstock.com

„Krieg oder Frieden“: Klaus von Dohnanyi und Erich Vad diskutieren in diesem neuen Buch die Weltlage und stellen übereinstimmend fest, dass es Sicherheit für Deutschland nicht allein durch Aufrüstung geben kann, sondern dass vor allem auch diplomatische Anstrengungen gefragt sind. Kann man diesbezüglich auf die derzeitige Bundesregierung hoffen? Nur in Kooperation mit Russland, so ist die übereinstimmende Meinung, könnte unser Land aus seiner derzeit schwachen Position wieder herausfinden. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Das Buch entstand auf der Grundlage eines Gesprächs, zu dem der Verleger des Westend Verlags, Markus Karstens, beide Autoren eingeladen hat. Am 9. Juli 2025 kamen sie in Hamburg zusammen: Klaus von Dohnanyi und Erich Vad. Ersterer, 97 Jahre alt inzwischen, promovierter Jurist, Urgestein der SPD mit immenser politischer Erfahrung. Unter Willy Brandt, von dem er immer noch gerne spricht, war er 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. Von 1969 bis 1981 Mitglied des Bundestags, danach bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Erich Vad, Brigadegeneral a.D. und Jahrgang 1957, war Sekretär des Bundessicherheitsrates und militärpolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Der Ältere hat noch hautnah erlebt, was Krieg bedeutet, der Jüngere hat eine steile militärische Karriere hinter sich, ist in den USA ausgebildet worden, hat verstanden, dass Regime-Change-Operationen zum selbstverständlichen Repertoire des US-Militärs gehören und hat über die aktuelle Bedeutung des Militärtheoretikers Carl von Clausewitz (1780-1831) promoviert. Im vorigen Jahr hat er bei Westend das Buch „Ernstfall für Deutschland“ veröffentlicht. [1] Dohnanyi: „War Ihnen bei der Beschäftigung mit Clausewitz klar, dass er in der russischen Armee gedient hatte? Hat Sie das eventuell bewogen, darüber nachzudenken, dass uns damals maßgeblich das Zarenreich von Napoleon befreit hat, ähnlich wie im zweiten Weltkrieg die frühere Sowjetunion bei der Befreiung Deutschlands und Europas von Hitler kriegsentscheidend war?“ Weitreichendes historisches Wissen und militärstrategische Erfahrung – wie beides hier zusammenkommt, macht das Buch so interessant. Die Europäer und ihr „Wunschkonzert“ Von den Friedenshoffnungen, die vom Treffen zwischen Putin und Trump am 15. August auf Alaska ausgingen, konnten die beiden noch nichts wissen. Aber dass Trump den Ukraine-Krieg beendet sehen oder aber dessen Kosten den Europäern aufbürden will, war ihnen schon klar. In seinem Buch „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ hat sich Klaus von Dohnanyi mit transatlantischer Vasallentreue auseinandergesetzt. [2] Nun scheint damit Schluss zu sein. „Können Sie erklären, warum wir, während Donald Trump versucht, sich mit den Russen irgendwie zu verständigen … warum wir uns da überhaupt nicht politisch einschalten?“ [3] Nun, „eingeschaltet“ hat sich Kanzler Merz inzwischen wohl, indem er wie Jens Berger so schön feststellte, am 18. August bei einer „Klassenfahrt nach Washington“ mitmachte, die aber keineswegs dazu diente, Friedenshoffnungen zu bestärken. Im Gegenteil, sie kamen als Bedenkenträger. Sehr verschnupft mögen die sieben gewesen sein, als Trump das Treffen unterbrach, um mit Putin zu telefonieren. [4] Sowieso konnten sie die Logik nicht verstehen, warum er über ihre Köpfe hinweg zunächst mit dem russischen Präsidenten verhandelte. Dabei ist die Erklärung ganz einfach: Weil es ein Stellvertreterkrieg war, dessen Beendigung die beiden Großmächte nun erst einmal unter sich ausmachen müssen. Doch die „Willigen in der EU“ scheinen ihn auf Teufel komm raus weiterführen zu wollen. Immer gegen die US-Dominanz in Europa eingestellt, hätte ich mir nun fast wünschen mögen, dass Trump im Oval Office dagegen ein Machtwort gesprochen hätte. „Sieben auf einen Streich“ – aber wir sind nun mal nicht im Märchen vom „tapferen Schneiderlein“. In was für einer Geschichte stattdessen? Wenigstens nicht mehr in La Fontaines Fabel von den zwei Ziegenböcken, die einander auf einer schmalen Brücke nicht vorbei lassen und schließlich beide ins Wasser stürzen. Das heißt, Selenskyj befindet sich wohl immer noch in dieser Rolle. Vielleicht kann er wirklich nicht vor und zurück. „Einen sofortigen Friedensschluss zu Putins Bedingungen konnten die Europäer beim Treffen mit Trump abwenden“, hieß es umgehend im Spiegel. [5] Darauf kann Merz nun wahrlich stolz sein: dass der Krieg erst einmal weitergeht. Seine Forderung nach einen Waffenstillstand fegte Trump vom Tisch, zu Recht, weil danach bloß eine neue Eskalation folgen würde. Also erbitterte Kämpfe weiterhin. Empörung über jeden russischen Angriff in den deutschen Medien, während ukrainische Aktionen entweder begrüßt oder verschwiegen werden. Europa verbissen im Kriegsmodus. Waffenlieferungen, von Anfang an verbunden mit unrealistischen Zielen, so Erich Vad, „also zum Beispiel die Rückeroberung des Donbass und der Krim oder ein militärischer Sieg über die Nuklearmacht Russland. Das war und ist militärisch nicht machbar! … Und die militärische Lage war auch oft ganz anders, als sie medial transportiert wurde. Es war drei Jahre lang ein regelrechtes Wunschkonzert, zum Teil auch billige Propaganda.“ [6]. Naiv, sich eine Welt aus lauter Einzelstaaten vorzustellen Er beruft sich auf Clausewitz: „Kriege brechen nicht einfach aus. Sie haben ihre Vorgeschichte, ihre politischen Voraussetzungen … Da sind politische Interessen immer im Spiel, und vor allen Dingen: Nicht nur, wenn man Kriege führt, sondern vor allem, wenn man aus Kriegen rauskommen will, braucht man dafür ein politisches Konzept.