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Im Rahmen der Reise von Bundesaußenminister Johann Wadephul nach Israel fragten die NachDenkSeiten in der Bundespressekonferenz nach, ob sich der Minister auch um einen Besuch des Gazastreifens bemüht habe. Die Antwort wollte der Sprecher des Auswärtigen Amtes nur „unter 3“, also als vertrauliche, nicht zitierfähige Hintergrundinformation geben. Ebenso kam die Frage auf, ob Wadephul die bis Stichtag 25. Juni erfolgte Tötung von 225 Journalisten in Gaza durch die IDF (seit dem 30. Juli sind es laut UN-Angaben mittlerweile 229) sowie die durch Israel verhängte Medienblockade, die verhindert, dass internationale Journalisten aus Gaza berichten, bei seinem Besuch zur Sprache bringen wird. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Seit Oktober 2023 bis Stichtag 30. Juli 2025 hat die israelische Armee im Gazastreifen laut Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten [https://www.ochaopt.org/content/reported-impact-snapshot-gaza-strip-30-july-2025] (UN-OCHA) 229 Journalisten getötet. Eine nicht nur für das 21. Jahrhundert historisch einmalige Zahl. [https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen1-1024x380.png]https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen1.png Zum Vergleich: Dem Journalistenverband der Ukraine zufolge [https://www.newsroom.de/news/aktuelle-meldungen/konflikte-56/russische-journalisten-in-ostukraine-getoetet-970625/] wurden bislang (Stichtag 25. März 2025) 28 Journalisten auf der ukrainischen Seite der Front getötet. Davon 18 ukrainische sowie ausländische Berichterstatter während ihrer Berichterstattung, zehn weitere Journalisten fielen laut dieser Quelle in ihrer arbeitsfreien Zeit Raketen- und anderweitigem Beschuss zum Opfer. Wie die Deutsche Presseagentur (dpa) mit Verweis auf eine Übersicht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass berichtet [https://www.newsroom.de/news/aktuelle-meldungen/konflikte-56/russische-journalisten-in-ostukraine-getoetet-970625/], sind durch ukrainischen Beschuss „mehr als ein Dutzend“ russischer Journalisten getötet worden: > „Seit dem Einmarsch Russlands in das Nachbarland im Februar 2022 sind (…) mehr als ein Dutzend russische Journalisten im Einsatz getötet worden“. [https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen2-1024x867.png]https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen2.png Die anhaltende Medienblockade Israels Israel hat mit Beginn seiner sogenannten „Militäroperation Eiserne Schwerter [https://www.israelhayom.com/2023/10/07/idf-launches-operation-swords-of-iron-amid-hamas-terror-onslaught/]“ am 7. Oktober 2023 eine bis heute anhaltende komplette Medienblockade und ein damit verbundenes Einreiseverbot für alle ausländischen Journalisten verhängt. Weltweiter Appell: „Wir fordern Zugang nach Gaza“ Das heißt, ausländischen Journalisten wird es seit mehr als 20 Monaten unmöglich gemacht, sich selbst ein Bild über die Lage in Gaza zu machen. Vor diesem Hintergrund veröffentlichten [https://rsf.org/sites/default/files/medias/file/2025/06/Tribune%20Gaza%20Presse%20-%20EN.pdf] 130 Medien und Pressefreiheitsorganisationen aus aller Welt am 5. Juni 2025 einen weltweiten Aufruf, initiiert von Reporter ohne Grenzen (RoG) und dem Committee to Protect Journalists (CPJ), der freien Zugang für Journalisten nach Gaza fordert. [https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen3-1024x933.png]https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2025/08/Screen3.png Hierzu erklärte [https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/rsf-cpj-und-ueber-130-medien-fordern-zugang-nach-gaza] die RoG-Geschäftsführerin Anja Osterhaus: > „Wir sehen in der fortgesetzten Medienblockade des Gazastreifens den systematischen Versuch der israelischen Seite, Fakten zu verschleiern, Informationen aus dem Krieg zu unterdrücken und die palästinensische Presse und Bevölkerung zu isolieren. Wir fordern Regierungen, Institutionen und Staatschefs auf der ganzen Welt auf, ihr Schweigen zu beenden. Sonst machen sie sich mitschuldig. Nach dem humanitären Völkerrecht ist die Tötung eines Journalisten ein Kriegsverbrechen.” Dieser Aufruf verhallte bisher in Tel Aviv ebenso ungehört wie in Berlin. Unter den insgesamt 136 Unterzeichnern findet sich bezeichnenderweise ein einziges deutsches Medium. Das wiederum ist beinahe erstaunlich, die taz. Aus Frankreich gibt es beispielsweise neun prominente Unterzeichner, darunter das dpa-Pendant Agence France-Presse sowie das Pendant zur Deutschen Welle, France24. Die Foreign Press Association (FPA – Interessenvertretung der ausländischen Journalisten, die aus und über Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete berichten) hat sich bereits mehrfach an das Oberste Gericht in Israel gewandt [https://www.haaretz.com/opinion/2025-05-04/ty-article-opinion/.premium/israel-must-let-international-journalists-into-gaza/00000196-9a3a-dc27-a3df-faba84c40000] und freien Zugang nach Gaza gefordert. Noch nie zuvor, so die FPA, habe der israelische Staat eine so lange und strenge Informationssperre verhängt. Das Gericht hat eine Entscheidung jedoch bis jetzt immer wieder mit oft fadenscheiniger Begründung verschoben. Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 30. Juli 2025 Giese (AA) Ich habe eine Reiseankündigung zu machen. Außenminister Johann Wadephul reist von morgen bis Freitag nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. In Israel wird er unter anderem mit seinem israelischen Amtskollegen Gideon Sa’ar Gespräche führen. Im Zentrum der Gespräche wird die humanitäre Katastrophe in Gaza stehen. Am Freitag wird der Außenminister Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Vereinten Nationen in Jerusalem führen, die ihn vor allem zur humanitären Lage in Gaza und ihrem Engagement vor Ort briefen werden. In Ramallah wird er Vertreter der palästinensischen Behörde treffen. Ziel der Reise ist es, genau wie vom Sicherheitskabinett vereinbart, die intensive Diplomatie in der Region fortzusetzen, um Wege auszuloten, wie die Lage in Gaza verbessert werden kann, alle Bemühungen für einen Waffenstillstand zu unterstützen und Planungen für den Tag danach in Gaza voranzutreiben. Auch die sich zuspitzende Lage im Westjordanland und die drohenden Annexionspläne Israels werden im Fokus der Reise stehen. Frage Warweg Herr Giese, Sie hatten jetzt bei den Besuchsplänen zum einen die Westbank und dann Israel erwähnt. Hat der Minister denn zumindest versucht, auch nach Gaza zu kommen? Wenn nein, aus welchen Gründen nicht? Giese (AA) Die Reiseplanung ist so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Vorsitzende Hamberger Wollen Sie „unter drei“ gehen? — Teil „unter drei“ — Anmerkung Redaktion: Der Ausdruck „unter drei“ bezeichnet im journalistischen Jargon im deutschsprachigen Raum, dass eine Aussage gegenüber Journalisten von diesen nur als Hintergrundinformation verwendet werden darf. Das Geäußerte ist somit vertraulich und darf weder per Kamera aufgezeichnet noch zitiert werden. Vorsitzende Hamberger Dann würde ich jetzt wieder „unter eins“ gehen, und alle halten sich bitte an die entsprechenden Regeln. Zusatzfrage Warweg Ich habe noch eine Nachfrage „unter eins“, was die Themen angeht. Laut UN-Angaben sind mittlerweile ja mehr als 225 Journalisten im Gazastreifen durch die IDF getötet worden. Internationale Journalisten dürfen bis zum heutigen Tage nicht nach Gaza, um von dort zu berichten. Ist denn diese Art des Umgangs mit Journalisten und auch die entsprechende Medienblockade gegenüber internationalen Journalisten ein Thema, das der Minister ansprechen will? Giese (AA) Es gab ja schon Fragen zu den Themenbereichen, die wir ansprechen werden. Ich will, wie gesagt, die Gespräche jetzt auch nicht vorzeichnen bzw. Gesprächsinhalte nicht vorwegnehmen. Aber es wird natürlich darum gehen, wie die Zustände in Gaza sind, dass es da sehr, sehr viele zivile Opfer gibt, dass die humanitären Zustände unerträglich sind, dass da viel zu viele Menschen sterben. Dabei würde ich es vielleicht belassen. Das beinhaltet natürlich auch den Umgang mit Journalistinnen und Journalisten, klar. Mehr zum Thema: Wieso hat Bundesregierung Aufruf zur sofortigen Beendigung des Gaza-Krieges nicht mitunterzeichnet? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136402] Von Damaskus bis Gaza: Die Doktrin der Vorherrschaft Israels hat einen grundlegenden Fehler [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136474] In Gaza verhungern die Menschen – wir, Deutschland, tragen eine große, nicht wiedergutzumachende Schuld [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136607] Proteste vor UN-Gebäude in Bonn und Forderung nach Entsendung einer multinationalen bewaffneten UN-Streitmacht für den Gaza-Streifen [https://www.nachdenkseiten.de/?p=136731] [https://vg04.met.vgwort.de/na/7ba8ec89184e4eb880b578f11b26bad4]

Wenn wir nicht eingreifen, könnte durch Werkzeuge wie die Software Palantir in nicht allzu ferner Zukunft eine automatisierte Sicherheitsarchitektur jeden Menschen unbemerkt erfassen – lückenlos, dauerhaft, ohne Widerspruchsmöglichkeit. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist oder statistisch „abweicht“, wird zum Verdachtsfall. Jeder Verdacht wird zur Vorverurteilung und Unauffälligkeit wird zur Überlebensstrategie. Der Einsatz von Palantir muss darum strikt begrenzt, gesetzlich reguliert und unter echte, unabhängige Kontrolle gestellt werden. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Blicken wir zunächst in Tolkiens Herr der Ringe: Dort sind die Palantíri (Singular: Palantír) magische Seh-Steine, mit denen man über große Entfernungen kommunizieren und ferne Ereignisse beobachten kann. Diese allsehenden Kugeln verleihen Wissen und Macht, bergen aber auch Gefahren: Sie zeigen nur selektive Wahrheiten und können vom Bösen missbraucht werden. Sauron etwa nutzt einen Palantír, um andere in die Irre zu führen und geistig zu unterwerfen. Tolkiens Lehre: Technik, die unkontrollierte Sicht gewährt, wird gefährlich, wenn Machthunger ins Spiel kommt. Dass sich ein modernes Überwachungsunternehmen aus dem Silicon Valley ausgerechnet Palantir nennt, ist also eine bewusste Provokation. Es suggeriert eine Vision grenzenloser Einsicht und Kontrolle über Informationen – mitsamt den ethischen Fragen, die Tolkien mit den Palantíri verknüpft hat. Neoliberal und autoritär: Die Ideologie hinter Palantir Peter Thiel, Mitgründer und Spiritus Rector von Palantir, liefert die ideologische Blaupause: Er vereint radikalen Neoliberalismus mit antidemokratischem Elitendenken. 2009 erklärte Thiel unverhohlen: „I no longer believe that freedom and democracy are compatible.“ – Freiheit und Demokratie seien nicht mehr vereinbar. Er beklagte, Wohlfahrtsstaat und Frauenwahlrecht hätten den „kapitalistischen“ Liberalismus sabotiert. Thiel misstraut dem Mehrheitsprinzip – die „unbedachte Masse“ verhindere wahre Freiheit. Stattdessen schwärmt er von einer technokratischen Eliteherrschaft: Er schätzt Denker wie Carl Schmitt (Der Führer schützt das Recht), sympathisiert mit monarchistischen Ideen und knüpft Kontakte in neoreaktionäre Kreise. Politisch finanzierte er Donald Trump und andere antiliberale Bewegungen großzügig. Gleichzeitig predigt Thiel libertären Markt-Fundamentalismus. Er propagiert, Steuern und Regulierung seien von Übel, und sagt provokativ: „Competition is for losers“ – Wettbewerb sei etwas für Verlierer. Unternehmer sollten Monopole anstreben, ungestört vom Staat. Diese Weltanschauung – libertär in der Ökonomie, autoritär in der Politik – prägt Palantirs Selbstverständnis. Passend dazu wählte man bewusst den Namen Palantir. Die Tolkien’schen Seh-Steine symbolisieren allsehende, zentrale Macht über Information. Palantir präsentiert sich folgerichtig als allwissendes Instrument für Sicherheitsbehörden – das Werkzeug, um Datenströme zu durchleuchten. CEO Alex Karp behauptet, Palantir stärke liberale Gesellschaften, ohne selbst illiberal zu sein. Doch Kritiker verweisen auf die Realität: Eine Firma mit Thiels antidemokratischer DNA und engen Verbindungen zu US-Geheimdiensten soll den „sehenden Stein“ des digitalen Zeitalters liefern. Dieser symbolische Allmachtsanspruch – totale Einsicht in alle Daten – weckt entsprechendes Unbehagen. Palantir Gotham – Architektur einer allsehenden Analyseplattform Palantir Gotham ist die Software-Plattform, die diese Vision technisch umsetzt. Ursprünglich für Geheimdienste entwickelt, dient Gotham heute als universelles Big-Data-Analysewerkzeug für Sicherheitsbehörden. Die Plattform verschmilzt heterogene Datenquellen zu einem einheitlichen sogenannten Ontologie-Modell: Das heißt, Personen, Orte, Ereignisse und ihre Beziehungen werden als verknüpfte Objekte abgebildet. Das ermöglicht eine bundesweite Suche über alle Datenbestände – ein Ermittler kann mit einer Abfrage sämtliche Polizeidatenbanken, Telefonüberwachungslogs, Internetdaten etc. gleichzeitig durchforsten. Gotham präsentiert die Treffer, führt Daten zusammen und macht Zusammenhänge in Graphen sichtbar. So entstehen digitale Netzwerke wie an einer „Pinnwand“: Mit wenigen Klicks lassen sich alle direkten und indirekten Kontakte einer Person aufspüren; zuvor verborgene Verbindungen treten zutage. Auch geografische Analysen sind integriert – etwa kann die Software alle relevanten Personen anzeigen, die sich in einem bestimmten Zeitraum im Umkreis eines Tatorts aufhielten. Diese Fähigkeiten haben Gotham den Ruf eines „digitalen Kraken“ eingebracht, der seine Daten-Tentakel überall ausstreckt. Gotham selbst bietet jedoch Mechanismen für Datenschutz-Compliance: differenziert abgestufte Zugriffsrechte, umfassende Protokollierung jeder Abfrage und optionales Maskieren sensibler Daten. Palantir betont, dass Audit-Trails und Berechtigungskonzepte fest eingebaut sind, um Missbrauch vorzubeugen. Inzwischen hat Palantir auch KI-Funktionalitäten eingebettet. Module wie Ava durchforsten automatisch die Daten nach Mustern und Anomalien. Machine-Learning-Algorithmen können etwa bei der Gefahrenprognose helfen (z.B. in Predictive-Policing-Modellen). Palantir versichert jedoch, Gotham bleibe ein „Mensch-in-der-Schleife“-System – die KI