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3146 Folgen![episode Julian Assange in seiner Heimat Australien angekommen artwork](https://cdn.podimo.com/images/0b607739-f007-4754-b49a-50f4be9e7202_400x400.png)
Julian Assange in seiner Heimat Australien angekommen
Julian Assange ist vor kurzer Zeit in der australischen Hauptstadt Canberra angekommen [https://www.abc.net.au/news/2024-06-26/julian-assange-touches-down-in-australia/104025444], wo er von seiner Familie und Unterstützern erwartet [https://x.com/Stella_Assange/status/1805912602482291195/photo/1] wurde. Zuvor hatte er sich in den frühen Morgenstunden vor einem US-Gericht auf den Marianen in einem Punkt der Anklage gegen ihn für schuldig erklärt. Verurteilt wurde er zu 62 Monaten Haft, genau die Zeit, die er im Vereinigten Königreich auf 6 m² inhaftiert war. Er hat das Gericht dann als freier Mann verlassen und sich im von der australischen Regierung gecharterten Flugzeug auf den Weg nach Australien gemacht. Die NachDenkSeiten hatten gestern über diese plötzliche Wendung [https://www.nachdenkseiten.de/?p=117180] im Fall Assange berichtet. Von Moritz Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Im August letzten Jahres war es die US-Botschafterin in Australien, Caroline Kennedy, die die jetzt erfolgte Verständigungsvereinbarung als Möglichkeit erwähnte. Dies hatte wohl auch damit zu tun, dass die damals neugewählte Labour-Regierung die erste australische Regierung war, die sich aktiv für die Freilassung von Julian Assange einsetzte.
Es war nicht immer ganz klar, ob es sich bei den Forderungen von Premierminister Anthony Albanese nur um Lippenbekenntnisse handelte, aber anscheinend wurde der Fall Assange von der australischen Regierung wirklich vorangetrieben. Dies wiederum lag auch daran, dass eine große Mehrheit der Australier die Behandlung ihres Mitbürgers Assange als unmenschlich und unnötig betrachtete. Zu dieser Einstellung haben sicher auch die seit Jahren zunehmenden Solidaritätsbekundungen für Julian Assange beigetragen. Die Free-Assange-Kampagne ist weltweit aktiv und NachDenkSeiten-Leser und -Gesprächskreisteilnehmer und -organisatoren waren seit Jahren aktiv für Julian Assange und die Pressefreiheit auf der Straße. Dafür von mir als Medienschaffendem ein herzlicher Dank!
Es fühlt sich für mich immer noch surreal an, dass der 13 Jahre währende Albtraum von Julian Assange jetzt ein so schnelles Ende gefunden hat. Seit 2018 war er zunehmend von der Außenwelt isoliert. Die damals neue ecuadorianische Regierung hatte seine Internet- und Telefonverbindung in ihrer Botschaft gekappt und im Winter 2018/19 war ihm auch noch die Heizung abgedreht worden. Einige Monate, bevor der Rauswurf aus der Botschaft erfolgte, hatte man ihm sein Rasierzeug weggenommen, sodass der Welt im kurzen Film der Verschleppung [https://www.youtube.com/watch?v=IilqHAhO2ig] aus der Botschaft ein ungepflegter Waldschrat präsentiert wurde, der allerdings immer noch laut „UK must resist!“ (Das Vereinigte Königreich muss Widerstand leisten!) rufen konnte.
Am Anfang der Inhaftierung im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh drangen noch sehr vereinzelt Fotos von ihm an die Öffentlichkeit, aber in den letzten Jahren war es, als sei Julian Assange in einem schwarzen Loch gelandet, isoliert auf 6 m², über 20 Stunden am Tag, mit streng reglementierten und unregelmäßigen Besuchen von Freunden und Verwandten. Wohlgemerkt: Julian Assange war die meiste Zeit in Belmarsh, bis auf die ersten 25 Wochen nur Untersuchungshäftling in Belmarsh. Am Anfang war es noch eine Haftstrafe für die Flucht ins Botschaftsasyl, die mit 50 Wochen Haft (25 Wochen wegen guter Führung) fast maximal bestraft wurde. Nun gibt es plötzlich auf allen Kanälen wieder Fotos von ihm, als aus der Versenkung Aufgetauchter.
Vor dem Prozessauftakt 2020 hatte Julian Assange nur lückenhafte Prozessunterlagen. Die Behörden schienen zu dieser Zeit die Covid-Kontaktbeschränkungen gerne gegen ihn zu nutzen. Auf der Besuchergalerie im Old-Bailey-Gericht waren nur 5 der 34 Plätze verfügbar, obwohl überall sonst die Besucherkapazität während der Lockdowns ca. ein Drittel der normalen Kapazität betrug. Drei dieser fünf Plätze waren dann auch noch die ersten eineinhalb Stunden der vierstündigen Anhörungen für VIPs reserviert. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass es sich bei diesen VIPs um australische Botschaftsangehörige handelte, die aber in den 4 Wochen im September 2020 nie erschienen. Ich selbst war an 15 der 17 Prozesstage zugegen und habe auch keine Spur dieser VIPs gesehen. Der deutsche Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, hat damals in London in einem Interview gesagt, dass er sich bei Verhandlungen in der Türkei oder in Russland willkommener gefühlt hat als am Old Bailey in London.
Die offizielle Haltung der australischen Regierung änderte sich tatsächlich mit dem Antritt der neuen Labour-Regierung im letzten Jahr. Im April besuchte der australische Hochkommissar in Großbritannien Julian Assange im Gefängnis, auch das eine Premiere.
Seit Februar dieses Jahres schien sich auch die Einstellung der britischen Justiz zu ändern, und es mündete in der Zulassung einer Berufungsverhandlung [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116804] vor dem High Court, die für den 9. und 10. Juli angesetzt war. Es ging am Ende nur noch um die rechtlichen Fragen, ob die freie Rede von Assange in den USA garantiert wäre und ob er als Ausländer bei einem Prozess in den USA benachteiligt würde. Es scheint, als wollte auch die britische Justiz plötzlich gut dastehen.
Es sah bei diesen zwei Berufungsgründen nicht gut aus für die Anklage, vor allem in den 17 Punkten, die sich auf das Spionagegesetz von 1917 bezogen. Für Julian Assange bestand aber die Gefahr, wegen des einen Anklagepunktes des Computereinbruchs doch ausgeliefert zu werden. Wahrscheinlich war das ein Grund, der jetzt eingegangenen Schuldeingeständnisvereinbarung (Plea Deal) zwei Wochen vor der Berufungsverhandlung zuzustimmen. Bei den Zuständen in Belmarsh, die Julian Assange in einem Brief an den britischen König Karl III [https://www.nachdenkseiten.de/?p=97372] beschrieben hatte, ist es kein Wunder, dass er dies getan hat. Ich finde es sowieso erstaunlich, dass Julian Assange die Jahre des Botschaftsasyls und im Gefängnis überhaupt überstanden hat.
In den USA hatten wahrscheinlich weder Biden noch Trump ein Interesse daran, dass ein eventueller Prozess gegen Assange in den Wahlkampf hineinfunkt. Einzig der Außenseiter John Kennedy Junior hatte sich wirklich für die Freilassung von Assange ausgesprochen. Das Weiße Haus hat auch jegliche Beteiligung an der jetzt ausgehandelten Vereinbarung abgestritten.
Dass Assange jetzt doch noch eine Schuld eingestehen musste, gibt seiner Freiheit einen bitteren Beigeschmack, der aber wohl zu verschmerzen ist. Das Schuldeingeständnis kann wohl auch nicht als legaler Präzedenzfall genutzt werden, denn der Fall wurde nicht vor einer Berufungsinstanz verhandelt. Das drastische Vorgehen der US-amerikanischen und der britischen Justiz ist sowieso abschreckend genug.