“ [7] Dies ist nicht das einzige Buch, das sich dieser Vorgeschichte widmet, den politischen Interessen, die zum Ukraine-Konflikt führten. Wodurch es sich von anderen unterscheidet, ist die Form eines lockeren Gesprächs. Moderiert wurde das Gespräch von Maike Gosch, die an der Vorbereitung beteiligt war und wohl auch an der Nachbereitung, die solch ein Gespräch nötig hat. Lesend darf man sich fühlen, als wenn man dabei wäre. Schließlich ist man ja die ganze Zeit auch mit sich selbst im Disput und ist dankbar für manche Einzelheit, die man nicht mehr im Gedächtnis hat. „Ich habe amerikanischen Freunden, die über Weihnachten bei uns waren, das erklärt mit der Ukraine und Russland“, so Erich Vad. „Ich habe gesagt: Stellt euch mal vor, in Mexiko würde eine neue Regierung an die Macht kommen, die gern Mitglied der Eurasischen Union von Putin werden möchte und die würde sich dann einigen mit den Russen über Militärstützpunkte und über Raketenstellungen am Rio Grande, und sie würden im Lande gemeinsame Militärmanöver mit den Russen durchführen und im Golf von Mexiko (jetzt heißt er ja Golf von Amerika) Seemanöver veranstalten, zusammen mit den Chinesen und anderen BRICS-Staaten. Stellt euch mal vor, was würden die USA in einer solchen Situation wohl machen? Und der amerikanische Freund sagte prompt, da würden wir, das heißt die USA, sofort einmarschieren.“ [8] Mir war nicht bewusst, wie Clinton nach 1990 mit seinen Plänen einer NATO-Osterweiterung innerhalb seiner Führungsriege auf Kritik stieß, weil „dies ein Fehler von historischem Ausmaß sei“. Klaus von Dohnanyi: „Dieser rapide Wechsel … einer ganzen Reihe von Staaten, von Estland über Litauen bis Rumänien, die zum russischen Sicherheitssystem nach Westen gehörten und plötzlich Teil des amerikanischen Sicherheitssystems nach Osten wurden, also Mitglied der NATO“, stand ja tatsächlich am Beginn zahlreicher Konflikte. [9] Vad: „Ja, das war sicherlich aus strategischer Sicht eine fundamentale Schwächung der russischen Sicherheitsposition in Europa …. Die Russen haben ihr Problem auch sehr früh kommuniziert. Ich war ja 2008 mit der Bundeskanzlerin zusammen auf dem NATO-Gipfel in Bukarest, bei dem die Aufnahme der Ukraine und Georgiens anstand. Die Kanzlerin hat meiner Meinung nach berechtigterweise und richtig gesagt, dass das nicht in Frage komme. Die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO würde faktisch Krieg mit Russland provozieren.“ [10] Es ist eine naive Vorstellung, dass die Welt aus lauter völlig selbstständigen Einzelstaaten besteht, die völlig frei in ihren Entscheidungen sind. Immer schon gab es ein Ringen um Einflusszonen, die sich vergrößerten oder zerfielen und einen Phantomschmerz zurückgelassen haben. Die Zeit des Kalten Krieges mag einem im Vergleich zu heute sogar einigermaßen stabil erscheinen. Im irrigen Glauben, nach dem Zerfall der Sowjetunion als einzige Weltmacht übrig geblieben zu sein, sahen sich Kräfte in den USA bestärkt, Russland mit seinen Interessen nun überhaupt nicht mehr ernst zu nehmen. Gegenreaktionen waren vorauszusehen. Strategische Sichtweisen verstehen und den Kontrahenten zubilligen Großmachtpolitik, geostrategische Interessen: Bemängelt wird das in der Öffentlichkeit nur, wenn das Russland betrifft. Als wenn es eine Art Charakterfehler sei, mitgebracht aus sowjetischen, gar zaristischen Zeiten. Den USA wird das zugestanden, und deutsche Politiker sind ärgerlich, dass sie in der Liga der Großen nicht mitspielen dürfen, dass Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen bestenfalls „Mittelmacht“ ist, wenn nicht ohnehin auf einem absteigenden Ast. Mit diesem Brett vorm Kopf ist es dann eben schwer, die russische Motivation für das Krim-Referendum 2014 zu verstehen, die Erich Vad nachvollziehen kann. „Die Krim ist strategisch für die Russen so wichtig wie Kaliningrad und Murmansk. Das sind die Eckpfeiler ihrer strategischen Verteidigung.“ [11] Nüchterner Befund: Völkerrecht hin oder her, Interessen werden durchgesetzt, so lange man es kann. Interessant, wie Klaus von Dohnanyi in diesem Zusammenhang an die geheime Operation der CIA und des MI6 im August 1953 im Iran erinnert, weil der demokratisch gewählte iranische Ministerpräsident Mossadegh die Ölvorkommen verstaatlichen wollte, welche die Kolonialmacht Großbritannien als ihr Eigentum betrachtete. [12] Strategische Sichtweisen verstehen und den Kontrahenten zubilligen: Das ist für mich ein wichtiger Ertrag des Buches. Generell, um Weltpolitik durchschauen zu können, um zu nüchternen Einschätzungen zu gelangen, welche zugegebenermaßen verständlichen Wünschen auch entgegenstehen können. Da denke ich immer an die ironische Forderung, die 1990 an einer Hauswand in Berlin-Kreuzberg zu lesen war: „Reiche Eltern für alle“. Schön wär’s, es gibt eine enorme Ungerechtigkeit in der Welt. Und der angeschlagene Westen verfügt immer noch über eine gewisse Ausstrahlung. Dass es doch besser sei, in der EU und in der NATO zu sein, werde ich diesen Herbst womöglich zu hören bekommen, wenn ich nach Georgien und Armenien reise. Wie soll ich antworten? Auf den Ukraine-Krieg verweisen? Bunt und frei möchte man sich die Welt gerne denken. 195 Staaten, 193 Mitglieder der Vereinten Nationen, vielleicht 5.000 Völker – und jedem sei das Selbstbestimmungsrecht garantiert? Wohlstand auch? Kriegspropaganda packt uns bei unseren Sehnsüchten und Ängsten Die deutsche Propaganda zum Ukraine-Konflikt spielt auf dieser Klaviatur: dass ein großes Land ein kleineres mir nichts, dir nichts überfallen habe, dem jetzt Mitgefühl und Beistand gebühre. Zur Unterstützung der Ukraine Druck auf Russland auszuüben, so lautet die westliche Kampfansage. Unter den Tisch gekehrt wird dabei die Verletzung von Menschenrechten der russischsprachigen Bevölkerung, die gewaltsame Ukrainisierung bis hin zur Sprache und Kultur. Weitgehend verschwiegen und insgeheim gar als rechtmäßig betrachtet wurde die sogenannte Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee ab 2014 in den Ostgebieten. 15.000 Tote – das sei ein richtiger Krieg gewesen, so Erich Vad, mit „den Rebellen, den sogenannten Separatisten, die freilich von Russland unterstützt wurden … Das ist genauso, als wenn in Mexiko ein Machtkampf liefe zwischen einer proamerikanischen und einer prorussischen Regierung.