liefert nur Vorschläge, die menschliche Analytiker prüfen und freigeben. Sämtliche KI-Ergebnisse sind mit den zugrundeliegenden Rohdaten verknüpft und im Audit-Log protokolliert. So sollen Transparenz und Kontrolle gewahrt bleiben. Gleichwohl bleibt die genaue Algorithmik firmengeheim und für Außenstehende eine Blackbox. Unstrittig ist Palantirs Leistungsfähigkeit: Milliarden Datensätze lassen sich in Minuten durchsuchen, was zuvor Tage gedauert hätte. Doch auch hier gilt: Garbage in, garbage out – will sagen: Fehlerhafte oder voreingenommene Eingabedaten führen zu fehlerhaften Ausgaben. Die Software liefert Hypothesen, keine Wahrheiten. Palantir selbst sagt, man baue „Entscheidungshilfen, keine Entscheidungsautomaten“ – die Verantwortung bleibt beim Menschen. Palantir in Deutschland: Ausbreitung und verfassungsrechtliche Hürden In Deutschland ist Palantir (Stand Juli 2025) vor allem in vier Bundesländern im Polizeieinsatz. Hessen führte Ende 2017 als erstes HessenData ein – im Eilverfahren ohne Ausschreibung. Das System läuft seit 2018 und wurde als Anti-Terror-Tool beworben (ein angeblich vereitelter Anschlag 2018 wurde später angezweifelt). Nordrhein-Westfalen folgte 2020 mit DAR, das nach regulärer Ausschreibung Palantir nutzt und alle Polizeidatenbanken des Landes verknüpft. Bayern entschied sich 2022 für Palantir (VeRA) und startete 2023 einen Pilotbetrieb – zunächst ohne gesetzliche Grundlage, was der Datenschutzbeauftragte scharf kritisierte. Inzwischen arbeitet Bayern an der Gesetzesanpassung, VeRA läuft testweise mit echten Daten. Baden-Württemberg beschaffte 2023 Palantir, musste aber erst das Polizeigesetz ändern (Juli 2025), um den Einsatz zu erlauben – geplant ist ein Probelauf unter parlamentarischer Aufsicht. Damit werden ab 2025 vier Länder Palantir verwenden. Hamburg hatte zwar eine Ermächtigung für Palantir geschaffen, doch nach dem BVerfG-Urteil 2023 – das diese Norm verwarf – wurde dort kein System eingeführt. Berlin erwägt, Palantir über den bayerischen Rahmenvertrag zu beziehen, zögert aber mangels Gesetzesgrundlage noch. Auf Bundesebene hatte das BKA Palantir fest eingeplant, doch im Juli 2023 stoppte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) das Vorhaben nach dem Karlsruher Urteil. Der Bund will nun eine eigene Software entwickeln. Einige konservativ regierte Länder (Bayern, BaWü, perspektivisch Berlin) treiben Palantir zwar voran, doch die meisten Länder halten sich vorerst zurück. Rechtliche Auseinandersetzungen: Der entscheidende Präzedenzfall war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 2023. Karlsruhe erklärte die Palantir-Ermächtigungen in Hessen und Hamburg für verfassungswidrig. Grund: Die Gesetze erlaubten eine zu breite Datenanalyse ohne hinreichende Schwellen. Insbesondere fehlte die Trennung zwischen Daten tatsächlicher Verdächtiger und solcher Unbeteiligter – Letztere wurden als „Beifang“ bislang mitdurchleuchtet, was das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) forderte klare Grenzen: Nur bei konkreter Gefahr oder einem definierten Verdachtsgrad dürfen derart invasive Big-Data-Tools eingesetzt werden. Zudem müssten Daten unbescholtener Bürger technisch gekennzeichnet und besonders geschützt werden. Als Folge des Urteils musste Hessen sein Polizeigesetz nachbessern (was wiederum als unzureichend kritisiert wird). Hamburgs Norm wurde sofort aufgehoben. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF) hat inzwischen auch gegen Hessens neues Gesetz Verfassungsbeschwerde angekündigt, ebenso gegen NRW und Bayern. Die meisten Länder warten diese Verfahren ab und nehmen vorerst Abstand von Palantir. Palantir ist hierzulande zwar auf dem Vormarsch, bewegt sich aber in einem rechtlichen Graubereich, den erst Gesetzesreformen und weitere Urteile auflösen werden. Risiken: Grundrechtsbedenken, Bias und fehlende Kontrolle Grundrechte in Gefahr: Aus Sicht von Bürgerrechtlern gefährdet Palantir zentrale Grundrechte. Die Software schafft eine beispiellose Durchleuchtung persönlicher Daten – das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 Grundgesetz (GG)) und das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) sehen Kritiker massiv verletzt. Eine Plattform, die zig Datenbanken fusioniert und automatisiert auswertet, greift tief in die Privatsphäre auch Unbeteiligter ein. Das BVerfG hat betont, dass schon das maschinelle Verknüpfen von Daten einen eigenständigen schweren Grundrechtseingriff darstellt. Palantir erzeugt neue Verdachtsmomente, wo vorher keine waren – Menschen geraten allein aufgrund von Datenmustern ins Visier. So kann es Unschuldige treffen (Opfer, Zeugen, Zufallsbekanntschaften), was rechtsstaatliche Prinzipien unterläuft. Zudem befürchten viele ein Klima der Massenüberwachung: Wenn Bürger annehmen müssen, dass all ihre Kontakte, Bewegungen und Kommunikationen langfristig registriert und analysiert werden, wirkt das einschüchternd. Die Ausübung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit könnte leiden – ein weiterer Schritt hin zum Überwachungsstaat. Auch Diskriminierung durch algorithmische Verzerrungen (Bias) ist ein Risiko. Palantir wertet historische Daten aus – und diese sind oft von bestehenden Vorurteilen geprägt. Wurden etwa bestimmte Viertel jahrelang „überpoliziert“, erscheint dort statistisch mehr Kriminalität, was Palantirs Analysen dann als „Gefahren-Hotspot“ bestätigen würde. Rassistische Voreingenommenheit (Racial Bias) und andere Vorurteile könnten so fortgeschrieben werden. Ohne Transparenz über die Algorithmen bleibt unklar, welche Fehlerquellen im System wirken. Ferner kritisieren Datenschützer die Zweckentfremdung von Polizeidaten: Palantir hebt die Trennwände zwischen verschiedenen Zwecken auf. Daten, die für einen konkreten Anlass erhoben wurden, werden nun für ganz andere Zwecke genutzt – bis hin zur präventiven „Gefährder“-Suche ohne konkreten Anlass. Das verletzt das Prinzip der Zweckbindung. Schließlich ist Palantir eine Blackbox in privater Hand. Weder Öffentlichkeit noch unabhängige Stellen können nachvollziehen, wie genau das System zu seinen Schlussfolgerungen kommt. Diese Intransparenz erschwert die demokratische Kontrolle. Gleichzeitig wirft die Abhängigkeit von einem privaten US-Anbieter Fragen der digitalen Souveränität auf. Experten warnen vor möglichem US-Zugriff und einem Verlust staatlicher Hoheit über sensible Daten. Schlussbetrachtung und Ausblick Wohin führt der Weg, wenn wir nicht eingreifen? Eine dystopische Perspektive: In nicht allzu ferner Zukunft könnte eine automatisierte Sicherheitsarchitektur jeden Menschen unbemerkt erfassen, verknüpfen und bewerten – lückenlos, dauerhaft, ohne Widerspruchsmöglichkeit. Algorithmen taxieren unsere Leben in Echtzeit, erstellen Risikoprofile, identifizieren vermeintlich „auffällige“ Kontakte oder Bewegungsmuster – gespeist aus digitalen Schatten, nicht aus konkreten Taten. Die Schwelle zur Intervention sinkt: Polizeiliche Maßnahmen erfolgen dann nicht mehr auf Grundlage eines konkreten Verdachts, sondern auf Basis undurchsichtiger Rechenmodelle, die ihre Kriterien nicht offenlegen. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist oder statistisch „abweicht“, wird zum Verdachtsfall. Und wer davon betroffen ist, erfährt es womöglich nie. Die demokratische Kontrolle – parlamentarische Aufsicht, gerichtlicher Rechtsschutz, öffentliche Rechenschaft – Fehlanzeige. Entscheidungen werden von einem privat programmierten Code vorbereitet, der sich jeder politischen Verantwortung entzieht. Die offene Gesellschaft – die auf Vertrauen, Öffentlichkeit und rechtsstaatlicher Prozedur beruht – wird in eine Gesellschaft vorauseilenden Gehorsams verwandelt. Jeder Verdacht wird zur Vorverurteilung und Unauffälligkeit wird zur Überlebensstrategie. Diese Zukunft ist kein Science-Fiction-Szenario. Sie wird gebaut – mit Mitteln wie Palantir. Wenn wir nicht handeln, wird nicht nur der Datenschutz erodiert, sondern der Grundpfeiler demokratischer Gesellschaft: die Achtung vor dem Einzelnen als frei entscheidendes Subjekt. Stattdessen droht eine Welt, in der Maschinen Verdachtsmomente erzeugen und Menschen in Datenströmen verschwinden. Eine Welt, in der das Recht auf Abweichung, auf Opposition oder auch nur auf Zweifeln durch automatisierte Konformitätsmodelle ersetzt wird, verwandelt das Lebenselixier jeder Demokratie in einen giftigen Cocktail des Totalitarismus. Wer das verhindern will, muss jetzt Grenzen ziehen Eine sogenannte Sicherheitssoftware wie Palantir darf nicht als Trojaner in den Rechtsstaat einziehen. Ihr Einsatz muss strikt begrenzt, gesetzlich reguliert und unter echte, unabhängige Kontrolle gestellt werden. Keine Funktion ohne demokratische Legitimation. Keine Analyse ohne Nachvollziehbarkeit. Keine Blackbox in den Händen eines ideologisch aufgeladenen US-Konzerns mit autoritärer Schlagseite. Wir brauchen eine breite, öffentliche Debatte über digitale Souveränität und die Frage, wem wir die Macht über unsere Daten, unsere Profile und damit unser gesellschaftliches Dasein überlassen wollen. Es reicht nicht, auf technische „Lösungen“ zu vertrauen. Wir müssen politische Verantwortung übernehmen – und klarstellen: Technik hat dem Menschen zu dienen, nicht umgekehrt. Wer Sicherheit über Freiheit stellt, bekommt am Ende weder das eine noch das andere – sondern Überwachung, Willkür und eine entkernte Demokratie. Titelbild: tadamichi / Shutterstock

Ostdeutsche, also Menschen in den Bundesländern, die früher mal das Gebiet der DDR bildeten, wundern sich schon lange nicht mehr. Nüchtern wird anerkannt, dass so etwas wie eine echte, innere Einheit, eine Gleichheit gar, in der gesamten Bundesrepublik wohl nicht erreicht ist und wird. Es ist halt die Natur dieses Deutschlands, dass es bessere Deutsche und weniger bessere Deutsche gibt – die Rollenverteilung ist bekannt. Bei der Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU) war dieser Stil exemplarisch zu erleben: Bär verschwieg einfach mal so den ersten Deutschen im Weltall, den Ostdeutschen Sigmund Jähn. Ostdeutsche haben sich einzuordnen. Ein Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Der erste Deutsche im All war der Ostdeutsche Sigmund Jähn, Frau Bär! Ja, das ewige Gejammer der Ostdeutschen, ständig zu kurz zu kommen, ist schon irgendwie nervig. Doch noch nerviger ist meiner Ansicht nach, dass es fortwährend ungerechte Anlässe gibt, die dafür sorgen, dass sich Ostdeutsche mitunter berechtigt zu Wort melden und zumindest fragen: Warum passiert es, dass Westdeutsche Ostdeutschen zeigen, dass sie weniger wert, dass sie weniger erwähnenswert sind als sie selbst? Die kleine wie symbolträchtige Episode im Bundestag ist da wieder ein Anlass gewesen. In der Lokalzeitung meiner vogtländischen Heimat stand dazu: > Dorothee Bär (CSU), der Bundesministerin für Forschung, Technologie und Raumfahrt, war Merbold bei der Einbringung des von ihrem Haus aufzustellenden Einzelplans während der Haushaltsdebatte eine Erwähnung wert. „Wir müssen nicht zu Ulf Merbold in das Jahr 1983 zurückreisen – obwohl es sehr beeindruckend ist, seinen Bericht zu lesen, um festzustellen: Auch heute ist das Potenzial der Raumfahrt noch nicht ansatzweise ausgeschöpft.“ Mit diesem Satz löste die Ministerin ungewollt eine Diskussion aus: Zählen Sigmund Jähns Verdienste für Raumfahrt und Forschung in den Augen der Bundesministerin nichts, weil er zwar der erste Deutsche im All war, aber eben für die DDR unterwegs? Weiß die Ministerin überhaupt um Jähns Verdienste? > > Die Leipziger Grünen-Politikerin Paula Piechotta glaubt: Nein. Sie hielt in der Debatte Dorothee Bär entgegen: „Sie haben vom ersten Westdeutschen im All gesprochen. Da haben Sie was Wichtiges ausgelassen. Der erste Deutsche im All, der erste Ostdeutsche im All, war Sigmund Jähn – 1978. Ich finde, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung können Sie das hier auch mal sagen als bundesdeutsche Forschungsministerin.“ > > (Quelle: Freie Presse [https://www.freiepresse.de/vogtland/oberes-vogtland/ignoriert-raumfahrtministerin-dorothee-baer-die-verdienste-von-kosmonaut-sigmund-jaehn-aus-dem-vogtland-artikel13893786?ref=share_link&fbclid=IwY2xjawLuw71leHRuA2FlbQIxMQABHreoxiDsRchGhysJhtSuN2hlQnTBoVPTDlmjY-xasGidOet4NGerzf6mPdXF_aem_2FYv-H_FxsTRP51iNvVjpA]) Deutsche Geschichte ist die des Westens, Ostdeutsche eine Randerzählung? Die Zeitung fragte, ob ungewollt eine Diskussion ausgelöst wurde. Nein, Weglassen ist gängige Praxis in der Bundesrepublik, beobachte ich oft. Diese Praxis gehört wohl zum Handwerkszeug führender Akteure in unserem vereinten Land. Dorothee Bär, Ministerin für Forschung, Technologie und Raumfahrt, gehört dazu. Sie, Mitglied der Bundesregierung, Regierung für alle Deutschen, hat den Bundesbürger Ulf Merbold (Astronaut) einfach wie selbstverständlich zum ersten Deutschen im All erklärt und unterschlägt ganz und gar nicht ungewollt die Lebensleistung eines Ostdeutschen, Sigmund Jähn (Kosmonaut) aus Sachsen. Das schmerzt Ostdeutsche, die Jähn kennen und sich daran erinnern, wie er ins Weltall flog. Sie sind betroffen. Das Weglassen ist schlicht Absicht, behaupte ich, und zeigt die Selbstherrlichkeit der Akteure. Die Westdeutsche Bär beweist, was sie von ostdeutscher Geschichte hält. Nichts. Was aus dem Osten stammt, taugt eben nichts, oder? Das war vor 1989 so, das war 1990 so und ist jetzt immer noch so. Bis in die Ewigkeit? Eine permanente Aufgabe derer, die das in Beton gießen, ohne extra eine Mauer errichten zu müssen, lautet dazu: Deutsche Geschichte in den verschiedensten Bereichen wird intensiv vor allem als Geschichte der BRD, als Geschichte der Westdeutschen präsentiert. DDR, ostdeutsche Geschichte, Biografien, Leistungen, Erzählungen, Episoden bleiben schön am Rand. Sie sind zweitklassig, sind von da „drüben“. Am besten gehören die ab in den Giftschrank bundesdeutscher Archive, könnte geschlussfolgert werden. Bei allem Ärger gibt es ein Detail über Merbold und Jähn – zum Schmunzeln Nun machte die Ministerin unnötige politisch motivierte Unterschiede bei zwei Mitbürgern im einigen Deutschland – einerseits der Astronaut Ulf Merbold, andererseits der Kosmonaut Sigmund Jähn. Und ja, das ist lustig, dass im Westen beim Begriff „Kosmonaut“ gern die Nase gerümpft wird: Das heißt doch Astronaut. Nun hatten die Russen den Kosmonauten erfunden und die Amerikaner halt den Astronauten, aber Letzteres klingt schon cooler, nicht? Bär freute sich über den Westdeutschen, den Astronauten, den wahren Debütanten. Ihr sei zum Abschluss noch etwas zu den zwei Persönlichkeiten (die beide (!) herausragend für die gesamtdeutsche Geschichte sind) ans Herz gelegt: Sigmund Jähn flog 1978 als erster Deutscher ins Weltall – ja, ein Bürger der damaligen DDR. Und 1983 folgte ihm Ulf Merbold, der Westdeutsche war der zweite Deutsche im Weltall. Wundervoll. Und beide, sehr geehrte Frau Bär, Jähn und Merbold, sind tatsächlich Deutsche, sogar Ostdeutsche. Jähn lebte im sächsischen Vogtland und Merbold im thüringischen Vogtland, bevor er in den 1960er-Jahren nach Westdeutschland ging. Ich als Vogtländer sage mit einem Schmunzeln und ganz und gar uneingebildet: Ist doch was, dass die zwei ersten Deutschen im Weltall aus meiner Heimatregion stammen, nicht wahr? Titelbild: Boris15 / Shutterstock Mehr zu Sigmund Jähn Sigmund Jähns Namen soll verschwinden, weil er DDR-Bürger war [https://www.nachdenkseiten.de/?p=69678] Sigmund Jähns Name verschwindet – aus politischen Gründen. Oder: Was hat Täve Schur mit Tiger Woods zu tun? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=70300] Aus Sicht der „Sieger der Geschichte“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=73471]

Der britische Politikwissenschaftler Anatol Lieven analysiert in einem Interview die aktuelle US-Nahostpolitik und globale Sicherheitsherausforderungen. Er übt scharfe Kritik an Trumps reaktiver Politik und dem Einfluss der Israel-Lobby. Darüber hinaus thematisiert Lieven, dass die regelbasierte Weltordnung erodiert, die BRICS-Staaten an Bedeutung gewinnen und westliche Eliten existenzielle Bedrohungen wie den Klimawandel zu wenig beachten. Das Interview mit Anatol Lieven führte Éva Péli. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Éva Péli: Die neue Nahostpolitik Trumps wird von manchen als „Daddy‘s Politik“ bezeichnet. Mark Rutte sagte, Trump sei wie ein Vater, der eingreift, wenn „zwei böse Jungs“ wie Iran und Israel streiten. Ist das die neue Form der US-Politik in der Welt, ein Kinderspielplatz, auf dem der Vater interveniert? Anatol Lieven: Ich hoffe es in gewisser Weise, denn Europa hat seine eigene Sicherheit oft genug komplett durcheinandergebracht. Vielleicht brauchen wir wirklich jemanden, der uns mal auf den Kopf haut. Im Nahen Osten macht Trump eine spontane Politik. Seine Härte gegenüber Israel, indem er sie zum Stopp aufforderte, war überraschend und untypisch – sonst tat das niemand, außer vielleicht im Hinblick auf den Iran. Ob das jedoch weiterführt, ist unsicher. Obwohl Trump seine Positionen erstaunlich gut ohne politischen Preis ändern kann, ist es diesmal anders: Die Israel-Lobby auf der anderen Seite ist nicht nachsichtig mit Präsidenten, die Israel herausfordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Trump starken Druck auf das Land in der Palästinenserfrage ausübt, auch weil er 2028 nicht wieder kandidiert und kein ernsthaftes Interesse daran hat. Doch seine Impulsivität und Wut könnten gefährlich werden; die USA hatten immer enormen Einfluss auf Israel, die Macht ist da. Ich bin zwar pessimistisch, aber es gibt vielleicht eine kleine Chance. Diese starke Rolle der Israel-Lobby wird ja oft diskutiert. Eine Expertin in der ARD meinte sogar, Trumps Handlungen basierten im Grunde darauf, dass Israel ihn antreibt. Wie sehen Sie das im Vergleich zu früheren US-Regierungen, etwa Obama oder Biden? Obama wehrte sich nur beim Atomabkommen mit dem Iran und stieß dabei auf enormen Widerstand. Biden unternahm nichts, um Israel in Schach zu halten, abgesehen von vereinzeltem Widerstand im Pentagon gegen einen tatsächlichen Krieg mit dem Iran. Dass die USA diesmal nicht eingriffen, um Israels Angriffe auf den Iran zu stoppen, lag wohl an Israels demonstrierter technologischer Überlegenheit, die das Risiko minimierte. Doch auch hier gibt es Grenzen: Netanjahu wollte, dass Trump den Iran unendlich bombardiert und zerstört – das wollte Trump nicht. Er ist auch nicht bereit, mehr US-Truppen in den Nahen Osten zu schicken. Der Einfluss der Israel-Lobby ist riesig, aber nicht absolut. Trump ist manchmal in der Lage, Widerstand zu leisten, besonders wenn es um den Schaden für ihn selbst oder die USA geht. Er glaubt nicht, dass eine fortgesetzte Luftkampagne gegen den Iran gut für ihn oder sein Land wäre. Die israelisch-US-amerikanischen Angriffe auf den Iran werfen die Frage nach dem Zusammenbruch der bisherigen Weltordnung und dem Aufkommen einer neuen, multipolaren Ordnung auf. Welche Rolle spielen diese Angriffe in diesem Prozess, und wie beurteilen Sie deren Auswirkungen auf die Entwicklung anderer Machtzentren? Im Hinblick auf Prestige und Image ist dies die größte Niederlage für den Westen und dessen Vorstellung einer regelbasierten Ordnung und des Völkerrechts. Es war eine riesige Demütigung für Europa, das sich wieder einmal als impotent und sprachlich unfähig erwiesen hat, ohne echte Politik dahinter. In einem verzweifelten Versuch, das völkerrechtswidrige israelische Verhalten zu rechtfertigen, gibt es in Deutschland nun die Aussage, israelische Bomben und Massaker seien legitim oder besser, weil Israel eine Demokratie ist. Das impliziert, eine demokratische Bombe, die einem Kind die Beine abreißt, täte dies irgendwie auf eine bessere Weise als jede andere. Der Rest der Welt sieht dies als die alte Version der europäischen Imperien, die glaubten, das Recht zu haben, zu massakrieren, weil die Opfer „Wilde“ waren. Das kommt in Indien oder Afrika nicht gut an, selbst bei Ländern, die sich prinzipiell als Partner des Westens sehen. Ich denke, das war die größte Niederlage für uns, und noch größer eigentlich für die Europäische Union. Die USA waren letztendlich immer eine realistische Macht, die das in ihrer Rhetorik zu rechtfertigen versuchte. Aber die Europäische Union sollte ganz auf Regeln und Ideologie basieren, und diese liegen jetzt, was den Rest der Welt betrifft, in Trümmern. Was Russland betrifft, ja, das ist offensichtlich eine Niederlage. Russland konnte dem Iran wegen des Ukraine-Krieges nicht helfen, und die Luftverteidigungssysteme, die Russland dem Iran gegeben hatte, wurden von den Israelis ausgelöscht. Welche langfristigen Auswirkungen sehen Sie daraus für die globale Ordnung, insbesondere im Hinblick auf die Zukunft von BRICS? Meine Einschätzung ist, dass die jüngsten Entwicklungen – die wahrgenommene Ohnmacht des Westens und die Enttäuschung über dessen vermeintlich regelbasierte Ordnung – die BRICS-Gruppe langfristig stärken werden. Das bedeutet zwar nicht, dass Indien und China zu vollwertigen Verbündeten avancieren, doch die Verschiebung der globalen Dynamik ist unverkennbar. BRICS ist kein straffes Bündnis, eher eine Bewegung. Beim letzten BRICS Academic Forum zeigte sich klar, dass Indien BRICS anders sieht als Russland, China und Südafrika. Brasilien war unentschieden, andere abwartend. Das ist keine Niederlage für BRICS, aber eine riesige Niederlage für die Vereinten Nationen, die letzte in einer langen Reihe. Was China betrifft: Die US-amerikanische Vorstellung einer „Allianz der autoritären Staaten“ – Russland, China, Iran und Nordkorea als enges Bündnis – ist lächerlich. Die Chinesen haben privat wie öffentlich immer klargestellt: „Wir sind keine Verbündeten der Iraner. Wir werden sie in ihrer Politik nicht unterstützen oder ermutigen. Wir glauben an Stabilität im Nahen Osten und am Golf.