Laut einem Artikel in The Australian fragte Richterin Manglona Julian Assange, was er getan habe, um gegen das Gesetz zu verstoßen. „Als Journalist habe ich meine Quelle ermutigt, Informationen weiterzugeben, die als geheim eingestuft waren“, antwortete Assange. „Ich glaubte, dass der Erste Verfassungszusatz diese Aktivität schützte, aber ich akzeptiere, dass es ein Verstoß gegen das Spionagegesetz war.“
Assange fügte dann bezeichnenderweise hinzu: „Der Erste Verfassungszusatz stand im Widerspruch zum Spionagegesetz, aber ich akzeptiere, dass es angesichts all dieser Umstände schwierig wäre, einen solchen Fall zu gewinnen.“
Assange kam hier auf die wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit des Spionagegesetzes von 1917 zu sprechen, da es den Besitz und die Verbreitung von Informationen des Militärs kriminalisiert, was im Widerspruch zu den Rechten eines Journalisten nach dem Ersten Verfassungszusatz steht, solches Material zu beschaffen und zu veröffentlichen. Mehr zu diesem Punkt findet man hier [https://consortiumnews.com/2024/06/26/assange-walks-out-of-court-a-free-man/] auf Englisch.
Laut diesem Bericht gibt es in der Vereinbarung zwischen Assange und den USA auch noch die Verpflichtung, dass WikiLeaks Dokumente von seiner Plattform löscht. Darüber berichteten aber laut Consortium News nur Al Jazeera und The Australian. Es ist unklar, warum dies so ist und welches Material dann gelöscht werden soll. Dies passt mit einem Tweet zusammen [https://x.com/realpatrickwebb/status/1805821642020421872?s=46], der heute Morgen erschien, und der besagt, dass die DNC-E-Mails (Hillary Clinton) schon vom WikiLeaks-Server verschwunden sind. Ich kann die rund 42.000 E-Mails allerdings hier noch finden, zumindest heute Mittag. Wahrscheinlich wäre es gut, wenn sich möglichst viele Menschen Material vom WikiLeaks-Server herunterladen.
Es wäre schade, wenn Aussagen wie die, dass Assange Hillary Clinton im Wahlkampf geschadet habe, überdauern, ohne dass man auf die Primärquellen zugreifen kann, in denen es ja um handfeste Korruption und üble Machenschaften von Clinton geht. Die Demokraten hatten 2016 ja während der republikanischen Vorwahlen selber auf Trump gesetzt in Hoffnung, dass dieser gegenüber Hillary Clinton der schwächste Kandidat sei. Wie sich später zeigte, war dies eine Fehleinschätzung. Hier gibt es sicher Stoff für weitere Artikel.
Im Moment überwiegt bei mir die Freude, dass Julian Assange nun in Freiheit mit seiner Familie vereint ist und dass er die Tortur der letzten 13 Jahre überhaupt überlebt hat. Das war nämlich oft gar nicht so klar, denn es gab schon 2019 Berichte, in denen ein fürchterlicher (Gesundheits-)Zustand [https://www.nachdenkseiten.de/?p=55887] von Julian Assange beschrieben wurde. Im Oktober 2021 erlitt er zur Zeit der US-Berufungsverhandlung einen leichten Schlaganfall.
Ein großer Dank gilt allen Unterstützern, den Organisatoren und Teilnehmern der zahlreichen Mahnwachen in so vielen deutschen Städten und weltweit. Es haben sich auch viele Journalistenkollegen für Julian Assange eingesetzt, die sich nicht an der Rufmordkampagne gegen ihn beteiligt haben.
Nicht zuletzt seien Assanges Anwälte erwähnt, von denen seine Frau Stella, die „dienstälteste“ Jennifer Robinson und die legendäre Anwältin Gareth Peirce hervorstechen. Sie hat schon in den 1980ern den Guildford Four und den Birmingham Six zur Freiheit verholfen und sie hat den Ruf, dass sie niemals aufgibt.
Leider erleben der Journalist John Pilger [https://www.aljazeera.com/news/2023/12/31/renowned-australian-journalist-john-pilger-passes-away-at-84], der Pentagon-Papers-Whistleblower Daniel Ellsberg [https://www.heise.de/news/Der-gefaehrlichste-Mann-in-Amerika-zum-Tode-von-Daniel-Ellsberg-9190712.html], das Akademie-der-Künste-Mitglied Thomas Heise [https://www.adk.de/de/news/index.htm?we_objectID=66801], Komponist Mikis Theodorakis [https://www.nachdenkseiten.de/?p=76011] und der langjährige Senior der Londoner Unterstützer, Eric Levi [https://labourheartlands.com/eric-levy-anti-war-protester-and-julian-assange-protester-passed-away-he-leaves-a-legacy-of-fighting-for-just-causes/], die Freiheit von Julian Assange nicht mehr.
Die Erleichterung bei den anderen Unterstützern ist groß, obwohl viele die Ereignisse der letzten Tage noch nicht fassen können. Ich selber bin auch sehr froh, dass mein Einsatz der letzten 5½ Jahre ein Ende gefunden hat, mit dem man leben kann. Mein erster Beitrag [https://www.nachdenkseiten.de/?p=48340] zum Thema Assange auf den NachDenkSeiten endete mit den Worten: „Vielleicht gibt es ja eine Lösung, bei der alle Seiten einigermaßen ihr Gesicht wahren können und die Julian Assange endlich einmal wieder die Sonne auf sein Gesicht scheinen lässt. Wir werden weiter berichten. Die Zeit drängt.“ Diese Lösung hat sich jetzt gefunden, obwohl es doch noch Jahre gedauert hat.
Die Energie der Unterstützer kann nun auf andere Betätigungsfelder gelenkt werden, von denen es weltweit leider mehr als genug gibt. Julian Assange hat überlebt, während in Gaza, in der Ukraine und in weiteren Kriegen täglich Menschen sterben, deren Schicksal viel kleinere Wellen schlägt. Wahrscheinlich wurde Assange auch durch seine Prominenz gerettet, die wiederum daher rührt, dass er sich selber für die Leidenden eingesetzt hat.
Der Flug nach Australien hat Stella Assange zufolge US$ 520.000 gekostet, für die sie nun um Spenden bittet. Teil des jetzigen Deals war, dass Julian Assange keinen Linienflug benutzt. Anscheinend hat ein einzelner anonymer Bitcoin-Spender schon umgerechnet 500.000 $ gespendet.
Die NachDenkSeiten werden weiter zum Thema berichten. Es werden sicher noch einige interessante Informationen zutage treten, auch was das Verhalten der aktuellen Bundesregierung in diesem Fall betrifft.
Julian Assange und seiner Familie wünsche ich, dass sie sich erst einmal zusammen in Ruhe erholen können, und dass dies auch gelingt!
Titelbild: Screenshot/X/Wikileaks
26. Juni 2024 - 13 min
![episode Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 4 artwork](https://cdn.podimo.com/images/0b607739-f007-4754-b49a-50f4be9e7202_400x400.png)
Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 4
Das Bündnis Sahra Wagenknecht geht Anfang 2024 an den Start. Der Journalist Ramon Schack beobachtet das BSW aus nächster Nähe, ist von Anfang an dabei. Durch präzise Beobachtungen im Wahlkampf und auf Parteitagen, im Gespräch mit Aktivisten, der Parteiprominenz und Gegnern dieser neuen politischen Kraft, flankiert von den fortlaufenden Wahlkämpfen des Jahres, entsteht eine teilnehmende Beobachtung zu den gravierenden politischen Verschiebungen, denen sich das bundesdeutsche Parteiensystem, ja das Establishment der Republik in Medien und Politik ausgesetzt sieht. Nach dem ersten Teil [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116351], dem zweiten Teil [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116577] und Teil 3 [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116831] können Sie hier nun einen weiteren Artikel dieser Serie lesen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
„Malchin liegt mir am Herzen“, berichtet Lehmann freimütig bei einem Kaffee in seinem Garten. Gerold Lehmann, Jahrgang 1971, wurde als das jüngste von 5 Kindern geboren. Sein Vater war Lehrausbilder in einem Betonwerk, während seine Mutter als Buchhalterin tätig war. Die politische Wende von 1989 wurde in der Familie zunächst positiv aufgenommen, der BSW-Politiker erinnert sich an Demonstrationen auf dem Marktplatz und seine damaligen Sympathien für die CDU. Während der folgenden Jahre, flankiert von den einschneidenden Transformationsprozessen, als die Jugend in Scharen die ostdeutschen Kleinstädte in Richtung Westen verließ, blieb Gerold Lehmann.