“ [13] Darauf habe Russland reagiert. „Aus russischer Sicht ist der Westen der Aggressor: die volle politische Kontrolle der Ukraine und der Versuch, sie ins NATO-Bündnis zu integrieren mit allen Folgekonsequenzen des Verlusts der Kontrolle über das Schwarze Meer und über das Nachbarland.“ [14] „Herr Vad, was machen wir denn jetzt?“, fragt Klaus von Dohnanyi. „Wir haben einen Krieg mitten in Europa. Wie bringen wir den zu Ende? Dafür muss doch von deutscher Seite etwas getan werden!“ [15] Die Antwort darauf: „Die Amerikaner reden ja mit den Russen schon seit Monaten. Wir Europäer sind aus meiner Sicht aus dem Spiel. Wir haben zwei große, strategische Fehler gemacht, vor allem Deutschland! Wir haben ausschließlich auf die Ukraine und Selenskij gesetzt und Russland in Zeiten der Ampelregierung im Grunde genommen absolut außen vor gelassen.“ [16] Aber ist es nicht volle Absicht gewesen, in blindem Gehorsam der Biden-Administration zu folgen? „Wenn Russland gewinnt“ – nicht nur Carlo Masala hat uns diese Warnung einhämmern wollen. [17] Man macht uns Angst, damit wir mit der gigantischen Verschuldung Deutschlands einverstanden sind, die letztendlich zu einer weiteren Umverteilung von unten nach oben führt. Den Rüstungskonzernen, nicht zuletzt auch jenen in den USA, sind Gewinne garantiert, die Masse der Bevölkerung aber sieht unsicheren Zeiten entgegen. Alles, nur kein Krieg, werden sie sich sagen und alles schlucken, was ihnen auferlegt ist. „Putin will eigentlich gar nicht die Ukraine, sondern er will ganz Deutschland und dann will er auch noch Frankreich und dann will er auch noch die Niederlande und am Ende will er zum Atlantik marschieren.“– Klaus von Dohnanyi hält das für eine völlige Fehleinschätzung.[18] Erich Vad auch, gibt aber zu bedenken, dass Russland voll auf Kriegswirtschaft umgestellt hat, was hiesige Ökonomen ebenfalls befürworten. Mit dem Hintergedanken, dass ein Krieg „die wirtschaftliche Stagnation und viele andere politische Probleme scheinbar lösen könnte“, indem diese dann „keine Rolle mehr spielen“. Extrem gefährlich könnte es in der derzeit aufgeheizten Stimmung werden. Und sei es auf Nebenschauplätzen im Baltikum – wenn „ein kleiner Funke dann plötzlich zur Explosion kommt, eine politische Kettenreaktion abläuft, die nicht mehr eingefangen wird und dann sind wir in einem Krieg mit Russland.“ [19] Dagegen setzt er ein Zitat von Moshe Dayan: „Wenn du Frieden willst, reicht es nicht aus, mit deinen Freunden zu reden, du musst mit deinen Feinden reden.“ Diplomatie als Gebot der Stunde Wie vielen in der DDR Sozialisierten widerstrebt es mir zutiefst, in Russland einen Feind zu sehen. Auch wenn der Krieg für das Land nicht folgenlos geblieben ist, wenn Patriotismus in Nationalismus übergeht und der „kollektive Westen“ auf eine grundsätzliche Weise zum Gegner erklärt wird. Man vertraut uns nicht mehr. Und ich kann nur hoffen, dass sich Putins Vertrauen in Trump nicht als Illusion erweist. Und welche Folgen wird die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen 2026 haben? „Mit einer Abwehrkomponente, mit einer Angriffskomponente, mit Hyperschallwaffen, nuklear oder konventionell bestückt“ – Erich Vad sieht darin eine sehr schlechte Lösung. [20] Und Klaus von Dohnanyi war noch unter Kanzler Schmidt bei einer NATO-Übung dabei, wo simuliert wurde, Deutschland nuklear zu verseuchen, „um die Russen am Vormarsch zu hindern“. [21] Deutschland als potenzielles Schlachtfeld in einem europäischen Krieg – wie wäre das zu verhindern? Durch Abschreckung durch Aufrüstung? Wirklich? Erich Vad bemängelt, dass die Bundeswehr zum Ende des Kalten Krieges 500.000 Soldaten hatte, aber jetzt nur noch 180.000 Mann. Wieviel Kanonenfutter (oder Drohnenfutter) würde man denn brauchen? In neue, digitale Technologien investieren? Russland tut das auch. So wären wir also wieder beim Wettrüsten, das auch zu einer Form von Wirtschaftskrieg führt. Dass es nichts bringt, sich weiter in eine Kriegshysterie hineinzusteigern, darin sind sich die Beiden einig. Wenn man das russische Verhandlungsangebot vom Dezember 2021 endlich ernst nehmen würde, könnte man Putin „hineinlocken“ in eine neue Verhandlungsrunde? Klaus von Dohnanyis Frage hat sich inzwischen geklärt. Verhandlungen sind im Gange, aber die Gefahr besteht, dass Deutschland, dass Europa sie torpedieren wird. Trump hat versprochen, dass er diesen Krieg beenden will. Die Ukraine hat die Mitgliedschaft in der NATO in ihrer Verfassung verankert. Russland lehnt sie strikt ab. Die Europäer haben die ganze Zeit die „territoriale Integrität“ des Landes auf ihre Fahnen geschrieben, die bei einer Verhandlungslösung nicht zu haben wäre. Russland hat schon 2021 sehr weitreichende Sicherheitsgarantien verlangt und bereits „neue Regionen“ in die Föderation eingegliedert. Dass die Ostgebiete mit einer gewissen Autonomie in der Ukraine bleiben könnten, sah das Minsker Abkommen vor. Doch dieser Zug ist inzwischen abgefahren. „Am Ende ist es ein Geschäft, in dem beide Seiten gesichtswahrend rauskommen müssen“, so Erich Vad. „Was können wir beide denn tun, dass unsere Bundesregierung versteht, was ihre Aufgabe ist?“ Wie ehrlich hilflos spricht Klaus von Dohnanyi da unsereinem aus dem Herzen! Kann es überhaupt mit der Bundesregierung gelingen, die wir derzeit haben? Eine tief wurzelnde Russophobie nicht erst seit Zeiten des Kalten Krieges hat sich in die Hirne eingefressen, sonst wären die Kontakte zu Russland doch nicht abgebrochen worden, als sie am notwendigsten waren. Klar, dass Putin gern mit Trump verhandelte, der Russland inzwischen in aller Deutlichkeit als Großmacht anerkennt. Er hätte auch den Hörer abgenommen, wenn Merz ihn angerufen hätte. Aber hätte der es denn geschafft (und gewollt), ihm wie Trump erst einmal zuzuhören, um seine Position zu verstehen? „Merz tickt völlig unhistorisch“, meint Klaus von Dohnanyi. „Es gibt keinen Frieden in Europa ohne Russland, und es gibt keinen Frieden in Europa, ohne dass Deutschland zu diesem Frieden mit Russland einen entscheidenden Beitrag leistet. Wenn Putin heute so bitter über Deutschland redet, dann auch deswegen, weil ihn kein Land in Europa so enttäuscht hat. „Unsere Stärke war, dass wir mit Russland in der Kooperation waren … Horst Teltschik hat das ja wunderbar beschrieben, was für die Russen wichtig ist: das Wichtigste ist, dass sie ihre Würde haben, dass sie respektiert werden auf einer Ebene wie die andere Seite auch.