“ Dafür gibt es gute wirtschaftliche Gründe, da sie von Öl und Gas aus der Region abhängen. Es geht nicht um eine gescheiterte militärische Beziehung zum Iran. Ich denke, es wird den Chinesen helfen, anderen Ländern, inklusive Indien, zu sagen: „Seht, wir wollen hier Stabilität, aus den gleichen Gründen wie ihr. Wir wollen Frieden und Stabilität im Nahen Osten, wir wollen die Sicherheit der Ölexporte. Seht, wer das stört, wer all unsere wirtschaftlichen Interessen durch seine verrückte Politik schädigt.“ Indien hängt auch stark von Öl aus dem Golf, Iran und Russland ab. Können Sie die gespaltene Haltung Neu-Delhis genauer beleuchten? Die indische Perspektive ist vielschichtig. Einerseits gibt es unter hinduistischen Nationalisten und Modi-Anhängern Sympathien für Israel, oft getragen von einer Ablehnung gegenüber Muslimen. Diese Fraktion schätzt Israels Vorgehen, da sie sich ein ähnliches Vorgehen gegenüber Pakistan wünschen würde, wäre dieses nicht nuklear bewaffnet. Andererseits besteht jedoch selbst innerhalb desselben politischen Lagers ein starkes Bewusstsein für Indiens vitale Interessen am Golf. Indien hat dort den strategisch wichtigen Hafen in Chabahar (Iran) gebaut, der glücklicherweise von den jüngsten US-amerikanischen und israelischen Angriffen verschont blieb. Indien betrachtet den Iran als sehr wichtigen Partner und eine essenzielle Route für indische Exporte nach Zentralasien, in die Türkei und nach Europa. Die Tatsache, dass die USA und Israel ohne Konsultation gehandelt haben und Indien machtlos war, erzeugt ein tiefes Gefühl der Demütigung. Die wahrgenommene Ignoranz der USA gegenüber Indien ist ein wiederkehrendes Muster, das selbst bei Anhängern der Modi-Regierung zunehmend Unmut hervorruft. Das klingt nach einer wachsenden Distanzierung vom Westen. Sehen Sie BRICS in diesem Kontext als eine Art Gegenpol oder sogar als eine Alternative zu bestehenden internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen? Ich erwarte nicht, dass BRICS zu einem militärischen Bündnis heranwachsen wird. Doch ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass bei einem kompletten Zusammenbruch der Beziehungen zwischen den USA und China die Vereinten Nationen irgendwann kollabieren könnten. In einem solchen Szenario könnte BRICS als alternative Plattform für internationale Konsultationen und Friedensbemühungen vorgeschlagen werden. Dies ist zwar noch Zukunftsmusik, jedoch eine reale Möglichkeit. Es wäre dann eher eine Plattform wie die Vereinten Nationen, kein echtes Bündnis, da die Interessen der Mitglieder, wie Brasilien und Indien, zu heterogen sind, um sich militärisch gegen andere zu verbünden. Und gegen wen auch? Welche neuen oder reformierten multilateralen Formate und Strukturen sind erforderlich, um echte Sicherheit, Frieden und Stabilität zu fördern, besonders in Regionen wie Osteuropa, die erhebliche geopolitische Spannungen erlebt haben? Nun, was Europa betrifft, habe ich meine eigene Idee, es ist der „Lieven-Plan“. Die grundlegende Idee ist, einen vollkommen neuen Konsultationsprozess für Europa zu schaffen, und zwar unter dem Dach des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Der Knackpunkt ist, dass Russland in jedem anderen Format, das wir bisher hatten oder uns vorstellen könnten, hoffnungslos in der Unterzahl wäre. Das haben wir bei der OSZE und dem NATO-Russland-Rat gesehen – diese Formate sind gescheitert. Der UN-Sicherheitsrat ist der einzige Ort, an dem Russland als gleichberechtigter Akteur am Tisch sitzt. Das heißt, der UN-Sicherheitsrat ist die notwendige Klammer, um Russland einzubinden. Aber was ist mit den USA und anderen wichtigen globalen Akteuren? Absolut. Man kann die USA aus der europäischen Sicherheit nicht ausschließen. Nicht nur die US-Amerikaner selbst, sondern auch alle kleineren Länder in Europa würden darauf bestehen, dass die USA dabei sind. Wenn Sie ein Komitee unter dem UN-Sicherheitsrat schaffen, sind die USA dabei, und China ist dabei. Das ist entscheidend, um ein echtes Gleichgewicht und eine breitere Perspektive zu gewährleisten. Wie würden Sie dann andere wichtige Akteure, insbesondere aus Europa, einbeziehen, die nicht ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind? Die Frage ist natürlich, wie man beispielsweise Deutschland einbezieht, das selbstverständlich auch dabei sein muss. Meine Idee wäre, klar zu sagen: Wir nehmen Deutschland auf. Die größte europäische Wirtschaft muss einfach dabei sein. Ich weiß, die Polen werden wütend sein, aber… Das ist eine Realität, die wir anerkennen müssen. Was ist mit anderen globalen Akteuren, vielleicht über die traditionellen westlichen Mächte hinaus? Ja, genau. Man könnte entweder über eine Einbindung der BRICS-Staaten in irgendeiner Funktion nachdenken, oder man sagt: Jedes größere Land, das bereit ist, eine signifikante Anzahl von Friedenstruppen in die Ukraine zu entsenden – und somit seine Leute vor Ort hat –, muss ein Mitspracherecht haben. Das würde als reiner Beratungsausschuss für die Ukraine beginnen, dann später auch andere Sicherheitsfragen einbeziehen. Wenn Indien und Brasilien bereit wären, diesen Beitrag zu leisten, dann nimmt man sie ebenfalls auf. Solche Gremien könnten jedoch zu groß und unüberschaubar werden. Wie würden Sie das vermeiden? Man muss aufpassen, dass es nicht zu groß wird. Sonst wird es unüberschaubar, da haben Sie recht. Aber ich muss auch, und das sage ich mit echter Scham als Europäer, anerkennen, dass wir immer und immer wieder versagt haben, unsere eigene Sicherheit zu regeln oder den Frieden auf unserem Kontinent zu erhalten. Vielleicht sollten wir tatsächlich anderen Menschen ein Mitspracherecht einräumen. Wir kriegen es verdammt noch mal nicht hin. Sie haben ein Buch über den Klimawandel geschrieben und äußern sich besorgt über die Prioritäten bei internationalen Treffen, insbesondere im Hinblick auf die Arktis. Können Sie das näher erläutern? Es ist für mich unvorstellbar, dass bei internationalen Treffen über die Arktis und den Klimawandel andere Arktis-Anrainerstaaten nicht teilnehmen werden, wenn die Russen – das bei Weitem größte Arktisland – eingeladen werden. Glauben diese Leute wirklich, dass die grönländische Eiskappe oder der arktische Permafrost sich um den Krieg in der Ukraine oder unsere Prinzipien des internationalen Rechts kümmern? Sie werden ungeachtet unserer Prinzipien vorgehen. Das ist eine physikalische Realität, die sich nicht von Politik beeinflussen lässt. Sie sprechen auch eine beunruhigende Tendenz in Sicherheitskreisen an, die die Schmelze des Arktiseises primär als eine Bedrohung durch vermehrten