„Klar war ich viel auf Montage unterwegs, in Hamburg und andernorts“, erzählt der Kommunalpolitiker, während er eine Zigarette im Aschenbecher ausdrückt. „Aber ich kann die jungen Leute auch verstehen, wenn die sich den Wind um die Nase wehen lassen müssen, vor allem aber, wenn es beruflich weitergehen soll.“ Seine Ehefrau, die bei Rossmann als Verkäuferin tätig ist, nickt und verweist auf den ältesten Sohn des Paares, der gerade nach Berlin gezogen ist und dort eine berufliche Laufbahn in der Immobilienbranche einschlägt, wobei etwas Wehmut in ihrer Stimme mitklingt, ein wenig mütterliche Sorge, dass eines der beiden Kinder jetzt in der Hauptstadt lebt, die weit mehr als das Doppelte an Einwohnern zählt als Mecklenburg-Vorpommern insgesamt.
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Malchin, Innenstadt, Foto: Ramon Schack
Lehmann bricht auf in Richtung des BSW-Büros in der Malchiner Innenstadt. Heute Abend findet dort eine Lesung statt. Vor dem Büro haben sich schon einige Interessenten eingefunden.
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Eine Frau erregt sich darüber, dass die AfD ausgerechnet hier, direkt vor dem Büro, eines ihrer Plakate aufgehängt hat
Die bevorstehenden Kommunalwahlen, die am gleichen Tag wie die Europawahlen stattfinden, bilden dabei das dominierende Gesprächsthema der Anwesenden. Wilfried Böhme, ein gebürtiger Hamburger, der seit dem Jahr 2000 in Malchin lebt, kandidiert als BSW-Kandidat für den Kreistag. Zusammen mit Gerold Lehmann war Böhme Ende letzten Jahres aus der örtlichen Linken ausgetreten.
Weiter linke Kommunalpolitik
Damals war im Nordkurier [https://www.nordkurier.de/regional/mecklenburgische-schweiz/malchins-fraktions-chef-der-linken-gibt-sein-parteibuch-ab-2143167] zu Lehmanns Motiven zu lesen:
> „Die Entscheidung, bei den Linken auszutreten, habe er sich nicht leicht gemacht. Lehmann führt dafür vor allem zwei Gründe an: die Frage von Krieg und Frieden in der Ukraine und die soziale Gerechtigkeit. „Bei der Friedensfrage halte ich die Position der Linken für zu schwammig. Ich bin klar gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Verhandlungen“, so der Malchiner. Dafür würde er auch in Kauf nehmen, dass die Ukraine die von Russland besetzten Gebiete abtritt.“
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Gerold Lehmann im BSW-Büro in Malchin; © Ramon Schack
> „„Auf jeden Fall will ich weiter linke Kommunalpolitik in Malchin machen“, äußert er, zitiert dabei den Sänger Tino Eisbrenner mit den Worten: „Jetzt gibt es zwei linke Parteien, also eine Verdopplung. Lasst euch nicht zu Feinden machen.“ Zumindest auf kommunaler Ebene wären die neue Partei BSW und die Linken doch gut beraten, zusammenzuarbeiten, meint Lehmann.“
Böhme nickt: „Es wäre doch albern, wenn die Linke und wir uns jetzt gegenseitig ignorieren würden.!“
Einige Tage später, es ist der 9. Juni, der Tag der Europawahl. Gerold Lehmann und Winfried Böhme sind zusammen mit einigen Parteifreunden nach Berlin gefahren, um an der BSW-Wahlparty teilzunehmen. Das Kino Kosmos, wo im Januar auch der Gründungsparteitag stattfand, füllt sich mit seinen Gästen. „Wir fahren heute wieder nach Hause“, sagt Lehmann, „aber das Event hier konnten wir uns nicht entgehen lassen“.
Alexander King begrüßt die BSW-Unterstützer aus Schleswig-Holstein, die auch gerade in den Veranstaltungssaal strömen, unter ihnen Diana Djorović und Sahin Ercan, die beiden Lübecker, die aktiv am Aufbau des Landesverbandes Schleswig-Holstein beteiligt sind.
Judith Benda ist mit Mann und Kindern eingetroffen und erklärt, wie aufgeregt sie sei. Wie die anderen Kandidaten zum EU-Parlament hatte sie in den vergangenen Wochen aktiv am Wahlkampf teilgenommen, auch an den Auftritten von Sahra Wagenknecht, wobei die Medien diese Ereignisse stiefmütterlich nur als Randerscheinungen behandelten.
„Wissen Sie, ich bin wirklich erstaunt“, äußert eine Besucherin, während sie an einer Weißwein-Schorle nippt und betont:
> „Diese Wahlparty unterscheidet sich wirklich fundamental von einer der Linken, es ist so ein ganz anderes Milieu, sehr elegant, fast bürgerlich.“
In der Tat, Kellner in weißen Hemden reichen Canapés und Drinks, viele der Besucherinnen tragen elegante Kostüme, die Herren Jacketts oder gar Anzüge. „Schauen Sie nur dort, wie mondän“, während ihr Blick auf eine Gruppe gerichtet ist, die aus dem ehemaligen Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel und seiner Familie besteht.
Geisel geht wenig später auf die Bühne, berichtet von seinen Wahlkampf-Erfahrungen, wo er in Düsseldorf Deutsche mit marokkanischem Migrationshintergrund für das BSW begeistern konnte, die kein „Multikulti-Geschwätz hören wollten“, wie er berichtet, sondern konkrete Antworten auf die Probleme der Zeit.
Blitzlichtgewitter und Tumult, Sahra Wagenknecht ist eingetroffen und wird von ihren Anhängern umringt. Gleich werden die ersten Prognosen präsentiert, im Saal steigt die Spannung.
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Foto: Sahin Ercan
Die Eröffnung des Abends übernimmt Amid Rabieh als Moderator. Der Jurist aus Bochum war anderthalb Jahrzehnte lang Mitglied der Linkspartei und fungiert nun als stellvertretender Generalsekretär.
Jubel ertönt, die Prognose sieht das BSW bei 6 Prozent. Das amtliche Endergebnis für das BSWE bei der EU-Wahl wird bei 6,2 Prozent liegen und damit signifikant höher als das der Linkspartei aber auch der Regierungspartei FDP.
Fortsetzung folgt …
Titelbild: BSW-Wahlparty am 9. Juni 2024 – Quelle: Florian Warweg
Mehr zum Thema:
Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 1 [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116351]
Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 2 [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116577]
Wagenknechts Wagnis – Eine teilnehmende Beobachtung zur Entstehungsgeschichte des BSW, Teil 3 [https://www.nachdenkseiten.de/?p=116831]
Wagenknecht: Aufarbeitung der Corona-Politik ist ein ganz wichtiges Thema unserer neuen Partei [https://www.nachdenkseiten.de/?p=109267]
26. Juni 2024 - 7 min
![episode Wehrpflicht: In Großbritannien soll mit Macht der Widerstand junger Menschen gebrochen werden artwork](https://cdn.podimo.com/images/0b607739-f007-4754-b49a-50f4be9e7202_400x400.png)
Wehrpflicht: In Großbritannien soll mit Macht der Widerstand junger Menschen gebrochen werden
Entzug des Führerscheins, eingeschränkter Zugang zu finanziellen Mitteln: Der britische Premierminister lässt bei einem Fernsehauftritt die Katze aus dem Sack. Die Partei von Rishi Sunak hat vor, die Wehrpflicht wieder einzuführen, das berichtet The Telegraph. „National Service“ heißt das in Großbritannien. Es soll dabei um eine Mischung aus Dienst beim Militär und einem Dienst auf der zivilen Seite gehen. Wer sich widersetzt, dem sollen Sanktionen drohen [https://www.telegraph.co.uk/politics/2024/06/20/general-election-question-time-bbc-debate-sunak-starmer/]. Zum Vorschein kommt der Geist des Autoritären und des Totalitären. Und das in einer Zeit, in der ein großer Krieg in den Bereich der Realität rückt. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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Rishi Sunak, der Premierminister Großbritanniens, hat die Katze aus dem Sack gelassen. Kommt es zur Wiedereinführung des „National Service“, soll es keinen geben, der sich dem entziehen kann. Wer sich drückt, soll mit Sanktionen belegt werden. Sunak bringt den Entzug des Führerscheins oder einen „limitierten Zugang zu finanziellen Mitteln“ ins Spiel. Was genau er mit Letzterem meint, bleibt unklar. Allein das Gesagte lässt den Geist des Autoritären und Totalitären spüren. Der Staat will offensichtlich mit Macht den Widerstand junger Menschen zwischen 18 und 21, die zum nationalen Dienst verpflichtet würden, brechen.