“ [22] NATO-Friedenstruppen: eine Irreführung der Öffentlichkeit Vielleicht ist es auch ein charakterliches Problem, dass der deutsche Bundeskanzler in seiner Furcht, seinem Hass auf Russland zu einem Gespräch auf Augenhöhe nicht fähig und nicht willens ist. Aber es könnte uns teuer zu stehen kommen. Nach den Gesprächen im Weißen Haus vergangene Woche nahm er gleich den Mund wieder voll. Bekräftigte, dass der Ukraine „keine Gebietsabtretungen aufgezwungen werden dürften“. [23] Ob Bundeswehrsoldaten in die Ukraine geschickt würden, das müsse das Parlament entscheiden. Dabei dürfte ihm doch klar sein, dass dies gerade der Knackpunkt ist: Russland duldet keine NATO-Präsenz vor seiner Haustür. Er weiß es natürlich und denkt: Nun gerade. Um mit Erich Vad zu sprechen: Das wäre so, als wenn Russen und Chinesen Truppen nach Mexiko schicken würden. Ohne die antirussische Aus- und Aufrüstung der Ukraine wäre es nicht zu diesem Krieg gekommen. Keine Rede davon, dass Waffenlieferungen an Kiew eingestellt werden. Trump geht es nur darum, wer die Kosten trägt. Wenn in Kiew geplant ist, nun amerikanische Waffensysteme im Wert von 100 Milliarden Dollar zu erwerben, und die Europäer das bezahlen sollen, wie die Financial Times berichtet, ist das für ihn ein wunderbarer Deal. [24] 100 Milliarden für den „Frieden“ und dann vielleicht noch der Friedensnobelpreis? Könnte er so ein Angebot ausschlagen? „NATO-Friedenstruppen“: Das ist eine Irreführung der Öffentlichkeit. In Russland wird man es als Signal verstehen, dass der Krieg im westlichen Interesse weitergeführt werden soll – mit allen Konsequenzen. Wir brauchen eine vertraglich abgesicherte Friedensordnung in Europa unter Einbeziehung Russlands. Für unser Land und unseren Kontinent wäre das die beste Sicherheitsgarantie. Klaus von Dohnanyi/ Erich Vad: Krieg oder Frieden. Deutschland vor Entscheidung. [https://westendverlag.de/Krieg-oder-Frieden-Deutschland-vor-der-Entscheidung/2332] Westend Verlag, 144 S., geb., 20 € Titelbild: Westend Verlag[https://vg05.met.vgwort.de/na/f045d4ce0c3148fdbea716759b92447a] ---------------------------------------- [«1] Erich Vad: Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg. Westend Verlag, 80 S., br., 15€. [«2] Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler Verlag, 299 S., geb., 26 €. [«3] Dohnanyi /Vad, S. 24f [«4] sueddeutsche.de/politik/ukraine-krieg-newsblog-trump-selenskij-merz-treffen-livestream-li.3298820 [https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-krieg-newsblog-trump-selenskij-merz-treffen-livestream-li.3298820] [«5] spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-erfolg-fuer-friedrich-merz-bei-donald-trump-kommentar-a-fd7427c1-185a-467b-a026-acd9f8f86a8e [https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-erfolg-fuer-friedrich-merz-bei-donald-trump-kommentar-a-fd7427c1-185a-467b-a026-acd9f8f86a8e] [«6] Dohnanyi/Vad, S. 21 [«7] ebenda, 20 [«8] ebenda, S. 30f [«9] ebenda, S. 33 [«10] ebenda, S. 35 [«11] ebenda, S. 38 [«12] ebenda, S. 40 [«13] ebenda, S. 50f [«14] ebenda, S. 47 [«15] ebenda, S. 52 [«16] ebenda, S. 53 [«17] Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. C.H.Beck, 119 S., br., 15 €. [«18] Dohnanyi/ Vad, S. 61 [«19] ebenda, S. 57 [«20] ebenda, S. 74 [«21] ebenda, S. 76 [«22] ebenda, S. 139 [«23] deutschlandfunk.de/merz-ukraine-keine-gebietsabtretungen-aufzwingen-100.html [https://www.deutschlandfunk.de/merz-ukraine-keine-gebietsabtretungen-aufzwingen-100.html] [«24] ft.com/content/8dad9c67-59da-4f38-b43a-3d6ba5f1df57 [https://www.ft.com/content/8dad9c67-59da-4f38-b43a-3d6ba5f1df57]

Hat das Statistische Bundesamt (destatis) die Wachstumszahlen in der Zeit der Ampel-Regierung bewusst geschönt? Wer von destatis in dieser Frage am vergangenen Freitag Aufklärung in eigener Sache erwartet hatte, der hat sich getäuscht. Zwar haben sich die Wiesbadener Statistiker tatsächlich zum Zustandekommen der BIP-Zahlen in den Jahren 2022 bis 2024 geäußert [https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/08/PD25_310_811.html?nn=2110], zu den eigentlich entscheidenden Fragen haben sie aber nichts gesagt. Von Thomas Trares. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Nur zur Erinnerung – das Statistische Bundesamt hat die bislang längste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich von Mitte 2022 bis Mitte 2024, einfach übersehen oder übersehen wollen und die Öffentlichkeit stattdessen in dem Glauben gelassen, dass sich die deutsche Wirtschaft in einer Art Stagnation befindet – ob dies bewusst oder unbewusst geschah, sei einmal dahingestellt. Heraus kam all dies jedenfalls erst Ende Juli, als destatis die revidierten Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der vergangenen vier Jahre veröffentlicht hat. (Die NachDenkSeiten haben bereits ausführlich über den Vorgang berichtet [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137032].) Für den vergangenen Freitag hatte destatis dann angekündigt, im Zuge der Veröffentlichung der neuen BIP-Zahlen auch die Revision der alten Daten genauer zu erläutern. Dies ist auch geschehen, allerdings ist das Ergebnis so vorhersehbar wie ernüchternd. Von einer wirklichen Aufarbeitung keine Spur. So konstatierte destatis lediglich, dass die BIP-Änderungen „höher als gewöhnlich ausgefallen und in ähnlichem Ausmaß