Schiffsverkehr russischer und chinesischer Schiffe sehen. Ja, das ist entsetzlich. Es gibt jetzt Leute in der ehemaligen Trump-Regierung und in der Sicherheitswelt, auch hier in Europa, all diese Beiträge von Think Tanks über das Schmelzen des Arktiseises, und die große Bedrohung sei, dass mehr russische und chinesische Schiffe fahren können – wie übrigens auch unsere eigenen. Und sie denken tatsächlich, dass dies die größte Bedrohung für die westliche Sicherheit ist. Verglichen mit dem Anstieg der Temperaturen, dem Anstieg des Meeresspiegels, der Gefahr eines außer Kontrolle geratenen Klimawandels, Dürre und Hungersnot in Afrika und Südasien und den Auswirkungen davon ist das schlichtweg absurd. Es gibt einen prägnanten Begriff aus der Geschichtsschreibung, ich meine von Arno J. Mayer, der die Situation der „Residual-Eliten“ beschreibt. Mayer sprach von den europäischen Aristokratien des 19. Jahrhunderts, die dem Militarismus und einem überholten Ehrbegriff verhaftet blieben. Obwohl sie tief in den westlichen und besonders den militärischen Establishments verwurzelt waren, hatte ihre Denkweise die neuen Realitäten der Kriegsführung von 1914 schlichtweg nicht erfasst. Sie zogen mit gezücktem Schwert und in Kavallerieangriffen ins Feld – und wurden gnadenlos niedergemäht. Ich sehe hier eine bemerkenswerte Parallele zur Gegenwart: Unsere heutigen Eliten, speziell im Sicherheitsbereich, scheinen mental unfähig zu sein, sich an die wahren und komplexen Bedrohungen unserer Gesellschaften anzupassen. Es ist, als würden auch sie weiterhin mit den Mitteln von gestern gegen die Herausforderungen von morgen ankämpfen. Das heißt, Sie sehen eine Art intellektuelle Lähmung angesichts der drängendsten Probleme? Ja, absolut. Ich bin überzeugt, dass sich das ändern wird, sobald die Auswirkungen des Klimawandels unübersehbar und erdrückend werden. Meine große Sorge ist jedoch, dass wir bis dahin wertvolle Jahre verlieren – Jahre unzureichenden Handelns, in denen wir lieber Geld für Panzer ausgeben, statt den Klimawandel zu bekämpfen. Wenn wir diesen Kurs beibehalten, könnte es zu spät sein, um katastrophale Schäden abzuwenden. Die Veränderung wird kommen, aber der Versuch, die festgefahrene Denkweise westlicher Sicherheitsinstitutionen zu ändern, ist extrem schwierig. Und die Kluft zwischen Rhetorik und tatsächlichem Handeln ist auch ein zentraler Punkt Ihrer Kritik? Es gibt eine komplette Diskrepanz zwischen Sprache und Verhalten. Irgendwann haben alle europäischen Regierungen, Präsident Biden, die US-Armee und viele Think Tanks den Klimawandel als existenzielle Bedrohung bezeichnet. Aber haben sie ihn auch so behandelt? Offenbar halten sie die russische oder ukrainische Kontrolle über Saporischschja für wichtiger als die reale Bedrohung, dass Hamburg unter dem Meer verschwinden könnte. Ich werde es Ihnen immer und immer wieder sagen, solange Sie mich freundlicherweise interviewen. Die historische Perspektive: Was werden unsere Nachfahren sagen? Sie blicken auch 100 Jahre in die Zukunft und fragen, wie unsere Nachkommen unsere heutigen Prioritäten beurteilen werden. Genau. Hundert Jahre später sind wir uns heute einig, dass der Erste Weltkrieg aus niemandes Sicht eine gute Idee war – weder aus deutscher, russischer noch österreichisch-ungarischer. Nur die Vereinigten Staaten profitierten. Damals dachten all diese Institutionen, sie handelten rational und auf Basis vernünftiger Berechnungen. Heute empfinden wir, sie waren verrückt. Sie haben die wahren Bedrohungen für ihre Gesellschaften, wie interne Desintegration und die Natur der Kriegsführung, völlig missverstanden. Ich frage mich immer wieder, ob wir nicht 100 Jahre vorausschauen können, um unsere Nachkommen – unsere Urenkel im Jahr 2125 – zu fragen: Werden sie wirklich sagen, dass die ukrainische NATO-Mitgliedschaft die größte Sicherheitsbedrohung für Europa war? Das ist lächerlich. Natürlich nicht. Es wird, je nach Entwicklung, sicherlich der Klimawandel sein, aber es könnte durchaus auch die Künstliche Intelligenz sein, die sich als die wahre existenzielle Bedrohung erweist. Anatol Lieven, ich bedanke mich für das Gespräch. Über den Interviewpartner: Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, D.C. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King’s College London. Vor einem Jahr haben wir mit ihm auch ein Interview geführt: Anatol Lieven: „Wenn ihr nette Barbaren seid, lassen wir euch in Ruhe“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=119014] Titelbild: Shutterstock / NMK-Studio Mehr zum Thema: Anatol Lieven: „Wenn ihr nette Barbaren seid, lassen wir euch in Ruhe“ [https://www.nachdenkseiten.de/?p=119014] Wird eine NATO-Nuklearübung Putin wirklich abschrecken? [https://www.nachdenkseiten.de/?p=123280] „Einen Weltkrieg mit Atomwaffen unter allen Umständen verhindern!“ – Exlusiv-Interview mit Dmitri Trenin [https://www.nachdenkseiten.de/?p=121947] Wie das russische Establishment das Ende des Krieges wirklich sieht [https://www.nachdenkseiten.de/?p=120792] [https://vg01.met.vgwort.de/na/fe085941326e4d7eb65dfab964aae072]

Es beginnt mit einem Gedanken: „Ich mache das nur zur Sicherheit.“ Ein Selfie für die Bank, ein Fingerabdruck für die Gesundheits-App, ein kurzer Scan für den Login bei der Rentenkasse. Alles per Smartphone, alles bequem. Und angeblich alles sicher. Doch je tiefer man blickt, desto klarer wird: Das Smartphone ist keine Schutzmauer, es ist ein Einfallstor. Von Günther Burbach. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die große Selbsttäuschung Wir alle tragen unsere Smartphones mit uns, Tag und Nacht. Sie sind Kamera, Notizbuch, Geldbörse, Terminplaner, Kreditkarte, Zeitung, TV-Gerät, Behördengang in einem. Wir entsperren sie mit unserem Gesicht, lassen sie unsere Stimme erkennen, erlauben ihnen Zugriff auf Standort, Kontakte, Mikrofon, Gesundheitsdaten. Es ist der intimste digitale Spiegel unseres Lebens. Und gleichzeitig der am schlechtesten geschützte. Warum also wird ausgerechnet dieses Gerät als Plattform für Sicherheit verkauft? Die Antwort ist unbequem: Weil es den Anbietern dient. Nicht Ihnen. Die neue Abhängigkeit Früher gingen wir mit dem Ausweis zur Bank. Heute verlangt die Bank, dass wir unser Smartphone nutzen. Mit Kamera. Mit Gesichtsscan. Mit einer App, deren Anbieter wir nicht kennen. FortiToken, WebID, Nect, Verimi – Plattformen, die zwischen uns und unsere Bank, unsere Versicherung, unsere Steuererklärung geschaltet sind. Sie speichern Daten. Sie übertragen sie. Und manchmal weiß nicht einmal die Bank, was genau dort verarbeitet wird. Die Datenspeicherung erfolgt häufig in der Cloud, oft auf Servern in den USA, manchmal in Europa, selten nachvollziehbar. Der berüchtigte US CLOUD Act erlaubt es US-Behörden, auf Daten zuzugreifen, die von US-Unternehmen gespeichert werden, auch wenn diese physisch in Europa liegen. Das bedeutet: Wer etwa Fortinet nutzt, einen US-Anbieter, und gleichzeitig glaubt, seine Daten seien durch die DSGVO geschützt, irrt. Der Mythos vom sicheren Handy Smartphones sind keine geschützten Container. Sie sind Schnittstellen. Sie installieren