Das ist erschreckend. Vor allem auch in Anbetracht der aktuellen Zeit. In Deutschland steht die Wiedereinführung der Wehrpflicht ganz oben auf der politischen Agenda. Auch in den USA gibt es Pläne, zurück zur Wehrpflicht zu gehen [https://reason.com/2024/06/15/house-passes-bill-to-automatically-register-young-men-for-the-draft/]. Und nun in Großbritannien. All diese Schritte sind im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Russland zu verstehen. Das Kriegsgeheul wird immer lauter. Mit anderen Worten: Wir reden hier nicht ‚nur‘ über ein militärisches „Trockenschwimmen“. Eine Realität zeichnet sich ab, in der junge Menschen, die gerade den „Dienst an der Waffe“ gelernt haben, tatsächlich in einen großen Krieg geschickt werden können. Was das heißt, lässt sich in der Ukraine sehen. Dort geht es nicht um Militär- und Kriegsromantik. Dort kehren von der Front Frauen und Männer ohne Arme und Beine zurück [https://x.com/rbb24/status/1801552111525576818].
Bundesentwicklungsministerin [https://www.nachdenkseiten.de/?p=115409] Svenja Schulze [https://www.nachdenkseiten.de/?p=115199] hat gerade Millionen an deutschen Hilfsgeldern für ein Versehrtenwerk bereitgestellt. Und in der Ukraine gehen mittlerweile Schergen umher, die Männer von der Straße aus zwangsrekrutieren [https://x.com/ZentraleV/status/1804748721143324730], wie zahlreiche Videos zeigen [https://x.com/FlorianRotzer/status/1801633965654097948]. Die Tagesschau spricht unter Verwendung einer furchtbar beschönigenden Formulierung von „Mitarbeitern des Einberufungsamts“ [https://www.tagesschau.de/ausland/europa/krieg-in-der-ukraine-einberufungsbehoerde-100.html].
Wenn heute von der Einführung der Wehrpflicht oder dem Pflichtdienst im zivilen Bereich die Rede ist, dann gilt es sich vor Augen zu halten: Große Gefahr droht. Unter anderen politischen Umständen könnte man in Ruhe darüber diskutieren, wie sinnvoll der freiwillige „Dienst in der Bundeswehr“ für junge Menschen sein kann oder wie es mit einem freiwilligen Dienst im zivilen sozialen Bereich aussieht (dann aber nur unter einer ausreichenden monetären Würdigung der zu erbringenden Arbeit).
Doch wir befinden uns in einer Situation, in der immer offener ein Krieg mit Russland regelrecht herbeigeredet wird. Wenn, wie zu beobachten, Politiker wieder junge Leute verpflichtend in die Armeen ihrer Länder rekrutieren wollen, dann müssen alle Warnsignale angehen. Kriege können geführt werden, wenn Soldaten da sind. Ohne Soldaten, um es platt zu sagen, gibt es keine Kriege. Die Situation, in der wir uns befinden, ähnelt einem Feuer. Je früher man dem Feuer den Sauerstoff entzieht, um so schneller und einfacher wird es ausgehen. Wer als Politiker einen Krieg ins Auge fasst und durch eine entsprechende Wehrpflicht schon einmal an das „Zunder“ für das Feuer kommen will, hat in der Politik nichts verloren. Gerade die aktuelle Politik braucht Diplomaten und keine Sitzgeneräle.
Hunderttausende tote, verstümmelte, schwer traumatisierte Soldaten auf beiden Seiten im Ukraine-Krieg zeigen, wohin das Fehlen oder das Versagen von Diplomatie führt. Wer sieht, wie reihum Länder versuchen, sich für die „Verteidigung“ zu rüsten, muss Schlimmes befürchten. Dass Sunak gar mit Repressionen junge Menschen unter die Fuchtel eines „nationalen Dienstes“ bekommen will, offenbart die Grundrichtung.
Die Briten, aber auch die Deutschen und die Angehörigen anderer Nationen sollten sich die Frage stellen: Wie würden wohl Politiker, die heute schon in ihren Ländern das Autoritäre durchblitzen lassen, mit den Wehrpflichtigen im eigenen Land umgehen, wenn es tatsächlich zum Krieg kommt? Würden wir vergleichbare Szenen wie in der Ukraine sehen, wo mittlerweile selbst Männer, die ihr Baby in der Hand halten, auf offener Straße unter körperlicher Gewalt aufgegriffen werden [https://x.com/ZentraleV/status/1803877863235461560]?
Die realistische Antwort lautet: Ja, damit muss gerechnet werden.
Titelbild: Michele Ursi / Shutterstock
26. Juni 2024 - 6 min
![episode EU-Europa – Realpolitik oder Ideologie? artwork](https://cdn.podimo.com/images/0b607739-f007-4754-b49a-50f4be9e7202_400x400.png)
EU-Europa – Realpolitik oder Ideologie?
Auch in diesem Jahr finden zwei sehr interessante internationale Gipfel statt, die für eine neue globale Entwicklung stehen. Der bereits im Juni stattgefundene G7-Gipfel in Italien sowie der BRICS+-Gipfel in Russland im Oktober. Auffällig ist, dass die Weltorganisation UNO immer weniger im Rampenlicht steht und stattdessen seit Jahren die G7, die G20 und mittlerweile das BRICS-Format – also interregionale Foren und Organisationen die internationale Bühne bestimmen. Die Marginalisierung der UNO ist jedoch nicht ein Ergebnis des Multipolarisierungsprozesses. Seine Anfänge liegen vielmehr in der Missachtung, ja sogar Verachtung der UNO während der Phase der unipolaren Weltordnung, der Pax Americana der 1990er- und 2000er-Jahre. Die völkerrechtswidrigen Kriege des Westens (Jugoslawien 1999, Irak 2003, in gewissem Maße auch Libyen 2011 sowie die selbstherrliche Neuinterpretation des Völkerrechts bei der Zerlegung Jugoslawiens etc.) haben den Status und die Autorität der UNO nachhaltig erodieren lassen. Von Alexander Neu.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Das Aufkommen neuer interregionaler Foren und Regierungsorganisationen sind in Verbindung mit dem Erstarken des Nicht-Westens nahezu logische Entwicklungen. Wie bereits in vorangegangenen Beiträgen (beispielsweise hier [https://www.nachdenkseiten.de/?p=106000]) beschrieben, nimmt der weltpolitische Veränderungsprozess, der nichts weniger als einen Epochenbruch darstellt, auch strukturell immer rasanter an Fahrt auf. War der Begriff BRICS bis Anfang/Mitte der 2010er-Jahre ein Begriff, mit dem nur Fachleute und ein paar informierte Journalisten etwas anfangen konnten, so ist der internationale Wandlungsprozess und damit einhergehend sind die neu geschaffenen Strukturen, wie die BRICS+ und die SCO, nicht mehr zu übersehen bzw. totzuschweigen. Die Öffentlichkeit in Deutschland und in Europa wird zwar immer noch nicht hinreichend über diesen historischen Wandel zum Nachteil der westlichen Welt seitens der Mainstreammedien und der Politik informiert, vor allem nicht neutral, aber das öffentliche Interesse wächst. Dazu tragen zumindest die alternativen Medien bei.
Der sich abzeichnende Epochenbruch begann langsam, sehr langsam noch in den 2000er-Jahren. Die Enttäuschung über die westliche Hybris, der Welt die westlichen Werte und vor allem die westlichen Interessen aufzudrücken, war unübersehbar. Hier exemplarisch das Buch mit dem Titel „Macht und Ohnmacht“ des US-amerikanischen Neo-Cons Robert Kagan, zufällig auch der Ehemann von Victoria „Fuck-the-EU“ Nuland, aus dem Jahre 2003. In dem unterschied Kagan in klassisch kolonialistischer Weise zwischen dem Westen als Paradies und dem Rest der Welt als Dschungel, für den das Völkerrecht so nicht gelten könne. Ähnlich äußerte sich auch die EU-Außenkoryphäe J. Borrell 2022:
> „Wir sind ein Garten, der Rest der Welt ist ein Dschungel.“
Im Gegensatz zu den Jahrhunderten davor bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts führte die Erkenntnis über die fortgesetzte westliche Hybris mit Alleinvertretungs- und Missionierungsanspruch für die Zivilisation nicht in Resignation und Unterwerfung, sondern in der Erkenntnis angesichts der Dynamiken, insbesondere in China, Indien und Russland: „Wenn ihr uns nicht als gleichberechtigte Akteure in den bestehenden internationalen Strukturen (WTO, Weltbank, IWF, UNO-Sicherheitsrat etc.) akzeptieren wollt, schaffen wir uns unsere eigenen intra- und interregionalen Strukturen.“
Die Unwilligkeit des Globalen Westens unter Führung der USA, die vom Nicht-Westen geforderten strukturellen Reformen tatsächlich zu unterstützen, war und ist offensichtlich. Bislang herrscht im Westen das Denken vor, den eigenen wohl unaufhaltsamen relativen Machtverlust nicht auch noch durch strukturelle Reformen institutionell zu befördern und zu besiegeln. Entsprechend reagiert der globale Nicht-Westen zunehmend selbstbewusst: Unter Führung Chinas und Russlands wurde in den letzten 20 Jahren damit begonnen, alternative regionale Regierungsorganisationen und inter-regionale Bündnisse zu gründen. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) sowie die BRICS-Staaten.