aber auch bei früheren Sommerüberarbeitungen aufgetreten“ seien. Mehr nicht. Danach wird der Leser dann gleich mit einem ganzen Wust aus Fachbegriffen, Termini technici und kleinteiliger Methodik erschlagen. So ist von „Strukturstatistiken“, von „Angaben aus der Input-Output-Rechnung“, von „Produktionswerten“ wie auch von „Vorleistungen“ die Rede – alles Dinge, die für die Ermittlung des BIP relevant sein mögen; allein, damit beantworten die Statistiker die entscheidenden Fragen nicht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Vielmehr wäre für den Bürger interessant zu erfahren, wie es zu solch einer grandiosen Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2022 bis 2024 überhaupt kommen konnte. Immerhin haben die Wiesbadener Statistikexperten einfach übersehen, dass die Wirtschaft acht Quartale am Stück nicht gewachsen ist. Dem Außenstehenden stellt sich allein hier schon die Frage: Kann man das als Statistiker überhaupt übersehen? Oder muss man da schon wegsehen wollen? Weiter wäre mal interessant zu erfahren, wie solch eklatante Fehleinschätzungen in Zukunft verhindert werden können. Und wer übernimmt überhaupt die Verantwortung für all diese Fehleinschätzungen? Immerhin ist das Statistische Bundesamt der zentrale Datenbeschaffer für die gesamte Volkswirtschaft. Auf Basis dieser Daten werden Entscheidungen getroffen – in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in der Verwaltung. Was ist, wenn all die dortigen Entscheider auf Basis falscher Daten entscheiden? Dazu ein Beispiel: So hat der damalige Bundesfinanzminister Christian Lindner im Juli 2023 erklärt [https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/haushalt-2024-leitet-zeit-der-konsolidierung-ein-19009802.html], dass er im Bundeshaushalt 2024 einen „wichtigen Schritt hin zu finanzpolitischer Normalität“ gehen werde und „die Rückkehr zur Schuldenbremse ein Gebot der ökonomischen Vernunft“ sei. Das war just zu einem Zeitpunkt, an dem das BIP drei Quartale in Folge geschrumpft ist – wie sich nun herausgestellt hat. Gemäß der gängigen Lehrbuchökonomie wäre also genau das Gegenteil richtig gewesen. Ein weiteres Beispiel ist das Wachstumschancengesetz, das die Ampel-Regierung im Sommer 2023 auf den Weg gebracht hat. Das Gesetz war aber lediglich eine Art Placebo mit einem minimalen expansiven Impuls von rund sieben Milliarden Euro pro Jahr. Selbst das regierungsnahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erklärte seinerzeit [https://www.boersen-zeitung.de/konjunktur-politik/diw-sieht-kaum-positive-bip-effekte-durch-das-wachstumschancengesetz], dass dies zu gering sei, um dauerhaft merkliche realwirtschaftliche Effekte zu erzielen. Kurzum lässt sich konstatieren, dass eine angemessene wirtschaftspolitische Reaktion auf drei Quartale Negativwachstum nie stattgefunden hat. Und nicht zuletzt setzt sich das Statistische Bundesamt auch dem Verdacht aus, womöglich sogar politisch gewünschte Ergebnisse produzieren zu wollen. Dies legt allein die schon rein optisch auffällige Zahlenreihe aus sich regelmäßig abwechselnden positiven und negativen Wachstumswerten nahe, die die Behörde in den Jahren 2022 bis 2024 ausgewiesen hat. Das Muster ist sogar derart auffällig, dass es dafür einen Fachbegriff gibt. Von einer „alternierenden Reihe“ sprechen Mathematiker in solch einem Fall. Und genau solch eine alternierende Reihe musste auch kommen, wenn man mitten in einer Rezession tunlichst die Verwendung des Begriffs „Rezession“ vermeiden möchte. Definitionsgemäß liegt nämlich eine Rezession erst dann vor, wenn das BIP zwei Quartale hintereinander schrumpft. In diesem Fall spricht man dann auch von einer „technischen Rezession“. Wollten die Wiesbadener Statistiker genau eine solche unter den Teppich kehren? Nachweisen kann man das natürlich nicht, die Sache hat jedoch mehr als ein Geschmäckle! Titelbild: T. Schneider/shutterstock.com[http://vg04.met.vgwort.de/na/80c15ff47ba84aaba931ce60c829c466]

Während die Lage in Gaza sich weiter zuspitzt, die Hungerblockade der Bevölkerung täglich neue Opfer fordert und die israelische Regierung die vollständige Zerstörung von Gaza City und die weitere Vertreibung der kompletten restlichen Bevölkerung des Gazastreifens in Camps in den Süden des Landes beschlossen hat, mehren sich auch die Aktivitäten und Initiativen, die versuchen, sich schützend vor die palästinensische Zivilbevölkerung zu stellen. Eine der radikalsten Ideen kommt dabei von dem britischen Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Ousman Noor [https://ousmannoor.com/]. Er hat die Initiative Protect Palestine [https://protect-palestine.com/] gegründet, die für ein internationales militärisches Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung und zur Sicherstellung der Hilfslieferungen wirbt. Das Interview führte Maike Gosch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. In diesem ersten Teil des Interviews mit den NachDenkSeiten spricht Ousman Noor über seine eigene politische Entwicklung, seinen Hintergrund, seine rechtliche Einschätzung der Lage und darüber, was ihn zu seiner Initiative motiviert hat – und auch darüber, was ihn seine klare Stellungnahme gekostet hat. Maike Gosch: Lieber Ousman Noor, vielen Dank, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. Ich würde gerne damit beginnen, dass Sie uns ein wenig über sich selbst erzählen, über Ihren Hintergrund, Ihre Qualifikationen, darüber, was Sie geprägt hat, und dann über Ihren beruflichen Werdegang. Ousman Noor: Gerne. Ich stamme aus Kaschmir, einer Region, die seit 1947 ebenfalls unter militärischer Besatzung lebt. Sie und Palästina haben eine ähnliche Geschichte, da beide Gebiete von Kolonialmächten geteilt und erobert wurden. Ich bin also mit einer Tendenz zum Widerstand und dem Bewusstsein für die Herausforderungen der Überwindung kolonialer Strukturen aufgewachsen. In vielerlei Hinsicht wird über Kaschmir vielleicht sogar noch