eine App, und Sie geben ihr Rechte: Zugriff auf Kamera, Standort, Kontakte, Speicher, Netzwerkstatus, Telefonfunktion. Viele Banking-Apps verlangen Zugriff auf das Mikrofon. Warum? Viele TAN-Apps lesen SMS mit. Andere dürfen Bildschirminhalte erfassen. Noch andere verwenden die Kamera auch im Hintergrund. Und all das auf einem Gerät, das per Bluetooth, WLAN, Mobilfunk pausenlos mit Servern kommuniziert. Sicher? Nein. Offen wie ein Scheunentor. Nur schön verpackt. Online-Banking: Komfort statt Kontrolle Es ist bequem. Man öffnet seine Banking-App, scannt den QR-Code, tippt eine TAN, bestätigt per Gesicht. Doch wer liest sich schon die AGB der App durch? Wer prüft, welche externen Dienste sie verwendet? Wer weiß, ob diese App auf deinem Smartphone Root-Zugriff erkennt, oder ob sie sich von böswilliger Software manipulieren lässt? Aktuelle Untersuchungen zeigen: Die meisten Banking-Apps sind voller Schwachstellen. Im Schnitt enthalten sie 50 bis 80 potenzielle Sicherheitslücken, darunter Zugriff auf sensible Systemfunktionen. In einer Welt, in der Trojaner wie „Godfather“ oder „BlackRock“ gezielt auf mobile Bankdaten zielen, ist Ihr Smartphone ein offenes Ziel. Hinzu kommt: Push-TANs, die vermeintlich so sicher sind, laufen über denselben Kanal wie der Angriff. Wer Ihr Gerät kompromittiert, hat beides: die Banking-App und die TAN. Der stille Kontrollverlust Je mehr Sie über Ihr Smartphone autorisieren, desto weniger kontrollieren Sie. Sie nutzen das Handy für Behördengänge, für das Impfzertifikat, für die Gesundheitsakte, für Steuern, für Vertragsabschlüsse, für die Altersvorsorge. Alle Daten, alle Berechtigungen über ein einziges Gerät. Ein Diebstahl reicht. Eine Malware. Ein kompromittierter App-Zugriff. Schon ist nicht nur Ihr Geld in Gefahr, sondern Ihr gesamtes digitales Leben. Und schlimmer: Sie merken es oft nicht einmal. Moderne Schadsoftware läuft unsichtbar. Sie erstellt Schatten-Apps, kopiert Bildschirmdaten, greift Tastatureingaben ab, aktiviert Mikrofone. Und Sie denken, Sie haben alles im Griff. Das Smartphone als Trojanisches Pferd Was wir als Werkzeug der Freiheit begreifen, ist in Wahrheit ein Trojanisches Pferd. Es bringt nicht uns in die Welt, sondern die Welt in uns. Mit jeder App, die wir installieren, öffnen wir Türen. Hinter jeder App stehen nicht nur Entwickler, sondern ganze Analyseketten, die unser Verhalten aufzeichnen, Muster erkennen, Verhaltensvorhersagen erstellen und im Zweifel an Dritte verkaufen. In der Realität bedeutet das: Ihre Interaktionen, Ihre Gewohnheiten, Ihre Wege, Ihre Käufe, Ihre Bewegungen – alles wird protokolliert. Ein Bewegungsprofil sagt mehr über Sie als Ihr Tagebuch. Und Ihr Smartphone schreibt dieses Profil jeden Tag, automatisch, unaufgefordert. Der Datenschutz als Placebo Viele Nutzer beruhigen sich mit dem Hinweis auf die DSGVO. Doch in der Praxis ist die Datenschutz-Grundverordnung ein Placebo, solange die Architektur der Technik unberührt bleibt. Denn selbst wenn Sie einer App bestimmte Berechtigungen entziehen, kann sie durch andere Schlupflöcher auf Daten zugreifen oder sich über fremde Dienste, Software Development Kits (SDKs), Werbung oder Hintergrundprozesse Zugang verschaffen. Außerdem: Die DSGVO greift nicht in außereuropäischen Rechtsräumen. Nutzt eine App Server in den USA oder Dienstleister aus Drittstaaten, sind Ihre Daten nur so sicher, wie es der schwächste Punkt in dieser globalen Kette erlaubt. Und der ist oft schwach. Wer profitiert wirklich? Nicht Sie. Profiteure sind: * Plattformanbieter, die Identitätsdienste verkaufen * App-Entwickler, die aus jedem Klick ein Profil erstellen * Analysefirmen, die Nutzerverhalten auswerten * Cloudanbieter, die aus Daten Besitz machen * Sicherheitsbehörden, die jederzeit zugreifen können Sie selber sind dagegen Produkt und Risiko in einem. Was tun? Zunächst: Vertrauen Sie Ihrem Smartphone nicht. Es ist kein Sicherheitswerkzeug. Es ist ein Werkzeug der Bequemlichkeit und der Kontrolle. Zweitens: Nutzen Sie separate Geräte für Banking, für TANs, für Identität. Lassen Sie nicht alles auf einem Gerät laufen. Drittens: Fordern Sie Alternativen. Schriftliche Verfahren. Post-Ident. Vor-Ort-Verifikation. Offline-Tokens. Hardware-Schlüssel. Viertens: Machen Sie anderen bewusst, wie tief diese Gefahr reicht. Sprechen Sie darüber. Schreiben Sie darüber. Wehren Sie sich gegen eine Zukunft, in der Ihre gesamte Existenz von einem einzigen digitalen Schlüsselbund abhängt. Denn es gibt nichts Unsichereres als ein Gerät, das alles kann und alles weiß. Und nichts Gefährlicheres als eine Gesellschaft, die genau das als Fortschritt verkauft. Quellenangaben 1. BAI – Bank Administration Institute (2025): Analyse zu Sicherheitslücken in Banking-Apps. Rund 88 % der geprüften mobilen Banking-Apps enthielten mindestens eine Schwachstelle, im Schnitt 55 pro App [https://www.bai.org/banking-strategies/security-vulnerabilities-are-common-in-bank-mobile-apps/] 2. Zimperium Labs (Juni 2025): Bericht zur „GodFather“-Malware, die echte Banking-Apps in eine virtuelle Umgebung lädt, um Nutzerdaten auszuspähen [https://www.bankinfosecurity.com/godfather-malware-turns-real-banking-apps-into-spy-tools-a-28740] 3. TechRadar (Juli 2025): Überblick über Angriffe auf Hunderte Banking- und Krypto-Apps durch Virtualisierungstechniken [https://www.techradar.com/pro/security/mobile-banking-users-beware-godfather-malware-is-now-hijacking-official-bank-apps] 4. The Hacker News (Juni 2025): Bericht über eine neue Welle von Android-Malware, darunter Banking-Trojaner mit Overlay-Technik [https://thehackernews.com/2025/06/new-android-malware-surge-hits-devices.html] 5. Touchlane (Februar 2025): Beitrag zu den häufigsten Schwachstellen in mobilen Anwendungen, insbesondere in Finanz-Apps [https://touchlane.com/common-mobile-application-vulnerabilities-2025/] 6. arXiv.org (2022): Studie zur Sicherheit von globalen Android-Banking-Apps in 83 Ländern, über 2.000 identifizierte Schwachstellen [https://arxiv.org/abs/1805.05236] 7. CybelAngel Blog (2025): Analyse über den wachsenden Zusammenhang zwischen Cyberkriminalität und Bankensektor – besonders bei kleineren Banken [https://cybelangel.com/banking-cybercrime-2025/] 8. The Financial Brand (2025): Beitrag über mangelndes Risikobewusstsein bei Nutzern von Banking-Apps trotz steigender Gefahren [https://thefinancialbrand.com/news/mobile-banking-trends/the-silent-alarm-on-mobile-banking-apps-just-went-off-190162/] 9. Europol (2025): Analyse zu biometrischen Sicherheitslücken und deren langfristiger Bedrohung für die Identitätssicherheit [https://www.europol.europa.eu/cms/sites/default/files/documents/Biometric-vulnerabilities.pdf] 10. arXiv.org (2024): Untersuchung zur Sicherheitslage mobiler Bank-Apps im westafrikanischen Raum – zeigt globale Dimension des Problems [https://arxiv.org/abs/2411.04068] Diese Quellen belegen die zentralen Aussagen des Artikels zur Unsicherheit mobiler Endgeräte im Bereich Banking, Identifikation und digitaler Authentifizierung. Alle verlinkten Inhalte wurden manuell geprüft und sind öffentlich einsehbar. Titelbild: Shutterstock / Patdanai