Exkurs
Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO)
Die SCO wurde 2001 von sechs Staaten (Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und China) gegründet.
Zwischenzeitlich sind auch Indien, Iran und Pakistan der Organisation beigetreten, wodurch die SCO zur größten Regionalorganisation geworden ist, die für rund 40 Prozent der Weltbevölkerung steht. Weitere Staaten besitzen Beobachterstatus, sind Gastteilnehmer oder Dialogpartner, darunter das NATO-Mitglied Türkei. Der Hauptsitz der Organisation ist Peking, China. Dem Selbstverständnis nach widmet sich die SCO nahezu allen politischen Feldern der Region, die einer Förderung der zwischenstaatlichen Kooperation zum Zwecke der Schaffung der regionalen Stabilität bedürfen. Die Schwerpunkte sind sowohl wirtschafts- und handelspolitische als auch sicherheitspolitische Themen des asiatischen Großraumes. Es geht tatsächlich auch darum, den Westen als Gestaltungs- und Machtfaktor aus der Region zu verdrängen bzw. fernzuhalten. Der Entscheidungsmodus ist das Konsensprinzip. Wie weit das Konsensprinzip künftig angesichts des Wunsches weiterer Staaten, dem Bündnis beizutreten, aufrecht zu erhalten ist, ist offen.
BRICS(+)
Die BRICS-Gruppierung wurde 2006 gegründet. Sie ist zwar keine formale Organisation wie die SCO, verfügt also nicht über eigene feste Organisationsstrukturen und einen entsprechenden institutionellen Standort. Ihre Bedeutung auch als „nur“ kooperierende Staatengruppe ist dennoch nicht zu unterschätzen. Die abwechselnd in den Hauptstädten der Teilnehmerstaaten jährlich stattfindenden Gipfeltreffen (dieses Jahr in Russland) sind ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Regierungen diesem Staatenbündnis eine hohe politische Relevanz zuweisen. Offiziell gehören dazu: Brasilien (B), Russland (R), Indien (I), China (C) und Südafrika (S) sowie die seit 1. Januar 2024 Neumitglieder „+“, also BRICS+ (Ägypten, Äthiopien, Iran und Vereinigte Arabische Emirate). Saudi-Arabien ist eingeladen, hat jedoch noch keine abschließende Entscheidung über eine Vollmitgliedschaft getroffen.
Die BRICS+-Staaten repräsentieren rund 45 Prozent der Weltbevölkerung (G7 vergleichsweise nur 10 Prozent) und 34 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes (G7 vergleichsweise 30 Prozent), laut dem Statistischem Bundesamt.
Das BRICS-Format ist kein reines regionales Konsultationsforum, also auf den asiatischen Kontinent begrenzt, sondern agiert, anders als die SCO, interregional. Die Mitgliedschaften Südafrikas sowie Brasiliens und neuerdings Ägyptens verweisen auf die hohe globale Attraktivität des Bündnisses auch für den afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent. Bereits 2014 beschlossen die BRICS-Staaten, eine alternative „Entwicklungsbank“ und einen „Währungsfonds“ mit Sitz in China zu gründen als Antwort auf die schleppenden Reformen des IWF hinsichtlich der von den Schwellenländern geforderten Einflussmöglichkeiten.
Warum aber beschleunigt sich der globale Wandlungsprozess gerade jetzt und erst jetzt?
Erstens, da die Bildung neuer Strukturen – auch und insbesondere auf internationaler Ebene – sehr zeitintensiv ist und erst im Laufe der Zeit sich dieser Prozess auf der Grundlage der ersten geschaffenen Strukturen zu beschleunigen beginnt.
Zweitens aufgrund signifikanter politischer Veränderungen und Herausforderungen, die einen Impetus für den beschleunigten Aufbau alternativer Strukturen und Institutionen bilden. Das sind ganz konkret der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der rasch den Charakter eines Stellvertreterkrieges zwischen dem Westen und Russland annahm, sowie die Vorgeschichte des Krieges (NATO-Osterweiterung generell und damit verbunden die faktisch einseitige Beerdigung der „Charta von Paris“ und speziell seit Ende 2013 mit Blick auf die Ukraine), die darauf folgenden – jedoch nicht wirksamen – unilateralen westlichen Sanktionen und russischen Gegensanktionen, der Rauswurf Russlands aus dem SWIFT-Währungssystems, was einen für den Rest der Welt alarmierenden Präzedenzcharakter darstellt, und nicht zuletzt die sehr einseitige Positionierung und politische Unterstützung – inklusive Waffenlieferungen – des Westens auf Seiten Israels nach dem Terrorangriff der Hamas, was vor allem auch in den muslimisch geprägten Staaten und deren Bevölkerungen mindestens für Unverständnis sorgt. Diese politischen Realitäten der letzten Jahre haben dem Multipolarisierungsprozess einen enormen Schub verliehen, dessen Geschwindigkeit weiter zunimmt, wie beispielsweise durch die forcierte De-Dollarisierung im Welthandel.
Dass diese rasante Entwicklung auch im Westen so langsam die Diskussionsbereitschaft befördert, zeigt ein Beitrag des European Council on Foreign Affairs (ECFR), einer europäischen Denkfabrik mit Sitz in Berlin. Dieser veröffentlichte Anfang 2023 einen beachtenswerten „Policy Brief“ mit dem Titel: „United West, divided from the Rest“ („Der Westen vereinigt, aber vom Rest getrennt“). Zusammengefasst kommt das Papier zu dem Ergebnis: Der Westen sei angesichts des Krieges zwar enger zusammengerückt, jedoch verwandle sich die Welt in eine post-westliche, genauer in eine multipolare Welt und das Selbstbewusstsein der nicht-westlichen Staaten wachse.[1]
Mit anderen Worten: Die Staaten der nichtwestlichen Welt akzeptieren immer weniger die seit Jahrhunderten währende westzentrierte Weltordnung und ihre Institutionen in den internationalen Beziehungen.
Transatlantische Welt versus Rest der Welt – wo stehen Europa und Deutschland?
Die Feststellung des ECFR „United West, divided from the Rest“ bezeichnet im Grunde die Kampflinie und die sich gegenüberstehenden Teams. Und im transatlantischen Team ist Europa, wollte man es wohlwollend formulieren, der Juniorpartner. Im „Rest der Welt“-Team gibt es unterschiedliche Fraktionen, die jedoch eine gemeinsame Grundlage haben: Beendigung der westlichen Globaldominanz, Aufbau multipolarer Strukturen und die unverhandelbare Geltung des vom Westen gegenüber dem Rest der Welt wenig geschätzten staatlichen Souveränitätsprinzips.
An der Spitze dieses Aufbruchs stehen Russland, China und der Iran. Sie sind die großen Akteure, die den Westen direkt und auch militärisch herausfordern. Indien, Südafrika, Ägypten, aber auch Nicht-BRICS-Staaten wie Indonesien etc. vertreten die Fraktion der Staaten, die nicht mehr gewillt sind, ihre nationalen Interessen den westlichen Interessen unterzuordnen, und die Respekt vor der Souveränität ihrer Staaten ebenso einfordern wie ein Mitspracherecht bei der Mitgestaltung der internationalen Politik – wenn sie auch ihren Anspruch nicht so konfrontativ formulieren wie Russland, China oder der Iran. Ihr Widerstand äußert sich zum großen Teil in einer Form der Gehorsamsverweigerung: Beispielsweise in der Verweigerung, das westliche Narrativ des russisch-ukrainischen Krieges zu übernehmen. Dies äußert sich weiter in harten politischen Entscheidungen wie der Verweigerung, sich den westlichen Forderungen nach Übernahme der unilateralen Sanktionen gegen Russland unterzuordnen. Oder auch der Verweigerung, der Ukraine Waffen zu liefern.