weniger gesprochen als über Palästina, aber jedenfalls bin ich in diesem Bezugsrahmen bereits aufgewachsen. Ich wurde dann Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf Asyl- und Flüchtlingsrecht. Und im Laufe von etwa zehn Jahren habe ich Menschen aus über 100 verschiedenen Staaten vertreten – Menschen, die aus politischen Gründen, aus religiösen Gründen, wegen ihrer Sexualität, ihres Geschlechts, wegen der ganzen Bandbreite von Unterdrückungsformen verfolgt wurden, und ich habe mich vor Gericht für sie eingesetzt. Ich habe mich auf Abschiebehaft spezialisiert, das heißt, ich bin in Haftanstalten gegangen und habe versucht, Menschen aus unrechtmäßiger Haft zu befreien. Es handelte sich um Migranten, nicht um Straftäter. Das war in Großbritannien, richtig? Ja, in Großbritannien. Diese Arbeit hat mir ein großes Gespür für die Parallelen zwischen verschiedenen Formen der Unterdrückung und den Beweggründen von Menschen vermittelt, die vor Unterdrückung fliehen, um Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Und das galt unabhängig davon, ob es sich um einen Vietnamesen, einen Kolumbianer oder jemanden aus Namibia handelte. Was wir sahen, war ihr gemeinsamer Wunsch, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die das menschliche Verhalten wirklich antreibt. Ich habe sie dabei vertreten, sich durch die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung durchzukämpfen, denen Migranten auf ihrem Weg in die Sicherheit ausgesetzt sind. Das hat mir auch ein gesteigertes Bewusstsein dafür vermittelt, wie Kolonialismus und Imperialismus das Leben und die Familien der Menschen direkt beeinflussen. > „Es geht nur darum, wer die Macht hat.“ Dann bin ich nach Genf gezogen. Dort habe ich bei einer internationalen Kampagne gegen den Einsatz von Killerrobotern gearbeitet. Sie heißt „Stop Killer Robots“ [https://www.stopkillerrobots.org/]. Ich war ihr Verantwortlicher für Regierungsbeziehungen dort und hatte meinen Sitz bei den Vereinten Nationen. Ich fungierte im Wesentlichen als ihre Verbindungsperson zur diplomatischen Gemeinschaft. Dadurch konnte ich mit einer Vielzahl von Regierungsvertretern, vor allem Diplomaten, aber manchmal auch mit Personen aus den Hauptstädten, über das Thema autonome Waffensysteme sprechen, und wir waren natürlich dagegen. Aber dadurch habe ich ein wirklich tiefes Verständnis für internationale Diplomatie und Macht gewonnen; wie wenig die Formulierung eines Gesetzes wirklich zählt, wenn es um tatsächliche Beziehungen geht. Es geht nur darum, wer die Macht hat. Und oft war das Gesetz nur ein irrelevanter, ein völlig irrelevanter Faktor dafür, wer diese Waffen nutzt, wer sie testet oder wer sie einsetzt. Tatsächlich ist Israel führend in der Entwicklung solcher Waffensysteme. Und wir wussten schon lange, dass sie in Gaza und im Westjordanland eingesetzt wurden. Aber lassen wir das beiseite, denn das ist eine sehr interessante und separate Geschichte. > „Netanjahu sagte, er werde ‚Gaza in eine Wüste verwandeln‘ – das waren seine Worte, und das hat er getan.“ Dann im Oktober 2023 war ich in New York, um mich für eine Resolution zu autonomen Waffensystemen einzusetzen. Ich kam tatsächlich genau am 8. Oktober 2023 dort an. Und die Stimmung, wenn Sie sich an diese Tage erinnern können, war für uns alle sehr, sehr beängstigend, denke ich, denn wir erhielten nicht nur die Berichte über die Taten der Hamas, sondern es wurde auch sehr lautstark und in sehr deutlichen Worten zu Vergeltung und Rache aufgerufen. Das war nicht zweideutig. Netanjahu sagte, er werde „Gaza in eine Wüste verwandeln“ – das waren seine Worte, und das hat er getan. Als ich also in dem Raum der UNO saß, konnten wir beobachten, wie Staaten wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich, die die Fassade aufrechterhalten, das Völkerrecht wirklich wichtig zu nehmen, wenn es um die Wahrung ihrer Interessen geht, nicht nur das Völkerrecht mit Füßen treten, sondern sogar an der vollständigen Vernichtung einer gefangenen, belagerten Bevölkerung mitwirkten. Wissen Sie, manchmal denke ich, wenn wir im Voraus gewusst hätten, dass die Hamas das tun würde, was sie am 7. Oktober getan hat, würde ich hoffen, dass sich viele Menschen dagegen ausgesprochen und gesagt hätten, dass sie das nicht tun sollten. Aber wir wissen, dass Israel jeden Tag das Gleiche tut wie die Hamas am 7. Oktober. Und tatsächlich wird das von Staaten wie Deutschland sehr unterstützt. Und leider denken sie, wie ich durch den deutschen Botschafter erfahren habe, dass sie das Richtige tun. Das ist es, was wir beobachtet haben: Es spielt keine Rolle, wie viele Palästinenser massakriert werden, es gibt einfach uneingeschränkte, bedingungslose Unterstützung dafür. Was meine Karriere angeht, kann ich hier in diesem Interview nicht darüber sprechen, aber es gibt viele Informationen darüber, wie ich meinen Job bei „Stop Killer Robots“ in Folge verloren habe, die Sie gerne nachlesen können. (Anm. d. Red.: Siehe zum Beispiel hier [https://www.middleeastmonitor.com/20240424-lawyer-fired-from-anti-war-ngo-for-gaza-tweet/].) > „Wir haben es mit einem Staat, einer Ideologie zu tun, die völlig über dem Gesetz steht.