Lange Zeit ging man im Westen ganz selbstgerecht davon aus, dass die politischen, ökonomischen und kulturellen Differenzen zwischen den Ländern des Nicht-Westens ein ewiger Garant gegen einen vom Westen unabhängigen intra- und interregionalen Integrationsraum darstellen würden. Die Wirklichkeit schaut anders aus: Die Tatsache, dass diese Länder des Nicht-Westens trotz der oben genannten Differenzen eine Bereitschaft zu unterschiedlichen Integrationsformen und -dichten erklären, könnte man auch als ein hartes Indiz ihrer Entschlossenheit interpretieren, sich nicht mehr auseinanderdividieren zu lassen, sondern sich der westlichen Hybris entgegenzustellen. Das scheint der Grundkonsens des Nicht-Westens zu sein.
[https://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/240625-Atlantische-Welt-vs-Nichtwesten.jpeg]
Quelle: onestopmap.com [https://www.onestopmap.com]
Wo bleiben Europa und Deutschland?
Asien entwickelt sich rasch zum globalen Wirtschafts- und Handelszentrum des Globus – angetrieben durch die enormen Wirtschaftsdynamiken Chinas, aber auch anderer südostasiatischer Staaten. Russland wendet sich ökonomisch von Europa ab und Asien zu. Schaut man sich die Weltkarte einmal ganz unvoreingenommen an, so kann man die Position Europas auf zweifache Weise interpretieren:
In der Vergangenheit war Europa tatsächlich der Nabel der Welt. Der eurasische Superkontinent war von Osteuropa bis Südostasien gewissermaßen ein Anhängsel Europas, ein „Gestaltungsraum“ Westeuropas, ein kolonialer Ausbeutungsraum sowie eine billige Rohstoffkammer. Der Wandel im 21. Jahrhundert führt jedoch dazu, dass der westeuropäische Teil Eurasiens (EU-Europa) ein Anhängsel Eurasiens oder gar ein abgetrennter Teil von Eurasien werden könnte. Ein von Eurasien abgetrennter Teil, der zusammen mit den USA und Kanada die atlantische Welt darstellt.
Welche Rolle Europa und Deutschland in dieser atlantischen Welt darstellen werden, ist noch nicht eindeutig geklärt. Aber ein west- und mitteleuropäisches Rest-Europa, das sich ohne Nöte seiner nicht-westlichen Handels- und Wirtschaftspartner entledigt und seinen Handel zunehmend und überwiegend atlantisiert, begibt sich in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von den USA. Diejenigen, die die Energieabhängigkeit von Russland kritisierten, sind wiederum sehr blind für die sich anbahnende Abhängigkeit vom US-amerikanischen Markt. Ein Beispiel seiner Selbstaufgabe ist der Umgang mit dem chinesischen High-Tech-Riesen Huawei:
Laut Medienberichterstattung ist Huawei wohl auch auf US-amerikanischen Druck aus Europa abgezogen worden.[2] Es handelt sich also um nichts weniger als um eine direkte und erfolgreiche US-Einmischung in europäische Angelegenheiten. Das zeigt, wie wenig Europa seine Souveränität selbst ernst nimmt.
Diese Selbstaufgabe EU-Europas zu Gunsten der USA führt dazu, dass Europa kein eigenständiger Akteur der Weltpolitik sein wird. Der Einfluss EU-Europas und Deutschlands auf das Weltgeschehen erodiert derweil vor unseren Augen.
Der bekannte Politikwissenschaftler Herfried Münkler äußerte in einem Interview [https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_100251602/usa-china-russland-indien-eu-experte-ueber-die-neue-weltordnung.html] mit t-online unter dem Titel „Fünf Mächte werden die neue Weltordnung bestimmen“ bereits handfeste Zweifel an der Zukunft EU-Europas:
> „(…) Ich bin nicht sicher, ob sich die Europäische Union auf Dauer im besagten „Direktorium“ wird halten können. (…). Eine Mitgliedschaft innerhalb der fünf globalen Führungsmächte ist aber kein Selbstläufer – eine Macht kann jederzeit herausfallen und durch eine andere ersetzt werden. Keine sonderlich angenehme Vorstellung, denn dann diktieren uns andere die Regeln.“
Interessenbasierte multivektorale Außen-, Außenwirtschafts- und Handelspolitik
Außen-, wirtschafts- und handelspolitische Souveränität heißt, als Staat und Staatenbund frei seine Kooperations- und Handelspartner gemäß der eigenen Interessenlage wählen und externe Einmischung erfolgreich abwehren zu können. Das neue Zauberwort vermeintlicher Souveränität aus dem Munde der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „de-risking“ in wirtschafts- und handelspolitischen Fragen. Also, sämtliche handels- und wirtschaftspolitischen Beziehungen sollen auf eine Risikobehaftung überprüft und ggf. eingestellt werden wie beispielsweise im Hochtechnologiebereich – siehe Huawei.
Da ist zunächst einmal nichts gegen einzuwenden, es wäre eine souveräne Maßnahme. „Zunächst“ jedoch deshalb, weil es nur selektiv auf China und ggf. andere nicht-westliche Staaten Anwendung finden soll. De-risking wäre indessen ein Ausdruck souveränen Handelns, wenn es auf alle handels- und wirtschaftspolitischen Beziehungen Anwendung fände, losgelöst von der ideologischen und instrumentellen Komponente. Denn dass die USA auch ihre „Freunde“ beobachten, ist spätestens durch die Snowden-Enthüllungen nicht mehr zu bestreiten. Nur in der universellen Anwendung wäre „de-risking“ ein Instrument der Demonstration von Stärke und Souveränität.
Befreiung vom ideologischen Überbau des Transatlantizismus
Wer eigenständiger Akteur in der Weltpolitik nicht nur rhetorisch, sondern auch operativ sein will, muss sich von seinem ideologisch basierten Unterwürfigkeitsverhalten befreien.
Ein überidealisiertes Bild von der deutsch-US-amerikanischen respektive EU-US-amerikanischen Partnerschaft bis hin zu einem ideologischen Transatlantizismus macht blind und taub für die politische Wirklichkeit. Diese Blind-Taubheit erschwert es, die eigenen Interessen nüchtern und verstandesorientiert, mithin realpolitisch, zu identifizieren und zu formulieren. Zur Beschreibung der eigenen Interessen gehört sicherlich nicht die Identitätsbeschreibung US-amerikanischer Interessen mit den europäischen respektive deutschen Interessen. Dieses Identifizieren und selbstbewusste Formulieren eigener Interessen ist im globalen Interregnum, mithin des globalen Umbruchprozesses, besonders wichtig, um sich seinen Platz in der neuen Weltordnung zu sichern. Ist die neue Weltordnung erst einmal strukturiert, sind die Regeln gesetzt, ist faktisch geklärt, wer Subjekt und wer Objekt in der Weltpolitik ist, dann ist es für (EU-)Europa auf lange Sicht kaum mehr möglich, eigenständige, an eigenen Interessen orientierte Politik zu formulieren.
Oder anders ausgedrückt: Vermögen es die USA, die Welt außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch zu entkoppeln, sie also aufzuteilen, ja geradezu zu bipolarisieren (vorzugsweise mit ideologischen und wertebasierten Argumenten – hier „gute“ Demokratien, dort „böse“ Autokratien/Diktaturen) und Europa darin an der Seite der USA als westlichen Block zu verpflichten, dann wäre Europa im Block der selbsternannten „Guten“ gefangen und sodann in seinen Handlungsspielräumen zum eigenen Schaden dauerhaft eingeschränkt bzw. vom Goodwill Washingtons abhängig. Die USA verstehen das Spiel der Realpolitik. Mehr noch, sie verstehen es auch hervorragend, mit Werten und der transatlantischen Ideologie zu spielen, um die naiven Europäer bei der Stange zu halten.