“ Und seitdem bin ich wirklich Tag und Nacht als Aktivist für Palästina tätig. Das umfasst viele verschiedene Arten von Aktivismus. Aufgrund meiner Erfahrung und meines Einflusses innerhalb der UNO nutzte ich zunächst weiterhin das UN-System, um mich für Veränderungen einzusetzen, um eine Waffenresolution und ein Waffenembargo zu erreichen und um über den Einsatz künstlicher Intelligenz im militärischen Bereich und darüber zu sprechen, wie Israel diese für Völkermord einsetzt. Und ich glaube, es war, als Israel vom Internationalen Gerichtshof eine rechtsverbindliche Anordnung erhielt, Rafah nicht zu betreten – das war im Mai 2024 – und den ungehinderten Fluss von Hilfsgütern zuzulassen und Netanjahu dies eindeutig missachtete, da wurde mir wirklich klar: Wir haben es mit einem Staat, einer Ideologie zu tun, die völlig über dem Gesetz steht. Wenn der Internationale Gerichtshof eine rechtsverbindliche Anordnung erlässt, nicht nach Rafah vorzudringen, ist das der Gipfel der weltweiten Rechtsprechung. Es handelt sich um eine rechtsverbindliche Anordnung des höchsten Gerichts der Welt. Und wenn es dann einen Staat gibt, der sich einfach nicht darum schert, wurde mir klar, dass wir es mit einem Staat zu tun haben, der das Recht seinem ultimativen Ziel der Auslöschung unterordnet. Und unter diesen Umständen, wenn man logisch denkt, wie kann man das verhindern? Wenn Advocacy (Anm. d. Red.: Interessenvertretung und Einsetzen für eine Sache gegenüber Regierungsvertretern und internationalen Organisationen) nicht funktioniert hat, diplomatische und juristische Mechanismen nicht funktioniert haben, hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man sieht zu, wie die Vernichtung stattfindet, was wir getan haben und weiterhin tun, oder man stoppt sie. > „So einfach ist das. Um sie zu stoppen, muss man die Bomben stoppen. Das bedeutet eine Flugverbotszone.“ So einfach ist das. Um sie zu stoppen, muss man die Bomben stoppen. Das bedeutet eine Flugverbotszone. Wir haben Hunderte von Lastwagen mit Lebensmitteln und Hilfsgütern rund um Gaza und ausgemergelte Kinder in Gaza. Ich denke, ein Kind könnte das sehen und sagen: Die Lastwagen müssen zu den Kindern. Aber niemand spricht so klar darüber. Wir Aktivisten sind meiner Meinung nach immer noch zu sehr der illusorischen Vorstellung verhaftet, dass Israel sich an das Gesetz halten wird oder kann. Dabei ist die Wahrheit doch, auch wenn Staaten nicht genau wie Menschen sind, aber ich denke, man könnte einen Vergleich ziehen: Sie haben einen Serienmörder, und Sie schreiben ihm Briefe, in denen Sie ihn bitten: „Bitte hören Sie auf mit dem, was Sie tun.“ Nein, man muss ihn aufhalten. Man muss ihn verhaften. Das war also der Auslöser. Ich begann dann in meiner Eigenschaft als Privatperson, mich für eine militärische Intervention einzusetzen. Ich war sehr allein und wurde innerhalb der palästinensischen Aktivistengemeinschaft als Radikaler stigmatisiert, gemieden und isoliert. Aber mein Wunsch nach einer militärischen Intervention entspringt tatsächlich pazifistischen Idealen. Ich möchte nicht mit ansehen, wie Menschen abgeschlachtet werden. Und ich weiß, dass es weiter geschieht, wenn wir kein Mittel finden, sie aufzuhalten. > „Ich kann das unmöglich fordern, sie würden mich töten.“ Jedenfalls begann ich, selbst viel darüber zu sprechen, und war frustriert, weil mir klar wurde, dass ich nur eine Einzelperson war und auch allein dastand. Damals habe ich monatelang die palästinensische Zivilgesellschaft dazu ermutigt, sich dafür einzusetzen. Aber mir wurde klar, dass sie das nicht tun – nicht unbedingt, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie Angst vor den Folgen haben. Viele Menschen, mit denen ich in Gaza gesprochen habe, sagen: „Ich bin zu 100 Prozent auf deiner Seite, Bruder, aber ich kann das unmöglich fordern, sie würden mich töten.“ Angesichts meiner Erfahrungen mit Kampagnen und internationaler Diplomatie entschied ich, dass es richtig wäre, die „Protect Palestine“-Kampagne zu gründen. Seit einem Jahr schlafe, träume und atme ich nur noch dafür. Und jetzt kommen wir an einen Punkt, an dem es zu einer Bewegung wird. Ich glaube, wir haben jetzt 8.000 einzelne Mitglieder und 90 Organisationen, die mitmachen, und es gibt eine sehr spannende Veranstaltung am Samstag mit einem öffentlichen Workshop zu diesem Thema, die hoffentlich ein entscheidender Moment sein wird, in dem die Menschen erkennen, dass die einzige Möglichkeit, das Töten zu beenden, darin besteht, das Töten zu beenden. Sie haben bereits darüber gesprochen, was „Protect Palestine“ ist, aber können Sie unseren Lesern die rechtliche Situation erklären? Denn wenn man „militärische Intervention“ hört, fragt man sich natürlich sofort: Mit welcher Armee? Ja, lassen Sie uns darüber sprechen. Wir können das in zwei Teilen besprechen: ob es richtig ist und ob wir es tun können. Also zuerst: ob es richtig ist. Es gibt keine Konvention auf der Welt, die von so vielen Staaten ratifiziert wurde wie die Völkermordkonvention (Anm. d. Red.: „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ [https://www.uni-marburg.de/de/icwc/zentrum/pdfs/voelkermordkonvention.pdf]), die das völkerrechtliche Verbot des Völkermords kodifiziert und die Staaten verpflichtet, ihn zu verhindern. Staaten haben also eine rechtliche Verpflichtung, die klarste rechtliche Verpflichtung, die Staaten haben können, eine Verpflichtung, die über allen anderen steht: Sie müssen die Auslöschung von Menschen verhindern, einfach weil sie sind, wer sie sind. Richtig? Das ist ihre rechtliche Verpflichtung. Welche Mittel haben sie, um das zu verhindern? Nun, sie haben: Verurteilung durch die Vereinten Nationen. Davon hatten wir schon viele. Israel hat nicht aufgehört, es hat den Völkermord nicht verhindert. Wir haben verschiedene Arten von Konsumboykotten, an denen sich meiner Meinung nach die ganze Welt beteiligt hat, aber sie haben den Völkermord nicht gestoppt. Wir haben gerichtliche Mechanismen wie den IGH und den IStGH sowie nationale Justizmechanismen, die den Völkermord nicht gestoppt haben. Und im Jahr 2005 hat sich die ganze Welt, jeder einzelne Staat der Welt, zusammengeschlossen, um das Prinzip der „Responsibility to Protect“ [https://www.un.org/en/genocide-prevention/responsibility-protect/about] (Anm. d. Red.: „Schutzverantwortung“) zu verabschieden. Und was steht darin? Jeder hat die Pflicht, Völkermord zu verhindern. Und es wird auch klar gesagt, dass als letztes Mittel militärische Maßnahmen ergriffen werden müssen. > „Es gibt eine rechtliche Verpflichtung für Staaten, militärisch einzugreifen.“ Es ist also nicht nur nicht umstritten, über eine militärische Intervention zu sprechen, sondern es ist für Staaten nicht einmal eine Option, militärisch einzugreifen: Es gibt eine rechtliche Verpflichtung für Staaten, dies zu tun. Jeder Staat, der von der Bedeutung des Rechts oder der Rechtsstaatlichkeit spricht, kann sich also nicht der Verpflichtung entziehen, eine militärische Intervention zu unternehmen, um Völkermord unter genau diesen Umständen zu verhindern. Das sollte also nicht umstritten sein. Es ist eine rechtliche Verpflichtung. Wir können auch über die moralische Verpflichtung sprechen. Wollen wir wirklich zusehen, wie das Gemetzel weitergeht? Ich denke, die öffentliche Meinung weltweit drückt die moralische Empörung über das Geschehen aus. Es gibt eine humanitäre Verpflichtung. Wie ich bereits sagte, herrscht in ganz Gaza Hungersnot der Stufe fünf, und Hunderte von Lastwagen mit Lebensmitteln stehen bereit. Ich denke, jeder humanitäre Helfer würde sagen, dass die Lebensmittel und die Hilfe dort ankommen müssen. Und deshalb haben UNICEF, das Welternährungsprogramm, Oxfam und Dutzende andere – also diejenigen, die tatsächlich Experten für die Verteilung von Hilfsgütern sind – dies auch so gesagt. Es gibt also moralische, rechtliche und humanitäre Gründe, die für eine militärische Intervention sprechen. Nun, wer würde das tun? Ich glaube, einer der Irrtümer, in dem Menschen im Westen sich befinden, ist, zu glauben, dass sich die Welt nur um die NATO dreht. Das ist keineswegs die Sichtweise des Globalen Südens. Staaten wie Südafrika, Malaysia, Indonesien, Kolumbien, Kuba, Algerien – die Bevölkerung dieser Staaten und sicherlich auch die Staaten selbst sind tief geprägt von ihrer Erfahrung, sich von der westlichen imperialistischen Herrschaft befreit zu haben, und das hat auch ihr Selbstverständnis geformt. Denken Sie einmal darüber nach, worüber wir hier sprechen: Wir sprechen davon, dass Schiffe der Seestreitkräfte dieser Staaten Hilfsgüter liefern. Das ist heute machbar. Wenn die Freedom Flotilla mit Greta Thunberg und anderen nach Gaza fahren, obwohl sie mit hoher Wahrscheinlichkeit entführt, festgenommen und ausgewiesen werden, wenn andere, mittlerweile Hunderte von Schiffen, das tun werden, dann verstehe ich einfach nicht, warum eine staatliche Marine, die gesetzlich dazu verpflichtet ist, das nicht tun kann. Wir sprechen also hier davon, dass Marinen Hilfsgüter nach Gaza liefern. Das ist doch das Mindeste. Das ist eine militärische Intervention. Es ist militärisch, weil die Marine es tut, und es ist eine Intervention, weil man einen Völkermord verhindert. Das ist keine Kriegserklärung. Dazu noch ein wichtiger Punkt: Eines der Dinge, die deutsche und US-amerikanische Politiker ganz bewusst getan haben, ist, die Menschen glauben zu machen, dass es sich hier um einen Krieg handelt. Lassen Sie uns einen Vergleich anstellen: Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, den man als Krieg bezeichnen könnte, ist meiner Meinung nach kein Völkermord. Ich glaube nicht, dass Russland bewusst Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung begeht. Ich halte es für eine ganz klassische kriegsähnliche Situation, in der es um Territorium, Souveränität und Ressourcen geht. Als internationale Gemeinschaft sollten wir versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen, wir müssen versuchen, diesen Krieg zu beenden. Und wenn man sich diesen Krieg ansieht, sind 0,3 Prozent der Getöteten Kinder. Das ist tragisch. Kein Kind sollte jemals sterben, aber es entspricht dem, was man in einem Krieg erwarten würde. Und das liegt daran, dass der Großteil der Kämpfe von Kombattanten ausgetragen wird. Ja, sie greifen zivile Gebiete an, und Kinder sind gestorben. Das ist tragisch und abscheulich, und wir müssen das stoppen. Aber es sind 0,3 Prozent. In Gaza sind es 37,7 Prozent Kinder. Und das liegt daran, dass es kein Krieg ist. Es ist die absichtliche Auslöschung einer gefangenen Bevölkerung. Und es schockiert mich, dass die Deutschen das nicht sehen. Ich war schon mehrere Male in Deutschland und habe die Holocaust-Gedenkstätte in der Nähe der Hannah-Arendt-Straße in Berlin besucht, die sehr schönen und sehr beeindruckenden Skulpturen, die dort stehen. Hannah Arendt, deren Wissen über Völkermord und die Nazis wohl unübertroffen ist, sagte 1948 ausdrücklich [https://www.marxists.org/reference/archive/einstein/1948/12/02.htm], dass die Freiheitspartei, Vorläuferin der heutigen Likud-Partei, in ihrer Ideologie, Methodik und Philosophie den Nazis sehr ähnlich sei. Und es schockiert mich einfach, dass die Deutschen, die eine Straße nach ihr benannt haben, nicht auf sie hören. Ich glaube nicht, dass die deutsche Bevölkerung insgesamt in der Lage ist, die Palästinenser als Menschen mit den gleichen Rechten und dem gleichen Wert wie sie selbst zu sehen. Den zweiten Teil dieses Interviews können Sie hier nachlesen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137974]. Titelbild: lev radin / Shutterstock und Ousman Noor Mehr zum Thema: „Amnesty ist ein terrorverherrlichendes Hamas-Outlet“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137786] „Unsere Reise ist aber nicht nur humanitär – sie ist eine öffentliche Lektion im Recht.“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137684] „Wir können die unfassbar barbarischen Zustände nicht mehr hinnehmen.“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137711] Der Globale Süden gegen Waffenlieferungen an Israel [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137472] Zionismus im Endstadium – Ein Mythos zerbricht an der Realität [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137344] Palästina: Der Westen flüchtet sich in die Fantasie eines „virtuellen Staates“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137268] Einschüchterungskampagne gegen ICC-Chefermittler Khan wegen Haftbefehl gegen Netanjahu – Welche Rolle spielt Deutschland? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=137102]