Fazit
Eine Entideologisierung der europäisch-US-amerikanischen Beziehungen sowie eine Zurückholung europäischer und deutscher Souveränität heißt nicht, dass die Beziehungen zu den USA eingestellt werden sollten. Dafür gibt es keinen Grund – es wäre unpolitisch. Es heißt aber, dass diese Beziehungen von einseitig romantischer Lyrik befreit, durch eine rationale und nüchterne Brille betrachtet sowie auf eine gesunde Stufe gestellt werden. Also Realpolitik, d.h. multivektorale Interessenpolitik, statt wertebasierte Romantik. Europa muss für sich selbst Verantwortung übernehmen.
Titelbild: Shutterstock / NicoElNino
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[«1] European Council on Foreign Relations: „UNITED WEST, DIVIDED FROM THE REST: GLOBAL PUBLIC OPINION ONE YEAR INTO RUSSIA’S WAR ON UKRAINE“ [https://ecfr.eu/wp-content/uploads/2023/02/United-West-divided-from-the-rest_Leonard-Garton-Ash-Krastev.pdf]
[«2] „How Washington chased Huawei out of Europe“ [https://www.politico.eu/article/us-china-huawei-europe-market/], in Politico
[https://vg06.met.vgwort.de/na/4734014733fc422eaa33216ae6d4fd1b]
Gestern - 18 min
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„Scripted Reality” – Wie Narrativ-Konstruktionen unser Denken und Handeln bestimmen
Als ich vor vielen Jahren noch als Drehbuchautorin für das deutsche Fernsehen arbeitete, lernte ich das Format „Scripted Reality“ kennen. Es bedeutet, dass bei einem eher dokumentarischen Format (wie bei Make-Over-Sendungen oder Renovierungs-Shows), wenn die Realität zu langweilig, zu wenig emotional, zu wenig strukturiert ist, dieser durch geschriebene Szenen und inszenierte Situationen „nachgeholfen“ wird. In den letzten Jahren habe ich beim Blick auf die Politik und die politische Kommunikation bemerkt, dass hier ähnliche „narrative“ Eingriffe vorgenommen werden – nicht, um für bessere Unterhaltung zu sorgen (obwohl manchmal aus strategischen Gründen auch), sondern als Machtinstrument, um unsere Wahrnehmung zu formen und in eine gewünschte Richtung zu leiten. Im folgenden Essay werde ich das genauer beleuchten. Von Maike Gosch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Wir leben in aufgeregten Zeiten und verwirrenden Zeiten. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass das anders war (oder anders erschien). Ich erinnere mich noch gut an die Zeit als Studentin und Berufsanfängerin zwischen 1992 – 1998, in der ich mir größtenteils der politischen Wirklichkeit sicher war. Ich lebte in den Narrativen wie in einem stabilen Gebäude. Der Westen war gut. Der Fortschritt lief. Demokratie und Kapitalismus waren ein harmonisches Paar. Die Zeiten des Krieges in Europa waren überwunden. Die Europäische Gemeinschaft wuchs zusammen. Die Welt wurde kontinuierlich freier, verbundener, wohlhabender, besser. Die internationalen Institutionen wie UNO, WTO/GATT, Weltbank, OSZE, OECD und die EU, ebenso wie unsere Regierungen in (West-)Europa, waren der Freiheit und dem Wohlstand der Bevölkerung verpflichtet. Der Kommunismus war überwunden, die Sowjetunion aufgelöst, der Eiserne Vorhang gehoben, Osteuropa befreit, Deutschland wieder vereint und alles auf dem besten Weg. Sicher, es war noch nicht alles perfekt auf der Welt, aber alle (im Westen) arbeiteten nach bestem Wissen und Gewissen daran, die Welt besser und sicherer für alle zu machen.
Als junge Jurastudentin in Hamburg Anfang der 90er Jahre dachte ich tatsächlich so. Ich studierte deutsches und internationales Recht, las den Economist und die Monde Diplomatique, die ZEIT und die Süddeutsche sowieso. Ich studierte im Ausland (im Rahmen des ERASMUS-Programmes), machte Praktika in Brüssel und machte mir Gedanken darüber, wie ich an diesen vielen schönen Fortschrittsprojekten mitarbeiten könnte. Heute sieht die Welt für mich anders aus. Meine und die Perspektive vieler Menschen hat sich geändert. Ist die Welt komplizierter und böser geworden oder wir nur klüger und aufgeklärter? Oder Beides?
Wir erleben ein Aufbrechen der Narrative, des Narrativs des wohlwollenden Westens, des Narrativs der wohlstandsfördernden Globalisierung, in der die Menschen als globale Gemeinschaft friedlich zusammenleben, des Narrativs der notwendigen Verbindung von Demokratie und Kapitalismus. Und vieler anderer Geschichten mehr.
Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Wir sammeln uns um verschiedene „Lagerfeuer“ (wie es in der Storytelling-Welt heißt), bilden „Bubbles“ oder „Echokammern“, vertrauen verschiedenen Medienarten, manche den „Mainstreammedien“, andere den „alternativen Medien“.
Das Misstrauen wächst und damit die Verschwörungstheorien, und viele, die so bezeichnet wurden, stellen sich über kurz oder lang als wahr oder zumindest wahrscheinlich heraus, wie z.B. die Massenabhörungen durch die NSA oder die Theorie des Laborursprungs beim Corona-Virus. Gleichzeitig wird die Zensur verstärkt, zur Unterdrückung von gefährlichen Fake News und Hassrede oder der Wahrheit (je nachdem, wie man es sieht).
Rütteln an den Grundfesten
Anbei ein paar Beispiele gesellschaftlicher Narrative, die Grundmuster waren, in denen ich bestimmte politische und gesellschaftliche Themen wahrnahm, ohne sie als solche zu erkennen, und die ich erst im Rückblick als „Spin“ oder „Narrative Management“ (wie es im Fachjargon heißt) erkannte:
PR-Agenturen als Kriegsvorbereiter: Ein Beispiel aus dem 1990ern
Hier geht es um die Narrative und die Rolle von PR-Agenturen, Medien und Politikern im Kosovo-Krieg 1999. Wir erinnern uns: Die NATO, die bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend ein Verteidigungsbündnis war, plante geführt von den USA kriegerische Angriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Restrepublik bestehend aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo) unter dem Vorwand eines humanitären Einsatzes, aber vermutlich aus geostrategischen Machtinteressen. Ohne Aussicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen für Luftangriffe auf Belgrad wollten sie, nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Rambouillet, auf kriegerischem Weg die Serben dazu bringen, eine Abtrennung des Kosovo und die Stationierung von NATO-Truppen in ihrem Staatsgebiet zu akzeptieren. Allerdings war die öffentliche Meinung in den europäischen Ländern, insbesondere in Deutschland, gegen einen nicht von der UN sanktionierten und damit völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz, der zudem gegen das deutsche Grundgesetz verstieß. Diese Haltung rührte in Deutschland sicherlich auch aus der historischen Erfahrung des 2. Weltkriegs.
In dieser Situation wurden Mitte Januar 1999 die Vorfälle im kosovarischen Dorf Račak mit einem Schlag zum globalen Medienereignis. Der US-amerikanische Chef der OSZE-Beobachtermission im Kosovo, William Walker, trat es los, als er medienwirksam vor einer mit Leichen gefüllten Grube erschüttert erklärte, dass ein Massaker von unaussprechlicher Grausamkeit stattgefunden habe und man Beweise für „Tötungen und Verstümmelungen unbewaffneter Zivilisten“ gefunden habe, wobei „viele aus extremer Nahdistanz erschossen“ worden seien. Die massive Medienberichterstattung verbreitete diese Deutung der Ereignisse um die Welt und insbesondere in die Bevölkerung der NATO-Staaten und zu ihren politischen Entscheidern.
Anfang der 1990er-Jahre engagierte zunächst die kroatische Seite und (später dann auch die bosnische und die albanische) die US-amerikanische PR-Agentur Ruder Finn für den „Informationskrieg“. Sie trat eine ganze Welle von Pressemeldungen, Presseterminen, Pressematerial los und richtete sogar ein „Bosnia Crisis Communication Center“ ein. Das von dieser Agentur sorgfältig und bewusst konstruierte Narrativ von Serbien als neuem Nazideutschland und Slobodan Milosovic als neuem Hitler bildete den fruchtbaren Boden, auf dem jetzt die Darstellung des sehr komplexen Bürgerkriegs – mit Kriegshandlungen und Kriegsverbrechen von allen beteiligten Parteien – als neuer Vernichtungskrieg und Völkermord durch die Serben an ihrer eigenen Bevölkerung verzerrend dargestellt werden konnte. Die Schemen der schrecklichen Massaker und Völkermorde des 2. Weltkriegs wurden beschworen, erstanden wie Geister auf und legten sich über die aktuellen Ereignisse. Das „Massaker von Račak“, über das tagelang und weltweit ausgiebig berichtet wurde, geriet zum Wendepunkt der NATO-Politik gegenüber Belgrad und veränderte die öffentliche Wahrnehmung in Europa und den USA in Bezug auf Luftangriffe auf Jugoslawien.
Dies ermöglichte dann Joschka Fischers Rede am 13. Mai 1999, in der die Sätze fielen: „Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“ So begründete er seine Entscheidung zu der ersten deutschen Beteiligung an einem Angriffskrieg seit dem 2. Weltkrieg.
Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO 78 Tage lang Jugoslawien, bis es im Juni die Stationierung westlicher Soldaten in seiner Krisenprovinz Kosovo akzeptierte.
Als die Berliner Zeitung und der Spiegel im Januar 2001 davon berichteten, dass sich für das angebliche serbische Massaker an Zivilisten in einem wissenschaftlichen Abschlussbericht finnischer Gerichtsmediziner keine Beweise finden ließen und sich weder beweisen ließ, dass es sich um Zivilisten handelte, noch, dass sie aus nächster Nähe erschossen worden waren (vermutlich waren es Kombattanten, was natürlich der Tragik ihres Todes keinen Abbruch tut) und auch keine Verstümmelungen oder sonstige Hinweise auf Grausamkeiten gefunden wurden, war das Kind schon längst in den Brunnen gefallen.
Hier wurde also ein traumatisierendes historisches Ereignis (Holocaust/Auschwitz, die Vernichtung der deutschen jüdischen Mitbürger und anderer Volksgruppen) als Narrativ über eine aktuelle Situation gelegt und dort, wo der Vergleich nicht passte, durch Verzerrung der Tatsachen und Unterdrückung von Hinweisen passend gemacht, um ein bestimmtes kommunikatives Ergebnis zu erreichen. Damit wurden die Gefühle und, insbesondere bei der deutschen Bevölkerung und den deutschen Politikern, die Schuldgefühle über die schrecklichen Verbrechen in der Nazizeit geweckt und so eine politische Entscheidung erreicht, die es ohne dieses manipulierende Narrativ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben hätte.
Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik: Wie frei ist der Freihandel?
In diesem Narrativ geht um den Kapitalismus, oder noch spezieller den Neoliberalismus als Erfolgsmodell. Wie der renommierte Cambridge-Ökonom Ha-Joon Chang in seinem Buch „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“ nachzeichnet, handelt es sich bei der „Idee des freien Marktes“, die besagt, dass die Märkte, wenn man sie nur in Ruhe lässt, die effizientesten und gerechtesten Ergebnisse herbeiführen und staatliche Interventionen die Effizienz der Märkte dagegen nur bremsen würden, um ein Narrativ, das mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam hat. Wie kommt er darauf?
Zunächst einmal argumentiert er, dass die Prämisse dieser Idee (er spricht sogar von „Ideologie“), nämlich das Ausgehen von der Existenz eines komplett „freien Marktes“, also eines Marktes ohne Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken, falsch ist, da es einen solchen überhaupt nicht gibt und geben kann.
Im nächsten Schritt überprüft er die Beweisführung für das Erfolgsmodell „freier Markt“: Hier wird von den Vertretern der Ideologie die Methode der geschickten Auswahl des historischen Ausschnitts angewendet, um die Wirklichkeit zu verzerren und so die eigene Deutung als alternativlos zu präsentieren: Mit einigen wenigen Ausnahmen wurden alle heutigen reichen Industrienationen – inklusive Großbritannien und die USA – nur reich durch eine Kombination von starkem Protektionismus, Subventionen und anderen staatlichen Maßnahmen, von denen der Westen (zum Beispiel in Form von Vorgaben der Weltbank und IMF) heute den Entwicklungs- und Schwellenländern stark abrät. Erst als die Industrien in diesen Ländern – auch mithilfe dieses starken Protektionismus und der staatlichen Eingriffe – ihren Konkurrenten in anderen Ländern stark überlegen waren, wurden die Zolltarife, Subventionen und staatlichen Investitionen heruntergeschraubt. Wenn hier also der zeitliche Ausschnitt so gewählt wird, dass man das Ausmaß von staatlichen Eingriffen erst in der wirtschaftlichen Erfolgsphase betrachtet, lässt sich das Narrativ von dem Erfolgsmodell „freie Wirtschaft“ und „Freihandel“ aufrechterhalten. Es entspricht aber nicht der Realität.
Auf einen weiteren Fall eines dominanten Narrativs, das so überzeugend ist, dass ich es als Erzählung gar nicht wahrnahm und deswegen kaum hinterfragte, stieß ich durch ein sehr interessantes und bewegendes Buch, das ich in den frühen 2000er-Jahren las:
So, wie wir waren
In dem wunderbar geschriebenen Geschichtsbuch „Zu einer anderen Zeit“ (Originaltitel: „The Pity of it All”) von 2002 beschreibt der israelische Journalist und Schriftsteller Amos Elon den entscheidenden Einfluss, den jüdische deutsche Männer und Frauen auf einige der wichtigsten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland hatten und wie intellektuell und emotional eng sie mit der deutschen Geschichte verflochten sind. Insbesondere ihre entscheidende Rolle im Rahmen der 1848er Revolution als Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Schriftsteller und Kämpfer war mir vor der Lektüre des Buches kaum bewusst. Erst beim Lesen wurde mir klar, wie sehr ich die „Abspaltung“ der Deutschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens von dem Rest der Bevölkerung, die durch die Ideologie der Nationalsozialisten, die Rassengesetze und später den Holocaust erfolgte, historisch rückwirkend auch auf die Jahre und Jahrhunderte davor „projiziert“ hatte. Und mir wurde klar, wie wenig ich über die bewundernswerten demokratischen Bestrebungen deutscher (christlicher, jüdischer, agnostischer) Männer und Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wusste, weil ich, wie viele Menschen, die in der Bundesrepublik aufwuchsen, so wenig über unsere eigene demokratische Tradition gelernt hatte.
Der Fokus unserer allgemeinen historischen Bildung (ich spreche natürlich nicht von Historikern, sondern von uns Laien) war in der Schulausbildung und im öffentlichen Diskurs so stark auf die autoritären und diktatorischen Epochen der deutschen Geschichte fokussiert, dass diese Tradition und die Menschen, die sie schufen, fast darin untergegangen waren. Nun kann man sicher über all diese Fragen zu verschiedenen Einschätzungen, Gewichtungen und Bewertungen kommen. Was aber wichtig ist und an diesem Beispiel gut sichtbar, ist, dass eine andere Perspektive auf unsere eigenen demokratischen Traditionen und auf die Geschichte der jüdischen Deutschen möglich ist.
Wir leben in Geschichten, wie Fische im Wasser leben
Die Beschäftigung mit Storytelling und die Analyse gesellschaftlicher Narrative sind also keine nette Nebensache, keine Liebhaberei (das natürlich auch), kein spezielles, aber abseitiges kommunikationstheoretisches Nischenthema, sondern sie dienen dazu, zu erkennen, wie diese Narrative und ihr manipulativer Einsatz wichtige Haltungen und Einschätzungen der Menschen und damit auch wichtige Entscheidungen im Bereich Politik und Wirtschaft beeinflussen.
Es gibt einen Witz, in dem zwei Fische einen Badegast belauschen, der ausruft: „Oh, ist das Wasser schön heute!“ Der eine Fisch sagt darauf zu dem anderen: „Was ist Wasser?“.
Auch wir schwimmen in Narrativen wie Fische im Wasser und sind uns dieses unsichtbaren Umfeldes oft nicht bewusst. Ich wünsche mir, dass die kritische, aber auch konstruktive Beschäftigung mit Narrativen und Narrativ-Konstruktionen dazu führen wird, das gesellschaftliche Bewusstsein über diese Techniken und Prozesse zu stärken. Denn solange wir nicht wissen, dass es diese Ebene überhaupt gibt, oder zu wenig darüber wissen, wie sie funktioniert, sind wir manipulierbar und können nicht zu freien und fundierten Entscheidungen kommen, die wir als Bürger und Bürgerinnen dieser Welt treffen müssen, damit Demokratie funktioniert.
Titelbild: Shutterstock / Zapp2Photo
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